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^ANUL ^
VORTRÄGE
UND
A B HANDLUNGEN.
DRITTE SAMMLUNG.
VORTRÄGE
UNI)
ABHANDLUNGEN
VON
EDUARD ZELLER.
IJÜITTE S-A.I^I^IL.TJXTa-.
-o-^
LEIPZIG,
FUES'S VERLAG (R REISLAND).
1884.
UNIVER81TY '^
IS 1 7 APfl m gij
^^*
^;i^
Vorwort.
Die Sammlung kleiner Schriften, welche ich hier der Oeflfent-
lichkeit tibergebe, steht zwar an Umfang hinter den beiden
früher erschienenen so erheblich zurück, dass jede von diesen
fast doppelt so stark ist, als sie. Ich wollte aber doch mit ihrer
Herausgabe nicht warten, bis sich hiefür noch weiterer Stoff
angesammelt hätte, weil mir daran lag, die philosophischen
Erörterungen, welche die grössere Hälfte dieses Bandes ein-
nehmen, und welche hier theils überhaupt zuerst, theils wenigstens
zuerst an einem weiteren Kreisen zugänglichen Ort erscheinen,
der Lesewelt schon jetzt vorzulegen. Sind es auch nur einzelne
Bausteine, die ich mit denselben für die Lösung der wissen-
schaftlichen Aufgaben beisteure, welche unserer Zeit gestellt
sind, so wird doch ein aufmerksamer Leser nicht verkennen,
dass sie als Theile Eines Gebäudes gedacht und mit den gleich-
artigen Bestandtheilen der zweiten Sammlung systematisch ver-
knüpft sind.
Berlin, 31. Mai 1884.
*
Der Verfasser.
Inhaltsverzeichnisse
S«it(
I. I>ie Lelire des Aristoteles von der Ewigkeit der Welt (1878. 1884). 1
H. TJeToer d.ie griechischen Vorgänger Darwin's. (1878) .... Sl
m. Eine heidnische Apokalypse. (1882) 5*^
rV. XJe"ber den wissenschaftlichen Unterricht bei den Griechen. (1878) 6c
V. TJeToer akademisches Lehren und Lernen. (1879) S4
VI. lieber die Bedeutung der Sprache und des Sprachunterrichts
für das geistige Leben. (1884) 10^
Vn. TJeber das Kantische Moralprincip und den Gegensatz formaler
und materialer Moralprincipien. (1879) 15(
Vm. Ueber Begriff und Begründung der sittlichen Gesetze. (1882) . 18S
IX. Ueber die Gründe unseres Glaubens an die Realität der
Aussenwelt. (1884) 22-'
I.
Die Lehre des Aristoteles Ton der Ewigkat der Welt
(Gelesen in der Akademie der Wissenschaften zu Berlin 1. Juli 1878.
Mit Zusätzen.)
So weit auch unsere Natur- und Geschichtskenntniss die
der Griechen an Umfang, Genauigkeit und Sicherheit übertrilft,
so manche Fragen, die sie kaum berührten, eine tiefere Unter-
suchung des menschlichen Geisteslebens uns stellen und beant-
worten gelehrt hat, so wenig wir uns daher heute noch mit den
Begriffen imd Methoden der alten Philosophen begnügen können,
so lässt sich doch nicht behaupten, dass die Lehren und Schriften
dieser Männer nur noch das geschichtliche Interesse für uns haben,
welches den Vätern unserer Wissenschaft freilich auch dann ge-
sichert wäre, wenn wir für uns selbst gar nichts mehr von ihnen
zu lernen hätten. Je unbefangener und gründlicher wir vielmehr
ihre Werke durchforschen, um so häufiger stossen wir auf
Probleme, von denen wir uns gestehen müssen, dass sie noch
nicht erledigt, auf Gedanken und Entdeckungen, die Hoch immer
nicht in dem Masse verwerthet sind, wie sie es verdienten. Eine
solche Entdeckung von grosser, noch nicht durchaus gewürdigter
Wichtigkeit ist es, die im folgenden besprochen werden soll.
Aristoteles bezeichnet sich selbst als den ersten, welcher
nicht blos die endlose Fortdauer, sondern auch die Anfangs-
losigkeit der Welt gelehrt habe ^) ; und wenn wir diese Aussage
in seinem Sinn verstehen, ist sie vollkommen richtig. Dass der
Stoff der Welt nicht entstanden sei, hatten allerdings alle
griechischen Physiker ohne Ausnahme von Anfang an theils
stillschweigend vorausgesetzt, theils ausdrücklich ausgesprochen.
Zeller, Vorträge und Abhandl. 1
2 Die Lehre des Aristoteles
Aber das Weltgebäude als solches hatten sie alle in einem
bestimmten Zeitpunkt erst aus diesem Stoff entstehen lassen;
und diess gilt nicht allein von der altjonischen Schule, den
Pythagoreem und Anaxagoras, sondern auch von HeraWit und
Empedokles, den Atomikem, den Eleaten und Plato. Unter
den älteren Joniem wird zwar schon Anaximander (von
Thaies ist überhaupt nichts, was unsere Frage berührte, über-
liefert), und nach ihm Anaximenes und Diogenes die An-
nahme zugeschrieben, dass unsere Welt mit der Zeit untergehen,
dann aber im Kreislauf des Entstehens und Vergehens eine
endlose Reihe weiterer Welten auf sie folgen solle 2). Dass
jedoch diese Reihe auch anfangslos gewesen sei, dass unserer
Welt unzählige andere vorangegangen seien, ist eine Annahme,
die keinem von jenen Männern beigelegt wird ; die aber auch,
wie wir finden werden, selbst wenn sie dieselbe getheilt hätten,
gegen die aristotelische Aussage nicht geltend gemacht werden
könnte. Bei den Pytha goreern wollen spätere Berichte die
Lehre von der Anfangs- und Endlosigkeit der Welt gefunden
haben ; ich habe indessen schon längst nachgewiesen, dass damit
nur eine von der neupythagoreischen Schule aus Aristoteles ent-
lehnte Bestinunung dem älteren Pythagoreismus unterschoben
wird, und dass das phüolaische Bruchstück, welches dieselbe
vorträgt, ebenso unächt ist, als das Buch des Lukaners Ocellus *).
Bei Anaxagoras ohnedem unterliegt es keinem Zweifel, dass
es sein voller Ernst ist, wenn er von der anfänglichen Mischung
aller Dinge erzählte, in der erst mit der Zeit durch den Geist
eine Bewegung und mittelst derselben ein Auseinandertreten
der Stoffe bewirkt worden sei. Dass diese Bewegung sich noch
weiter ausbreiten werde, sagt er selbst (Fr. 6 Mull.); ob sie
aber am Ende zum Stehen kommen, und ob die dadurch zum
Abschluss gelangte Welt ewig dauern oder irgend einmal einer
anderen Platz machen sollte , wissen wir nicht. Hinsichtlich
dieser Philosophen haben wir daher keinen Grund, die Richtigkeit
der aristotelischen Aussage zu bezweifeln.
Eher könnte diess beiHeraklit der Fall zu sein scheinen.
Von ihm ist bekannt, dass er der gegenwärtigen Welt unbegrenzt
von der Ewigkeit der Welt. 3
viele andere nicht Mos folgen, sondern auch vorangehen liess.
Und da ihm nun fbr das Bleibende in diesem Wechsel nur das
göttliche Feuer gilt, welches zugleich der Urstoff und die welt-
bildende Kraft ist, so kann er eben dieses, als die Substanz der
Welt, auch selbst mit dem Namen des Kosmos bezeichnen, wie
diess in dem bekannten Ausspruch*) geschieht: „Diese Welt,
die Eine für alle, hat weder der Götter noch *der Menschen
einer gemacht, sondern sie war immer und ist und wird sein,
ein ewig lebendiges Feuer." Allein mit der Behauptung des
Aristoteles steht dieser Satz nicht im Widerspruch: er legt ja
die Anfangslosigkeit nicht blos dem Weltstoif und der welt-
schöpferischen Kraft, sondern der Welt selbst, dem Himmels-
gebäude bei ; dieses aber lässt Heraklit unläugbar entstehen und
vergehen. Und nicht anders verhält es sich mit Empedokles,
den Aristoteles a. a. 0. mit Heraklit zusammenstellt: ewig si^d
nach ihm gleichfalls nur die elementarischen Stofife und die be-
wegenden Kräfte; die Welt dagegen, diese bestimmte Ver-
theilung und Anordnung der Stoffe, die wir vor Augen haben,
hat sich ebenso, wie alle ihr vorangehenden und nachfolgenden
Welten, in einem bestimmten Zeitraum gebildet, und zwischen
den Zeiten, in denen die Elementarstoffe zu einer Welt, wie
die unsrige, zusammengefügt sind, liegen die ihrer gänzlichen
Trennung durch den Hass und ihrer vollständigen Mischung im
Sphairos. Ebenso betrachten die Atomiker unsere, wie jede
einzelne Welt als entstanden und vergänglich, wenn sie auch
annehmen, dass es immer eine zahllose Menge von Welten ge-
geben habe, die sich in den verschiedensten, zwischen Weltanfang
und Weltende liegenden Zuständen befinden. An eine Ewigkeit
der Welt im aristotelischen Sinn denken sie nicht.
Nicht einmal bei den Eleaten dürfen wir diese suchen. Im
ersten Theil seines Lehrgedichts erklärte Parmenides allerdings,
das Seiende sei weder entstanden noch könne es jemals vergehen,
und das gleiche wiederholte Melissus. Aber das Seiende, welches
alle Vielheit und alle Bewegung von sich ausschliesst, ist keine
Welt. Diese Metaphysik erklärt daher zwar das Reale in dem,
was sich uns als Welt darstellt, die eigentliche Substanz, dieses
1*
4 Die Lehre des Aristoteles
ganzen Erscheinungscomplexes , für ewig; aber die Welt al»
aolche hebt sie ganz auf. Wo andererseits Parmenides auf den
Standpunkt der gewöhnlichen Vorstelltingsweise herabsteigt, in,
jener hypothetischen Erklärung der Erscheinungen, die der
zweite Theil seines Gedichts brachte, da sehliesst er sich auch
sofort an das Verfahren der übrigen Physiker an und gibt eine
Kosmogoiiie. Was er demnach für ewig erklärt, das ist keine
Welt, und wo er sich auf die Erklärung der Welt einläset, be-
handelt er diese nidit als ewig. Näher kommt sein Vorgänger
Xenophanes der aristotelischen Ansicht gerade desshalb, weil
er die äusserste Gonsequenz seiner Lehre von der Einheit aller
Dinge noch nicht gezogen, die Vielheit und Veränderung noch
nicht bestritten hat. Von ihm hören wir, er habe mit der
Gottheit, der weltbildenden Kraft, auch die Welt selbst als un-
geword«! und unvergänglich bezeichnet. Seine eigenen Aeusse-
rungen darüber sind uns aber freilich nicht erhalten ; Aristoteles
erwähnt seiner auffallender Weise in seiner Erörterung über die
Ewigkeit der Welt^) mit keinem Worte; und so sind wir nicht
sicher, ob das, was die Späteren, seit Cicero, hierüber sagen ^),
aus einer zuverlässigen Quelle geflossen ist, und seine eigentliche
Meinung genau wiedergibt Irgend eine Aeusserung von ihm
wird ja wohl jener Angabe zu Grunde liegen ; aber so bestimmt
kann sie nicht gelautet haben, dass wir ein Recht hätten, ihm
die Lehre von der Ewigkeit der Welt im aristotelischen Sinn
beizulegen. Denn jenes unveränderliche Himmelsgebäude, das
Aristoteles aus den concentrischen, um die Erde sich drehenden
Sphären zusammenfügt, war ihm so unbekannt, dass er Sonne,
Mond und Gestirne für nichts anderes ansah, als für vorüber-
gehende Meteore, für Ansammlungen feuriger Dünste, die sich
bald entzünden, bald wieder verlöschen, für feurige Wolken;
auch der Erde schrieb er aber keinen unveränderlichen Bestand
zu, sondern er nahm an, sie sei früher vom Meer überfluthet
gewesen und werde sammt ihren Bewohnern seiner Zeit wieder
in's Meer versinken; wofür er sich auf eine von ihm, wie es
scheint, zuerst beachtete, oder doch zuerst in diesem Sinn ver-
werthete Thatsache, auf das Vorkommen versteinerter Seethiere
von der Ewigkeit der Welt. 5
im Binnenland und selbi^ auf Bergen berieft). Er kann daher
von der Welt zwar ähnlich, wie nach ihm Heraklit, gesagt
haben, Bie sei nicht entstanden und werde nicht vergehen, um
sie damit ihrem Stoffe nach als ewig zu bezeichnen; die Welt-
zustände dag^en unterwarf auch er einem so eingreifenden
Wechsel, dass nicht gesagt werden kann, diese unsere Welt sei
itan zufolge ungeworden und unvergänglich. Er hält ja gerade den
Himmel, der nach Aristoteles nicht blos dem Werden und Ver-
gehen, sondern auch jeder Veränderung ausser der räumlichen
Bewegung entnommen ist, für das allerveränderlichste, die Sonne
und die Gestirne für ebenso flüchtige Erscheinungen, wie der
Regenbogen imd die Wolken.
Ueber Plato erfahren wir zwar durch Aristoteles selbst®),
dass seine Schilderung der Weltbildung im Timäus schon von
einzelnen seiner persönlichen Schüler für dne Darstellungsform
gehalten wurde, welche blos um der Anschaulichkeit willen ge-
wählt sei, welche uns aber nicht berechtige, ihm eine zeitliche
Entstehung der Welt als sdne wirkliche Meinung beizulegen;
nach Smpliciüs®) war es Xenokrates, wdcher sich dieser
Auskunft bedient hatte, von der er auch bei der platonischen
Ableitung der Ideen aus den Urgründen Gebrauch machte ^*^).
Allein dazu wurde dieser Platoniker wahrscheinlich erst durdi
die Einwürfe veranlasst, welche Aristoteles schon früher gegen
die Annahme einer Weltentstehung erhoben hatte. Bei Plato
selbst hat die Schilderung der Weltbildung zwar eine so
mythische Gestalt, dass wir allerdings nicht berechtigt sind, ihm
die wissenschaftliche Ueberzeugung von einer zeitlichen Ent-
stehung der Welt zuzuschreiben; aber es liegt auch keine
Aeusserung von ihm vor, die uns in den Stand setzte, sie ihm
mit Bestimmtheit abzusprechen. Es scheint vielmehr, die Fi'age,
wie es sich hiemit verhalte, habe für ihn nicht so viel Interesse
gehabt, dass er sich zu ihrer ausdrücklichen Untersuchung an-
geregt fand, oder sie sei ihm zu unlösbar erschienen, mn in
ihrer Behandlung über die mythische Darstellung zu einer
wissenschaftlichen Entscheidung hinauszugehen^^). Keinenfalls
tann Aristoteles eine Erklärung seines Lehrers bekannt gewesen
6 Die Lehre des Aristoteles
sein, welche die dogmatische Auffassung der ihm im Timäus
vorliegenden Darstellung ausschloss.
Dagegen scheint ihn selbst dieses Problem schon frühe be-
schäftigt zu haben. Wir sehen aus zwei Bruchstücken , welche
mit grösster Wahrscheinlichkeit dem ersten Buch seines Ge-
sprächs über die Philosophie zugewiesen werden ^^), dass er sich
bereits während seines ersten Aufenthalts in Athen, noch als
Mitglied des platonischen Schülerkreises, mit aller Bestimmtheit
nicht blos gegen den Untergang, sondern auch gegen die Ent-
stehung der Welt erklärte. Seine Gründe für diese Behauptung
hatte er ohne Zweifel mit jener dialektischen Gründlichkeit, an
deren Spuren es schon in den Ueberbleibseln seiner Jugend-
schriften nicht fehlt, nach verschiedenen Seiten entwickelt; uns
wird davon nur Einer mitgetheilt, der aber für sich allein schon
entscheidet: dass die Vollkommenheit Gottes den Gedanken
ausschliesse, als ob er jemals ohne eine Welt sein oder gewesen
sein könnte. „Er erklärte die Welt," sagt der angebliche Philo,
„für ungeworden und unvergänglich; und beschuldigte die ent-
gegengesetzte Theorie einer schweren Gottlosigkeit, da sie meine,
dieser grosse sichtbare Gott, der die Sonne und den Mond und
das ganze Pantheon der Planeten und Fixsterne umfasst, sei
nicht besser, als ein Werk menschlicher Hände." „Er hielt
diese Ansicht für thöricht," schreibt Cicero, „denn die Welt
sei nicht entstanden, da ein so herrliches Werk nicht erst durch
einen neuen Entschluss in's Dasein gerufen worden sein könne ;
imd ihr Bau sei andererseits so vollkommen, dass keine Gewalt
eine Erschütterung und Veränderung zu bewirken, keine Zeit-
dauer eine Altersschwäche herbeizuführen vermöge, wodurch
dieses schöne Ganze jemals zerstört werden könnte." So kurz
diese Mittheilungen auch sind, so deutlich lassen sie doch den
leitenden Gedanken des Philosophen und zugleich auch den
Weg erkennen, auf dem sich ihm seine Lehre aus der plato-
nischen herausbildete. Als den gewordenen, sinnlich wahrnehm-
baren Gott hatte schon Plato den Kosmos bezeichnet ^*) ; er
schon hatte erklärt, dass das Gefüge der Welt viel zu fest sei,
um von einem andern, als seinem Urheber, wieder aufgelöst
von der Ewigkeit der Welt. 7
werden zu können, und viel zu herrlich, als dass er es jemals
könnte auflösen wollen^*). Aristoteles wiederholt, wie wir so eben
gehört haben, diese Sätze; aber er stellt die weitere Erwägung
an, dass das gleiche, wie von der Zukunft, auch von der Ver-
gangenheit gelten müsse, dass es der Gottheit gleich unwürdig,
mit ihrer Güte und Vollkommenheit gleich unverträglich wäre, ihr
heiTliches Werk unendlich lang nicht zu schaffen, und es wieder
zu zerstören. Wie es der alte Xenöphanes, nach Aristoteles'
eigenem Bericht ^^), für ebenso gottlos erklärte, von einer Ent-
stehung, wie von einem Tode der Götter zu reden, da man in dem
einen wie in dem andern Fall ein Nichtsein der Götter annehme,
so erhebt er selbst den Vorwiui der Gottlosigkeit nicht blos gegen
die, welche ein Ende, sondern auch gegen die, welche einen An-
fang der Welt, dieses sichtbaren Gottes, behaupten, ebendamit
aber auch dem Urheber der Welt eine Veränderung in seinen
Entschlüssen („novo consilio inito'O, ein unendlich langes Zögern
im Hervorbringen des Besten (,tam praeclari operis inceptio'')
schuldgeben.
In den wissenschaftlichen Lehrschrifi^en aus den späteren
Jahren des Philosophen, welche unsere Sammlung der aristote-
lischen Werke , enthält, kommt diese Begründung der Lehre von
der Ewigkeit der Welt zwar genau in dieser Form nicht vor;
aber doch lässt sich der Grundgedanke derselben auch in der
abstrakteren, streng metaphysischen Form, die seine Beweis-
führung jetzt annimmt, nicht verkennen. Es gehört hieher zu-
nächst die Erörterung der Physik (Vin, 1) über die Anfangs-
und Endlosigkeit der Bewegung. Die Bewegung, zeigt Aristoteles
hier, müsse nothwendig eintreten, wenn das Bewegende und das
Bewegte von der Beschaffenheit und in dem Verhältniss zu
einander sind, unter deren Voraussetzung jenes bewegt und
dieses bewegt wird; jedem Anfang einer Bewegung müsste
daher eine andere vorangehen, durch welche die Bedingungen
derselben herbeigeführt würden; ebenso aber nach dem Ende
jeder Bewegung diejenige sich erhalten, durch die ihr ein Ende
gemacht wurde ^®). Aber so weit auch diese Beweisführung von
derjenigen abzuliegen scheint, welche die Ewigkeit der Welt aus
8 Die Lehre des Aristoteles
der Vollkommenheit Gottes erschliesst , so beruhen doch beide
auf demselben Gedanken: dass mit der Ursache die in der
Natur derselben liegenden Wirkungen nothwendig gegeben seien,
dass wir daher die letzteren nicht auf irgend einen Zeitraum
beschränken können, wenn wir uns die erstere ewig und unver-
änderlich zu denken genöthigt sind. Diese Wirkungen werden
nun in der Physik erst unter dem ganz allgemeinen Begriff der
Bewegung zusammengefasst ; und in Folge davon wird hier auch
erst so viel dargethan, dass überhaupt eine Bewegung, irgend
eine Welt, immer vorhanden gewesen sein müsse und vorhanden
sein werdß. Dass dagegen unsere gegenwärtige Welt immer
war und immer sein wird, wäre damit noch nicht erwiesen;
denn die Ewigkeit der Bewegung verträgt sich (wie Aristoteles
250, b, 18 selbst bemerkt) auch mit der Annahme eines periodi-
schen Wechsels von Weltbildung und Weltzerstörung , sobald
man nur diesen nicht (mit Empedokles) durch Zeiten einer ab-
soluten Ruhe unterbricht. Erst in den Büchern vom Himmel
(I, 10—12) hat Aristoteles die Frage: „ob der Himmel unge-
worden oder geworden, unvergänglich oder vergänglich ist," in
dieser bestinmiteren Gestalt wieder aufgenommen; und auch
hier führt sich sein Beweis für den Satz, dass nichts, was ent-
standen ist, unvergänglich, und nichts, was nicht entstanden ist,
vergänglich sein könne, auf den Gedanken zurück (den die
formalistische Erörterung c. 12.281, b, 2—283, a, 24 allerdings
mehr verdunkelt als aufklärt), dass nur dasjenige einen Anfang
«eines Daseins haben könne, dessen Natur das Nichtsein zulässt,
und nur das eine endlose Dauer, dessen Natur dasselbe aus-
schliesst; was aber nichtsein kann, sei nicht unvergänglich, und
was unmöglich nichtsein kann, sei nicht entstandene*^). Gegen
Heraklit's und Empedokles' Annahme eines periodischen Wechsels
von Weltentstehung und Weltbildung begnügt sich Aristoteles
hier mit der Bemerkung (c. 10. 280, a, 11): diese Ansicht
räume im Grunde die Ewigkeit der Welt ein und behaupte nur
einen Wechsel ihrer Form. Er hätte sie aber gleichfalls mit
dem Satze von der Unveränderlichkeit der letzten Ursache be-
kämpfen können. Da das erste Bewegende oder die Gottheit un-
von der Ewigkeit der Welt. 9
veränderlich ist, muss sie auch immer dieselbe Einwirkung auf
die Materie ausüben; denn „was dasselbe und von derselben
Beschaffenheit ist, muss auch immer dasselbe bewirken" *®). In
der Materie kann aber auch kein Grund dafttr liegen, dass jene
Einwirkung bald dieses bald das entgegengesetzte Ergebniss,
bald die Bildung bald die Zerstörung der Welt herbeiführte;
denn die Materie ist ja nach Aristoteles das eigenschaftslose
Substrat; jeder Wechsel ihres Zustandes und jede Veränderung
kann daher nur von der Form ausgehen, die ihr mitgetheilt oder
entzogen wird. Aus der Unveränderlichkeit der obersten wirken-
den Ursache folgt daher die ihres Verhältnisses zum Stoffe, und
somit auch die der Welteinrichtung, welche die Folge dieses
Verhältnisses ist. Und Aristoteles bemerkt auch wirklich gegen
Empedokles, er behaupte wohl, dass ein Wechsel zwischen Ver-
einigung und Trennung der Elemente stattfinde, allein er gebe
dafür keinen Grund an ^®). Das gleiche würde aber auch gegen
Heraklit und überhaupt gegen jede Theorie gelten, welche nicht
Mos einzelne Theile der Welt sondern das Weltganze so durch-
greifenden Veränderungen unterliegen lässt, wie jene Philosophen
sie annahmen. Bei Aristoteles selbst freilich fielen ohne Zweifel
für seine Ueberzeugung von der Unveränderlichkeit des Welt-
gebäudes neben den spekulativen Gründen, die wir im bisherigen
kennen gelernt haben, noch einige weitere Momente in's Ge-
wicht: einmal der allgemeine Glaube der Menschheit, auf den
er sich für die höhere Natur des Himmels und der Gestirne so
gerne beruft*^), und sodann die Thatsache, dass niemals, so
weit menschliche Erinnerung reiche, in der Beschaffenheit des
Himmels oder seiner Theile die mindeste Veränderung beobachtet
worden sei^^).
Wie wichtig aber diese Lehre für die ganze aristotelische
Philosophie war, lässt sich leicht erkennen. Durch sie wurde
Aristoteles der Aufgabe überhoben, mit der sich alle seine Vor-
gänger bis auf Plato herab vergeblich abgemüht hatten: die
Weltentstehung zu erklären und zu beschreiben; und mit der
Aufgabe selbst kamen für ihn alle jene willkürlichen, oft so
abenteuerlichen Vermuthungen, jene ganze kosmologische Mythik
10 Die Lehre des Aristoteles
in Wegfall, zu welcher der Versuch, ein unlösbares Problem zu
lösen, unvermeidlich hinführte. Er fragt nicht nach Vorgängen,
von denen sich niemand eine Vorstellung machen kann, sondern
nur nach dem, was uns als ein gegenwärtiges gegeben ist, seinem
Zusammenhang, seinen Gesetzen und Ursachen; er will nicht
wissen, wie die Maschine der Welt ursprünglich gebaut wurde,
sondern nur aus welchen Theilen sie thatsächlich zusammenge-
setzt ist und in welcher Weise sie arbeitet. Es liegt am Tage,
wie viel diese Begrenzung seiner Aufgabe dazu beitragen musste,
ihn für die Naturerklärung auf den Boden der Erfahrung zu
stellen, und Hypothesen, die an keiner Beobachtung geprüft
werden können, ferne zu halten. Der Glaube an die Unver-
änderlichkeit und die unbedingte Geltung der Naturgesetze,
der Gründsatz einer durchaus natürlichen Erklärung der Dinge,
kommt in der Lehre von der Anfangs- und Endlosigkeit des
Weltganzen zu seinem stärksten Ausdruck. Wer der Welt
einen Anfang ihres Daseins beilegt, der muss wenigstens an
diesem Einen entscheidenden Punkte den Zufall oder die Willkür
eingreifen lassen, die er dann aber von dem weiteren Ver-
lauf auszuschliessen kein Recht hat. Wer sie andererseits in
jeder Beziehung aus natürlichen Ursachen hervorgehen lässt,
der muss auch annehmen, sie sei immer aus. ihnen hervorgegangen.
Denn natürliche Ursachen sind nur solche, aus denen ihre
Wirkung sich mit Nothwendigkeit ergibt; wie sie dann aber
unendlich lange nicht eingetreten sein könnte, lässt sich nicht
absehen. Seine Lehre von der Ewigkeit der Welt leistet daher
dem Philosophen die erheblichsten Dienste.
Dieser Gewinn ist nun allerdings mit einer gewissen Be-
schränkung des wissenschaftlichen Gesichtskreises erkauft. Für die
griechische Weltanschauung bedeutete die Ewigkeit der Welt die
des scheinbaren Weltgebäudes, der Erde und der sie umkreisenden
Sphären, deren oberste alle Gestirne ausser Mond, Sonne und
Planeten in einer einzigen hohlen Fläche vereinigt. Wer daher mit
Aristoteles die Ewigkeit der Welt annahm, für den war ebendamit
allen jenen Untersuchungen über die Bildung der Erde und des
Sonnensystems der Boden entzogen , welche dem Scharfsinn der
von der Ewigkeit der Welt 11
neueren Naturforscher ein so fruchtbares Feld dargeboten haben.
Ebensowenig durfte ein solcher die Frage nach der ersten Entstehung
des Menschen und der übrigen lebenden Wesen aufwerfen ; denn
es liess sich doch nicht annehmen, dass die Erde eine Ewigkeit
hindurch ihrer Bewohner entbehrt habe, vollends wenn man mit
Aristoteles im Menschen das Ziel und die Vollendung der irdischen
Welt sah. Unser Philosoph behauptet daher mit der Ewigkeit der
Welt auch die des Menschengeschlechts ^^) ; und muss er auch den
verhältnissmässig jungen Ursprung der menschlichen Geistesbildung
anerkennen, so findet er sich doch mit dieser Thatsache durch
die ihm von Plato^^) an die Hand gegebene Auskunft ab: die
Menschheit werde von Zeit zu Zeit auf weiten Ländergebieten
dmch gewaltige Ueberschwemmungen, welche den grössten Theil
der Bevölkerung vertilgen und die Städte mit ihrer Kultur zer-
stören, in den Rohzustand zurückgeworfen^*). So gewiss aber da-
durch der Blick des Philosophen und seiner Nachfolger von einigen
wichtigen wissenschaftlichen Aufgaben abgelenkt wurde, so fraglich
ist es doch, ob diess bei dem damaligen Stande des Wissens ein
Nachtheil war. Denn so lange man mit den Grundgesetzen der
Physik noch so unvollkommen bekannt war, von dem Sonnen-
system und seinem Verhältniss zum Weltganzen noch so un-
richtige Vorstellungen hatte, wie die Alten, konnte die kosmo-
logische Frage weder richtig gestellt noch mit irgend einer
Aussicht auf Erfolg beantwortet werden. Wer sie aufwarf, der
fragte nicht nach dem Ursprung des kosmischen Systems, dem
unser Planet angehört, sondern nach dem Ursprung des Ganzen,
das sich unserer Beobachtung darbietet, bis zu den entferntesten
Nebelflecken hinaus, und ob er ausser dieser Welt mit Demokrit
und Epikur noch weitere Welten annahm oder nicht, das machte
in dieser Beziehung keinen Unterschied ; wer sie zu beantworten
unternahm, der konnte willkürliche und den physikalischen
Thatsachen widerstreitende Hypothesen, wie sie sich auch jene
so reichlich erlauben, einfach desshalb nicht vermeiden, weil ihm
die wichtigsten von diesen Thatsachen nicht bekannt waren.
Ebensowenig liess sich erwarten, dass die Frage nach der Ent-
stehung der organischen Wiesen und des Menschen, von deren
12 I^ie Lehre des Aristoteles
wirklicher Beantwortung auch die heutige Wissenschaft noch so
weit entfernt ist, eine irgend erhebliche Förderung in einer
Zeit hätte finden können, die auch nach Aristoteles und trotz
seiner bewunderungswürdigen Leistungen auf diesem Gebiete
über die ersten Anfänge der Physiologie und vergleichenden
Zoologie nicht hinaus kam. Weit mehr Aussicht auf Erfolg
hatte die Untersuchung über die Entstehung und die erste
Entwicklung der -menschlichen Kultur, so wenig ihr auch schon
ein umfassenderes geschichtliches und ethnographisches Wissen
und eine vergleichende Sprachkunde zu Hülfe kam. Was ein
Lucrez, in der Hauptsache wohl nach Epikur, in eingehender
Erörterung hierüber bemerkt ^^), wird noch heute als eine ver-
ständige und durch gute Wahrscheinlichkeitsgründe gestützte
Theorie anerkannt werden müssen. Aber da auch Aristoteles zu-
gab, dass sich die Menschheit von Zeit zu Zeit immer aufs neue
AUS der Roheit zur Bildung emporarbeiten müsse, so stand seine
Lehre von der Ewigkeit der Welt und des Menschengeschlechts
dieser geschichtsphilosophischen Untersuchung nicht im Wege.
Wir wissen vielmehr, dass gerade in der peripatetischen Schule
jene kulturgeschichtlichen Studien mit Vorliebe getrieben wurden,
deren Ergebnisse man in Schriften „über die Erfindungen**
niederzulegen pflegte ; wir sehen aus den Titeln und den Ueber-
bleibseln theophrastischer Schriften^^), dass schon der erste
Nachfolger des Aristoteles nicht blos über den Ursprung der
technischen Erfindungen, auf denen alle menschliche Kultur ruht,
sondern auch über die Anfänge und die erste Entwicklung des
Götterglaubens und der Götterverehrung eingehende Unter-
euehungen angestellt hatte; und es ist nicht unwahrscheinlich,
dass manches von dem, was uns in der Darstellung des Lucrez
anzieht, schon von Epikur aus den Schriften dieses gelehrten
und scharfsinnigen Peripatetikere entlehnt wurde.
Der geschichtliche Erfolg der Lehre über die Ewigkeit der
Welt war ein durchschlagender. Z e n o und Epikur Hessen sich
durch dieselbe allerdings nicht abhalten, theils zur heraklitischen
theils zur atomistischen Ansicht zurückzugreifen. Aber für die
übrigen Schulen erlangte sie eine massgebende Bedeutung. Nicht
von der Ewigkeit der Welt. 13
Mos die Peripatetiker hielten sich an sie, so weit wir wissen, ohne
Ausnahme, und maditen sich ihre Yeitheidigung gegen die Stoiker
zum Geschäft^'), sondern auch unter den akademischen Zeit-
genossen des Aristoteles wusste sich ihr, wie schon bemerkt wurde,
Xenokrates (und vielleicht auch Speusippus) so wenig zu
entziehen, dass er sie selbst bei Plato finden wollte. Dun folgten
darin später nicht wenige von den namhaftesten Platonikem:
ein Krantor, Eudorus, Taurus, Albinus, und wohl noch
viele, während andere allerdings widersprachen^^). Die neu-
pythagoreische Schule schloss sich in diesem Lehrstück,
wie es scheint, allgemein an Aristoteles an ^®); imd selbst von
den Stoikern traten einzelne, wie Boßthus und Panätius,
seiner Ansicht hinsichtlich der Frage über den Weltuntergang,
wahrscheinlich aber auch in Betreff der Weltentstehung bei^^).
Im neuplatonischen System ohnedem bildet die Ewigkeit der
Welt eine von den Unterscheidungslehren, über die noch im
sechsten Jahrhundert unserer Zeitrechnung zwischen den Plato-
nikem und ihren christlichen Gegnern lebhafte Verhandlungen
stattfanden. Zeugnisse derselben sind uns in Philoponus'
Schrift gegen Proklus und in den vielen gegen Philoponus ge-
richteten Stellen der Simplicianischen (Kommentare er-
halten ®\). Aber auch durch den Sieg des christlichen Dogma
wurde die aristotelische Lehre nur vorübergehend zurückgedrängt :
selbst im Mittelalter taucht sie bei den kühneren unter den
Epigonen deS Neuplatonismus da und dort auf; um das Ende
desselben bildet sie eine von den stehenden Anklagen gegen die
strengeren Aristoteliker ; und seit Spinoza von theilweise ver-
änderten Voraussetzungen aus zu ihr zurückkehrte, hat sie in der
neueren Weltanschauung so tiefe Wurzeln geschlagen, dass ein
Schleiermacher den Versuch wagen konnte, sie sogar in die
christliche Dogmatik einzuführen^^).
Es war diess auch nicht etwa nur eine persönliche Meinung des
grossen Theologen, eine von Spinoza entlehnte, mit dem Ganzen
der heutigen Wissenschaft in keinem tieferen Zusammenhang
stehende Bestimmung; und ebensowenig hat Strauss, als er
Sehleiermacher's Bedenken gegen einen Weltanfang mit grösserer
14 Die Lehre des Aristoteles
Entschiedenheit wiederholte^^), damit nur aus Hegel's System
eine , von diesem selbst freilich nicht beachtete , Folgerung ge-
zogen. Sondern es lässt sich überhaupt kein Standpunkt denken,
welcher sich der von Aristoteles zuerst ausgesprochenen Behauptung
entziehen könnte, ohne die unerlässlichen Bedingungen jeder
wissenschaftlichen Welterklärung zu verletzen. Wie man auch
über den Werth und die Möglichkeit metaphysischer Unter-
suchungen urtheilen möge : darauf muss doch jeder achten, dass
er sich von Voraussetzungen befreie, die ihn nachweisbar in
unauflösliche Widersprüche verwickeln würden. Eine solche
Voraussetzung ist aber ^ie, dass nicht blos alle einzelnen Theile
der Welt, bald in kürzeren bald in längeren Zeiträumen, ent-
stehen und vergehen, sondern dass auch das Weltganze irgend
einmal entstanden. sei. Denn da nichts aus nichts wird, so setzt
alles entstandene etwas voraus, durch das und aus dem es ent-
standen ist, eine Ursache, durch die es hervorgebracht vmrde,
die ihm daher nothwendig in ihrem Dasein vorangieng. Wäre
nun diese Ursache der Welt gleichfalls entstanden, so würde
sich für sie dieselbe Forderung wiederholen, und so fort, bis
man schliesslich zu einer eisten, also einer ewigen und unent-
standenen Ursache alles Seins iäme; wobei es für die vor-
liegende Frage gleichgültig ist, ob man sich diese selbst als eine
streng einheitliche vorstellt, oder sie aus vielen Einzelwesen,
Atomen u. s. w. bestehen lässt. Nimmt man daher eine Ent-
stehung der Welt an, so kann man den letzten Grund ihrer
Entstehung nur in etwas ewigem suchen, das der Welt als ihre
Ursache vorangieng. Da nun aber die Welt selbst doch ent-
standen sein soll, müsste diejenige Wirksamkeit jener Ursache,
deren Folge die Entstehung der Welt war, erst in einem be-
stimmten Zeitpunkt begonnen haben; denn wenn sie anfangs-
los war , gab es nie einen Zeitpunkt , in dem sie nicht seit
Ewigkeit wirkte und somit auch alles, was sie in der längsten
Zeit hervorbringen konnte, bereits hervorgebracht hatte. Und
dieser Schlussfolgerung lässt sich auch nicht dadurch entgehen,
dass man sagt : jene Wirksamkeit sei zwar anfangs- und zeitlos,
die Welt dagegen, als ihr Erzeugniss, habe einen Anfang, und mit
von der Ewigkeit der Welt. 15
ihr sei auch die Zeit erst entstanden. Denn wo eine Wirk-
samkeit ist, da ist auch ein Geschehen, und somit eine Ver-
änderung ; wo aber eine Veränderung ist, da ist auch der Unter-
schied des Früheren und des Späteren, also ein Zeitverhältniss.
Die Gesetze, nach denen eine Ursache wirkt, können un-
veränderlich und insofern zeitlos sein, aber die von ihr bewirkten
Voi^änge fallen auch dann nothwendig in die Zeit, wenn die
Art ihres Wirkens während seiner ganzen Dauer sich gleich
bleibt; und da nun eine Wirksamkeit, die nichts bewirkte, eine
sich 'selbst widersprechende Vorstellung ist , so ist es auch die
Annahme, dass eine ewige Wirksamkeit irgend einmal ange-
fangen habe, sich in einem zeitlichen Geschehen zu äussern.
Wer andererseits einen Anfang der Welt behauptet, der be-
hauptet ebendamit, dass mit der Weltentstehung ein Zustand
eingetreten sei, der vorher nicht vorhanden war, er unterscheidet
also zwei Zeiträume, die durch den Zeitpunkt der Weltentstehung
gegen einander abgegrenzt sind: alles, was einen Anfang hat,
fängt in der Zeit an, die Zeit als solche dagegen fängt nie an, ein
Anfang derselben ist eine Vorstellung, die sich selbst aufhebt. So
wenig es daher eine Wirksamkeit geben kann, die dem zeitlichen
Dasein vorangienge, ebensowenig kann es einen Anfang der Zeit
geben; und es ist nur eine leere und nichtige Ausflucht, wenn
man sich den Folgerungen, die sich aus der Annahme einer Welt-
entstehung ergeben, mit so widerspruchsvollen Begriflen zu ent-
ziehen versucht.
Liesse sich aber diese Annahme nur durch die Voraussetzimg
retten, dass die Ursache der Welt zwar an sich selbst anfangslos
sei, ihre weltbildende Wirksamkeit jedoch er^t in einem be-
stimmten Zeitpunkte begonnen habe, so zeigt sich eben dieses
gleich undenkbar, welche nähere Vorstellung man sich nun von
jener Ursache machen mag. Ob man sie sich materiell denkt
oder immateriell, oder ob man dem stofflichen Princip ein im-
materielles bewegendes zur Seite stellt ; ob man femer nur einen
einzigen Urstoff annimmt, oder eine bestimmte Anzahl elemen-
tarischer Grundstoffe oder die zahllose Menge der Atome, ob
ebenso nur Eine Urkrafl oder mehrere, vielleicht sogar entgegen-
XQ Die Lehre des Aristoteles
gesetzte und sich widerstrebende ; ob man endlich die Welt durch
die blosse Gestaltung und Umbildung eines präexistirenden
Stoifes oder durch eine Schöpfung entstehen lässt, die auch
schon ihren Stoff selbst erst hervorbringt: immer ist nur einer
von zwei Fällen möglich. Die Thätigkeit, welche die Entstehung
der Welt bewirkte, gieng entweder aus der Natur der Welt-
ursache (bzw. der Weltursachen) als eine nothwendige Folge
derselben hervor, oder sie war das Werk ihres Willens; denn
was sonst allein noch übrig bliebe, sie auf den Zufall zurück-
zuführen , das Messe jeder vernünftigen Betrachtung der Dinge
den Abschied geben. In dem ersten von jenen zwei Fällen
liegt nun am Tage, dass die Welt, wenn sie aus der Natur der
weltbildenden Kräfte mit Noihwendigkeit hervorgeht, ebensowenig
einen zeitlichen Anfang haben kann, wie diese selbst ; denn wenn
eine Ursache mit Nothwendigkeit wirkt, kann sie nie ohne diese
Wirkung gewesen sein ; und wenn nun aus der letzteren in irgend
einer denkbaren Zeit ein bestimmtes Erzeugniss hervorgeht, so
muss es, die Ursache als anfangslos gesetzt, jederzeit aus ihr her-
vorgegangen sein, da man sonst in den oben berührten Widerspruch
gerieihe, von dem, was der Voraussetzung nach in einer endlichen
Zeit geschehen muss, zu behaupten, dass es in einer unendlichen
Zeit nicht geschehen sei. Gesetzt z. B. die letzten Bestandtheile der
Welt seien Atome, oder wenn man lieber will, Monaden, dieselben
seien femer so beschaffen und stehen zu einander in einem solchen
Verhältniss, dass sich aus ihnen nach Ablauf eines bestimmten
Zeitraums diese unsere Welt bilden niusste, so könnte diese Welt-
bildung nur dann einen zeitlichen Anfang gehabt haben, wenn
jene Atome oder Monaden selbst einen hatten; sind sie dagegen
ewig, so hat es nie einen Zeitpunkt gegeben, in dem sie nicht
von Ewigkeit her zur Bildung einer Welt zusammenwirkten,
und somit auch nie einen, in welchem die zur Weltbildung
erforderliche Zeit, möchte man diese auch noch so gross an-
nehmen, nicht bereits abgelaufen war, in dem die aus ihnen
gebildet« Welt nicht bereits bestand. Und das gleiche ergibt
sich, wie man leicht sieht, bei jeder möglichen Annahme über
die letzten Gilinde der Welt, wenn dieselbe einerseits diese
von der Ewigkeit der Welt. 17
6ilmde selbst anfangslos setzt und andererseits die Welt aus ihnen
nach bestimmten Gesetzen hervorgehen lässt.
Anders scheint es sich zu verhalten, wenn man sie auf
einen weltschöpferischen Willen zurückführt Wie wir unsere
Entschlüsse erst im Lauf unseres Lebens fassen, und ihre Aus-
fühiimg auch nachdem sie gefasst sind oft noch lange verschieben,
so konnte, scheint es, auch der Entschluss zur Weltschöpfting
von dem Welturheber irgend einmal im Laufe der Zeit gefasst
und verwirklicht werden. Dieser Schein löst sich jedoch sofort
auf, wenn man sich die Bedingungen klar macht, unter denen diess
geschehen sein müsste. Zunächst nämlich liegt am Tage, dass
es nur die Gottheit sein konnte, deren Wille die Welt in's Da-
sein rief. Denn da die Welt die Gesammtheit aller endlichen
Wesen in sich befasst, so kann der, welcher eine Entstehung
der Weh annimmt, als ihre Ursache ihr nur das unendliche
Wesen vorangehen lassen, das als solches Mos Eines sein kann ;
wie ja auch der einheitliche Zusammenhang des Weltganzen die
Einheit seines letzten Grundes unbedingt fordert^*). Der Wille
der Gottheit kann aber nicht anders als schlechthin vollkommen
und frei von allem dem gedacht werden, was wir Menschen als
einen Mangel unseres Willens empfinden. Wenn das menschliche
Wollen sich aus vielen aufeinanderfolgenden Akten von ungleicher
und veränderlicher Beschaffenheit zusammensetzt, muss das gött-
liche Eine ewige unwandelbare Thätigkeit sein; wenn jenes das
richtige unterlassen und verkehrtes erstreben kann, so kann sich
dieses nur auf das beste und vollkommenste richten ; wenn sich
jenes theils durch äusseren Widerstand theils durch seine eigene
Schwäche nicht selten an der Ausführung seiner Beschlüsse ver-
hindert oder zum Aufschub derselben genöthigt sieht, gibt es
nichts, was dieses verhindern könnte, seine Absichten, sobald es
nur will, vollständig zu verrsirklichen. Gleich aus der ersten
von diesen Bestimmungen folgt nun, dass die Gottheit den Ent-
schluss, eine Welt zu schaffen, nicht erst in dem Zeitpunkt, in
dem er ausgeführt wurde, oder überhaupt in einem bestimmten
Zeitpunkt gefasst haben könnte, dass ihr derselbe vielmehr von
Ewigkeit her feststehen musste, da ja sonst ihr Wille dem gleichen
Zeller, Vorträge und Abhandl. 2
18 Die Lehre des Aristoteles
Wechsel und der gleichen Veränderlichkeit unterliegen würde,
wie der menschliche. Die Vertheidiger eines Weltanfangs pflegen
diess auch einzuräumen, aber sie glauben ihrem Standpunkt da-
durch nichts zu vei^eben : die Weltschöpfung, sagen sie, sei von
Anfang an in dem ewigen Bathschluss Gottes enthalten gewesen,
aber durch denselben sei zugleich auch festgestellt worden, dass
sie erst in einem bestimmten Zdtpunkt, und in welchem sie
eintreten solle. Allein mit dieser Wendung ist die Schwierigkeit
nicht beseitigt, sondern nur auf einen anderen Punkt verlegt:
wir können nicht mehr fragen, wie sich das Fassen eines neuen
Entschlusses mit der Unwandelbarkeit Gottes vertrage, um so mehr
aber, wie sich mit derselben der Uebergang vom blossen Wollen
zum Wirken und die lange Unwirksamkeit des von Ewigkeit her
gefassten Beschlusses verträgt. Jener Uebergang ist schon ganz
im allgemeinen betrachtet y und vorläufig noch abgesehen von
dem näheren Inhalt des Willens, um dessen Ausführung es sich
handelt, mit dem Begriff eines ewigen und unveränderlichen,
jederzeit gleichsehr in sich vollendeten Wesens unvereinbar.
Denn ein solches kann keinen Wechsel seiner innei-en Zustände
erfahren, es kann somit auch kein Unterschied des früheren und
späteren in ihm sein , es lebt nicht in der Zeit, -sondern ausser
derselben, so dass der ganze Inhalt seines Bewusstseins ihm be-
ständig gleich gegenwärtig ist. Diess wäre aber offenbar nicht
der Fall, wenn sein auf die Welt gerichteter Wille erst von
einem bestimmten Zeitpunkt an sich verwirklichte; sondern das-
selbe, was bis dahin als ein unausgeführtes Wollen in ihm ge-
wesen wäre, wäre jetzt in ihm als ein ausgeführtes, der Inhalt
seines Selbstbewusstseins hätte sich verändert, sein Leben sich
in zwei aufeinanderfolgende Perioden, die vor der Weltschöpfung
und die nach derselben, und somit in eine Zeitreihe auseinander-
gelegt. Und es hilft nichts, sich hiegegen darauf zu berufen,
dass für Gott auch das Vergangene und Zukünftige ein Gegen-
wärtiges, die erst zu schaffende Welt, bei der Unfehlbarkeit ihrer
Verwirklichung , ebenso gut ein Gegenstand der lebendigsten
Anschauung sei, wie die geschaffene. Denn da es undenkbar
ist, dass Gott sich die Dinge anders vorstelle, als sie sind, so
von der Ewigkeit der Welt 19
kann die Welt, die erst geschaffen werden soll, seinem Denken
unmöglich genau in derselben Weise gegenwärtig sein, wie die
geschaffene, sondern jene nur als eine, welche sein wird, diese
als eine, welche ist; es kann aber ebendamit auch sein noch
imausgefilhrter, auf die Hervorbringung einer zukünftigen Welt
bezüglicher Wille unmöglich derselbe sein, wie der, welcher die
schon vorhandene zum Gegenstand hat. Der Uebei^ang vom
Beschluss zur Ausführung steht mit dem Begriff eines absoluten
Willens in keinem geringeren Widerspruch als der Uebergang
vom Nichtwollen zum Wollen ; denn durch den einen wie durch
den andern würde derselbe einer Veränderung und einem Zeit-
varhältniss unterworfen, während er doch als absoluter nur ewig
und unveränderlich sein kann.
Es stellt sich diess nodi klarer heraus, wenn wir fragen,
was denn den göttlichen Willen bewogen haben könnte, die Her-
vorbringung der Welt auf einen bestimmten Zeitpunkt zu ver-
tagen, wenn sie doch von Ewigkeit her beschlossen, und wenn
sie, wie wir annehmen müssen, in der Weisheit und Güte Gottes
begründet war; denn willkürliche, von keinen Vemunftgründen
geleitete Beschlüsse kann man doch bei dem schlechthin voll-
kommenen Wesen am wenigsten voraussetzen. Ebensowenig
aber kann man sich dieser Frage mit der Berufung auf die Un-
erforschlichkeit der göttlichen Rathschlüsse entziehen. Die Er-
innerung an die Schranken des menschlichen Wissens und an
die verborgenen Gründe vieler Ereignisse ist durchaus am Platze,
wenn wir erst wissen, dass etwas im göttlichen ßathschluss
begründet ist, d. h. wenn es sich darum handelt, uns in das
thatsächlich gegebene zu finden, und es mit der Ueberzeugung
von der Vemünftigkeit des Weltlaufs auszugleichen; aber sie
ist eine Ausflucht der Trägheit und nicht mehr, wenn das that-
sächliche erst ausgemittelt, die Meinungen der Menschen darüber
geprüft werden sollen. Nur in dem letzteren Fall befinden wir
uns aber bei der gegenwärtigen Erörterung. Wäre es erwiesen,
dass die Welt einen Anfang in der Zeit gehabt hat, so könnte
man sagen, wir müssen diese Thatsache annehmen, wenn wir
sie uns auch nicht zu erklären wissen. Soll dagegen erst unter-
2*
20 I^ie Lehre des Aristoteles
sucht werden, ob die Welt einen Anfang gehabt haben kann,
so darf der, welcher diess behauptet, sich der Aufgabe, die wissen-
schaftliche Möglichkeit seiner Annahme nachzuweisen, nicht unter
dem Vorwand entziehen, dass dieser Nachweis das menschliche
Erkenntnissvermögen übersteige. Denn die Frage, um die es sich
hier handelt, ist lediglich di e : ob die Hypothese eines Weltanfangs
mit Bestimmungen über die Gottheit, welche von den Anhängern
jener Hypothese selbst als richtig anerkannt werden, logisch ver-
einbar ist oder nicht. Und diese Frage ist keine so transcendente,
dass sie sich nicht beantworten liesse. Die Antwort auf dieselbe
kann aber allerdings, wie mir scheint, nur verneinend ausfallen.
Wenn nämlich ein willkürliches Handeln bei der Gottheit,
wie bemerkt, undenkbar ist, und somit jeder Rathschluss der-
selbe^, und vollends ein Rathschluss wie d e r der Weltschöpfung,
einen ihrer würdigen Grund und Zweck haben muss, so kann
dieser entweder in Gott selbst oder ausser ihm gesucht werden.
Jenes geschieht, wenn man mit manchen Theologen und
Philosophen annimmt, Gott habe die Welt desshalb geschaffen,
weil er ihrer zur Vollkommenheit seines eigenen Daseins bedurfte,
weil er sich in ihr ein Anderes gegenüberstellen musste, um zu
seiner eigenen Vollendung, seinem Selbstbewusstsein und seiner
Persönlichkeit zu gelangen ; dieses, wenn man den Zweck und
Beweggrund der Schöpfung in der Glückseligkeit der Geschöpfe
oder in der Schönheit und Vollkommenheit der Welt sieht.
Allein weder die eine noch die andere von diesen Zweckbe-
stimmungen erlaubt es bei folgerichtigem Denken, der Welt
einen zeitlichen Anfang zuzuschreiben. Konnte Gott ohne eine
Welt nicht das sein, was er seinem Begriffe nach sein muss, das
absolute, schlechthin vollkommene Wesen, so versteht es sich
von selbst, dass er nie ohne Welt sein konnte, da er nie etwas
anderes sein konnte als das, was er ist. Die Vorstellung einer
Entwicklung Gottes vermittelst der Weltschöpfung, einer anfäng-
lichen, erst nach unendlich langer Dauer beseitigten UnvoU-
kommenheit dessen, was nur als das absolut vollkommene gedacht
werden kann^^), ist ein so unmittelbarer und augenscheinlicher
Widerspruch, dass man kaum begreift, wie noch einSchelling
von der Ewigkeit der Welt. 21
denselben auf sich nehmen mochte; und dieser Widerspruch
tritt noch unverhüllter an's Licht, wenn uns die „Philosophie
des Unbewussten" , mit einer pessimistischen Wendung und
einer karikirenden Vergröberung dessen, was Schelling gesagt
»
hatte, in dem phantastischen Stil gnostlscher und manichäischer
Mythologie erzählt, wie der ausserweltliche absolut vorstellungs-
lose und blinde Wille, nachdem er einmal aus seiner reinen
Potentialität herausgetreten war, sich von der Qual seiner eigenen
Leerheit nur durch die Erzeugung einer Welt zu befreien ver-
mocht habe, die zwar von allem, was er machen konnte, das beste,
aber doch immer noch schlecht genug sei, um ihr baldigstes
Verschwinden auf's dringendste wünschen zu lassen. Auf diesem
Wege lässt sich daher zu keinem Anfang der Welt, sondern nur
zu der Annahme ihrer Anfangslosigkeit kommen. Aber auch die
gewöhnliche Vorstellung, nach welcher der Grund der Welt-
schöpfung in der Rücksicht auf die Geschöpfe lag, führt bei
genauerer Untersuchung zu dem gleichen Ergebniss. Gott, sagt
man, habe die Welt geschaffen, um seine eigene Vollkommenheit
in der seines Werkes zu offenbaren. Aber hatte diese Offen-
barung ihre Gründe oder nicht? war es besser, dass eine Welt
entstand oder dass Gott ohne Welt für sich allein blieb? denn
dass beides gleich gut gewesen wäre, ist undenkbar, da die Gott-
heit doch am allerwenigsten thun wird, was kein verständiger
Mensch thut, eine Entscheidung von unermesslicher Bedeutung
ohne sachliche Gründe zu treffen. War es aber besser, wenn
sich Gott in einer Welt offenbarte, so muss diess auch immer
das bessere gewesen sein; und da Gott seiner Natur nach nur
das Beste thun kann, so kann er nie gewesen sein, ohne sich
in einer Welt zu offenbaren. Und das gleiche gilt von dem
Satze : Gott habe die Welt aus Güte geschaffen, der Zweck der
Schöpfung sei die Glückseligkeit der Geschöpfe. Da Gott immer
gleich gütig war, muss er diesen Zweck auch immer gleichsehr
gewollt haben ; wenn er ihn aber wollte, gab es nichts, was ihn
an seiner Ausführung hindern konnte; es kann mithin keinen
Zeitpunkt gegeben haben, in dem er ohne Welt war. Es macht
mit Einem Wort im Ergebniss keinen Untei-schied, ob man die
V»
22 I^iß Lehre des Aristoteles
Entstehung der Welt aus dem Wesen oder aus dem Willen
Gottes herleitet; denn da dieser Wille ein absoluter ist, kann
er nur das enthalten , er muss aber auch nothwendig alles das
enthalten, was durch das Wesen des Wollenden gefordert ist.
Die moralische und die metaphysische Nothwendigkeit fallen
daher hier zusammen, und so wenig es denkbar ist, dass Gott
jemals ohne die Eigenschaften war, die sein Wesen bezeichnen,
so undenkbar ist es auch, dass er jemals ohne die Wirksamkeit
war, in der es sich äussert*®).
Aber verwickeln wir uns mit diesem Ergebniss nicht gleich-
falls in einen Widerspruch, welcher diese ganze Untersuchung
unmöglich zu machen droht? Kant hat diess bekanntlich be-
hauptet. Wenn die Welt keinen Anfang hätte, sagt er**^), so
müsste bis zu jedem gegebenen Zeitpunkt eine Ewigkeit abge-
laufen, eine unendliche Reihe aufeinanderfolgender Zustande
verflossen sein. Diess sei aber unmöglich, da die Unendlichkeit
einer Reihe gerade darin bestehe, dass sie durch successive
Synthesis niemals vollendet sein kann. Da aber Kant anderer-
seits in der Annahme einer Weltentstehung keine geringeren
Schwierigkeiten findet, so dient ihm diese Antinomie, wie die
„kosmologischen Antinomieen^ überhaupt, zur entscheidenden
Bestätigung der Ueberzeugung, dass Raum und Zeit nicht den
Dingen selbst zukommen, sondern nur Formen seien, unter denen
wir die Dinge anschauen. Allein dieser Ausweg ist uns, wie
ich schon anderswo®®) gezeigt habe, durch die Erwägung ab-
geschnitten, dass weder die Veränderung unserer Vorstellungen
noch die der Objekte, durch deren Einwirkung unsere Wahr-
nehmungen hen^orgerufen werden, sich für einen blossen Schein
halten lässt; ist aber die Veränderung etwas reales, nicht blos
unserer subjektiven Auffassung der Dinge angehöriges, so muss
das gleiche auch von der Zeit gelten, da keine Veränderung
anders als in der Zeit vor sich gehen kann, diese daher mit
jener unmittelbar gegeben ist. Wir können uns mithin der Frage
nicht entziehen, ob und wie sich der Widerspruch beseitigen lässt,
über den Kant nur durch eine für uns unannehmbare Auskunft
wegzukommen wusste.
von der Ewigkeit der Welt 23
Nun beruht dieser Widerspruch darauf, dass bei der
Laugnung eines Weltanüangs etwas als wirklich gesetzt zu
werden scheint, was seinem Begriff nach unmöglich ist: eine
Ewigkeit, di6 abgelaufen, eine in keiner Zeit zu vollendende
Beihe, die mit einem bestimmten Zeitpunkt vollendet wäre.
Aber ist es richtig, dass wir eine solche Reihe erhalten, wenn
die Welt anüangslos ist? Eine Reihe ist nur da, wo von einem
bestimmten Anfangspunkt successiv zu anderen Punkten fort-
gegangen wird; die Reihe ist vollendet, wenn bei diesem Fort-
gang ein letztes erreicht wird. Gibt es dag^en kein erstes,
mit dem angefangen werden könnte, so entsteht auch keine
üteihe. So wenig man daher sagen kann, wemoi die Welt endlos
ist, werde vom gegenwärtigen Zeitpimkt an eine unendliche
Zeitreihe ablaufen, ebensowenig kann man sagen, wemi sie
anfengslos ist, so sei bis zur Gegenwart eine solche abgelaufen ;
wie vielmehr bei jener Behauptung in dem Begriff des „Ab-
laufens" die Vorstellung eines dereinstigen Weltendes einge-
sehwärzt würde, so wird bei dieser die Vorstellung eines
WeltanfangB eingeschwärzt, die sich dann freilich mit der voraus-
gesetzten Anfangslosigkeit der Welt nicht v^rägt. Soll die
Welt wirklich als anfangs- und endlos gedacht werden, so muss
man die Zeitvorstellung überhaupt von ihr ferne halten; und
man kann diess, ohne die Zeit dessbalb zu einer blos subjektiven
Vorstellungsform zu madien. In der Zeit ist, was sich ver-
ändert, wo dagegen keine Verändening stattfindet, da ist auch
kein Unterschied des Früheren und des Späteren und somit
kein zeitlicher Verlauf. Denn wie uns die Anschauung der Zeit
nur aus der Wahrnehmung der Veränderungen entsteht, die sich
in uns und ausser uns vollziehend^), so ist auch der B^riff
derselben durch den der Veränderung bedingt, und wenn sie
Aristoteles als „die Zahl der Bewegung hinsichtlich des
Früher und Später" definirte**), so wird daran jedenfalls so viel
richtig sein, dass die Zeit nur ein Verhältniss bezeichnet, welches
bei der Veränderung der Dinge und ihrer Zustände eintritt, dass
dagegen auf dasjenige, was keiner Veränderung unterliegt, Zeit-
bestimmungen überhaupt keine Anwendung finden. Nur das
24 Die Lehre des Aristoteles
Veränderliche ist in der Zeit, das Unveränderliche zeitlos und
ewig: veränderlich und zeitlich, unveränderlich und ewig besagen
in der Sache dasselbe. Nun folgt aber aus denselben Gründen,
welche die Anfangs- und Endlosigkeit der Welt darthun, auch
ihre Unveränderlichkeit. Denn wenn es weder eine Zeit ge-
geben haben kann, in der keine Welt war, noch in Zukunft eine
geben kann, in der keine Welt ist, weil ihr Dasein aus der
Natur ihrer Ursachen mit Nothwendigkeit hervorgeht, so gilt
genau das gleiche auch von der Annahme, dass die Welt als
Ganzes jemals anders gewesen sei oder sein werde, als sie
gegenwärtig ist. Alle ihre Theile sind allerdings einer fort-
währenden Veränderung unterworfen, wie sie auch alle, die
einen in längeren, die andern in kürzeren Zeiträumen, entstehen
und vergehen. Aber so wenig man aus dieser Beschaffenheit
der Dinge in der Welt schliessen kann, dass auch das Weltganze
entstanden sei und seiner Zeit wieder untergehen werde, eben-
sowenig kann man desshalb, weil alles einzelne in der Welt
veränderlich ist , das Ganze gleichfalls dafür erklären. Wenn
vielmehr die Welt (nach der S. 16 erörterten Annahme) dess-
halb anfangslos ist, weil sie als ein nothwendiges Erzeugniss
gewisser Ursachen von diesen immer hervorgebracht werden
musste, so kann sie auch immer nur als dieselbe hervorgebracht
worden sein und hervorgebracht werden ; denn aus den gleichen,
nach unabänderlichen Gesetzen wirkenden Ursachen können
immer nur die gleichen Wirkungen hervorgehen, und wenn zu
diesen Wirkungen auch der Wechsel der Einzelerscheinungen
gehört, muss auch dieser Wechsel selbst immer in der gleichen
Weise erfolgen, so lange die Ursachen, die ihn hervorrufen, sich
nicht ändern. Wie könnten aber die letzten Ursachen alles
Daseienden sich ändern, da sie eben als die letzten nichts ausser
sich haben, was ihre Wirkimg durchkreuzen, abschwächen oder
von ihrem Ziel ablenken könnte? Zu dem gleichen Ergebniss
kommt man aber auch unter der (S. 17 ff, besprochenen) Voraus-
setzung, dass die Welt das Werk eines schöpferischen Willens
sei. Denn wie es der Vollkommenheit dieses Willens wider-
streitet, dass er es jemals unterlassen hätte oder jemals aufhörte,
von der Ewigkeit der Welt 25
schöpferisch zu wirken, so würde ihr die Vorstellung nicht
weniger widerstreiten, dass er jemals etwas anderes hervorbringe
oder hervorgebracht habe, als das beste, was er überhaupt
hervorbringen kann. Das beste kann aber in jedem gegebenen
Falle nur Eines, und dieses muss immer dasselbe sein; denn
auch bei dieser Voraussetzung lässt sich nichts denken, was
den weltschöpferischen Willen bestimmen könnte, seinen Welt-
plan im weiteren Verlaufe zu ändern, da es ja nichts gibt, was
von ihm unabhängig, was nicht von Anfang an in den Weltplan
aufgenommen und erst dadurch überhaupt existenzfähig wäre.
So ruhelos daher auch die Veränderung ist, der alles in der
Welt unterliegt, so kann sie doch immer nm* die einzelnen
Theile der Welt betreffen : diese entstehen und vergehen, ändern
ihren Zustand und gehen in einander über. Das Ganze dagegen,
welches diese veränderlichen Theile in sich befasst, bleibt als
solches unverändert. Denn eine Veränderung seines Zustands
könnte nur dadurch bewirkt werden, dass neue Bestandtheile
und Kräfte in dasselbe einträten oder die vorhandenen neue
Verbindungen eingiengen. Aber jenes ist nach allem, was bisher
auseinandergesetzt wurde, undenkbar: so wenig die Welt jemals
nicht gewesen sein karm, so wenig kann ihr auch jemals etwas
zur Vollständigkeit ihres Daseins gehöriges gefehlt haben, um
erst nach unendlicher Zeit durch den Zufall oder durch ein
grundloses Wollen aus dem Nichts hervorgerufen zu werden.
Auch das andere lässt sich aber aus ähnlichen Gründen nicht
annehmen. Denn wenn alle in der Welt wirkenden Kräfte von
Ewigkeit her in ihr lagen, müssen sie auch von Ewigkeit her
alles, was zu wirken in ihrer Natur liegt, gewirkt haben. Das
Gesammtergebniss ihrer Wirkungen muss daher immer gleich-
sehr vorhanden gewesen sein, und wie sehr auch die Zustände
wechseln, in denen die einzelnen Theile der Welt sich befinden,
so müssen doch sie alle gegen einander so abgewogen sein, dass
das Gleichgewicht des Ganzen nicht dadurch gestört wird, ihre
in sich kreisende Bewegung seiner Ruhe und Unveränderlichkeit
keinen Abbruch thut. Auf das Unveränderliche sind aber, wie
gesagt, Zeitbestimmungen überhaupt nicht anwendbar; und man
26 I^e Lehre des Aristoteles
kann desshalb auch nicht sagen, wenn die Welt anfangslos sei,
müsste bis zu jedem gegebenen Zeitpunkt eine Zeit von unend-
licher Dauer verflossen sein. Eine Zeit verfliesst vielmehr nur,
wo sich etwas verändert; jede Veränderung aber hat einen Anfang
und ein Ende, sie vollzieht sich somit in einer endlichen Zeit,
und dabei bleibt es auch, wenn wir eine noch so grosse Reihe
einzelner, an bestimmten Theilen der Welt sich vollziehender
Veränderungen zusammenfassen. Versuchen wir es dagegen,
die sämmtlichen Zustände des Weltganzen, die bis jetzt auf-
einandergefolgt seien oder noch aufeinanderfolgen werden, zu
einer Reihe zusammenzufassen, so versuchen wir etwas an sich
selbst unmögliches, denn dieses Ganze durchläuft überhaupt keine
solche Reihe, sondern es ist ewig in demselben Zustand. Eben-
sowenig aber lassen sich — und so weit hat Kant Recht — die
sämmtlichen Veränderungen, welche die einzelnen Theile der
Welt erfahren haben und noch erfahren werden, durch schritt-
weise Aneinanderreihung der einzelnen summiren, denn eine un-
endliche Reihe kann nie zum Abschhiss gebracht werden ; wenn
es vielmehr ein Denken gibt, dem sie alle gegenwärtig sind, so
müssen sie diess nicht nacheinander, sondem zugleich, nicht
unter der Form der Zeit, sondem unter der der Ewigkeit sein,
und jenes Denken selbst muss , wie diess seit Hotin in Betreff
des göttlichen Denkens zu geschehen pflegt, als ein intuitives,
nicht als diskursives bestimmt werden.
Aus allem diesem geht nun hervor, dass nicht blos an eine
Entwicklung Gottös in der Welt (worüber S. 20 f.) , sondem
auch an eine Entwicklung der Welt selbst, eine allmähliche
Vervollkommnung derselben, nicht gedacht werden kann. Jede
Entwicklung hat einen Anfang, von dem sie ausgeht, und ein
Ziel, zu dem sie hinfllhrt; wo kein Anfang ist, kann auch kein
Fortgang sein und zu keinem Ziel hingestrebt werden, da dieses
Ziel in der unendlichen Zeit immer schon erreicht sein müsste,
wie langsam man sich auch die Entwicklung denken möchte.
Jede Entwicklung ist eine Veränderung; kann die Welt als
Ganzes betrachtet so wenig, wie ihre Ursache, sich ändern, so
kann sie sich auch nicht entwickeln. Wer vollends mit Kant
von der Ewigkeit der Welt. 27
die Idealität der Zeit behauptet, der kann nicht zugleich eine
Entwicklung der Welt annehmen, in der jede Stufe ein be-
dingender Grund der nächsten ist*^), ohne sich in den Wider-
spruch zu verwickeln^ dass das, was nur als aufeinanderfolgend
gedacht werden kann, doch in Wahrheit kein aufeinander-
folgendes sein soll.
So wenig, wie ein Anfang, kann femer ein Ende des Welt-
ganzen angenommen werden: weder in dem Sinn, dass seine
Substanz selbst aufhörte, noch in dem, dass eine durchgreifende
Veränderung des gesammten Weltzustandes alle Weltkörper zu
Einer Masse vereinigte oder die Bewegung in der Welt zum
Stillstand brächte. Wenn es die Natur der Ursachen, deren
Erzeugniss die Welt ist, mit sich brächte, dass ein solcher Er-
folg in irgend einer Zeit einträte, wie lang man sich diese auch
denken mag, so mUsste er in der unendlichen Zeit, während
der die Welt besteht , längst eingetreten sein. Aber wie^ lässt
es sich denken, dass die letzten Gründe, oder vielmehr der
letzte Grund alles Seins, welcher als der letzte ewig und un-
veränderlich sein muss, jemals anders wirken könnte, als die
Nothwendigkeit seines Wesens diess mit sich bringt? Dass er
bald eine Welt schaffe bald durch Einstellung seines schöpfe-
rischen Wirkens sie wieder vernichte? Dass zur Zeit zwar seine
Kraft sich in einer Vielheit von Einzelwesen, einer unendlichen
Mannigfaltigkeit ihrer Bewegung und Wechselwirkung zur Er-
scheinung bringe, dass aber auch irgend einmal eine Zeit kommen
könne oder gar komme» müsse, in der diese Art seiner Offen-
barung einer anderen Platz mache? Jede derartige Vorstellung
erscheint unvollziehbar, sobald man sich erinnert, dass es sich
hier nicht lun ein veränderliches Verhältniss partieller Ursachen
handelt, aus dem selbstverständlich auch veränderliche Wirkungen
hervorgehen, sondern um die unendliche Ursache alles Endlichen,
deren Wirkimgsweise ^ebenso unwandelbar sein muss, wie ihr
Wesen. Wenn es in der Natur dieser ihrer Wirksamkeit liegt, dass
sie eine Vielheit in lebendiger Wechselwirkung stehender Einzel-
wesen hervorbringe, so vrird freilich jedes von diesen sich ver-
ändern, und alles, was aus ihnen zusammengesetzt ist, bald in
28 I^ie Lehre des Aristoteles
längeren bald in kürzeren Zeiträumen entstehen und vergehen.
Aber diese Veränderung betrüft eben nur die Einzelwesen als
solche; das Ganze dagegen, das sie alle umfasst, muss noth-
wendig immer dasselbe in dem rastlosen Wechsel seiner Theile
sich unverändert erhaltende System sein, da eine Veränderung
desselben (wie in einem analogen Fall schon S. 15 ff. gezeigt
wurde) uns nöthigen würde, die Wandelbarkeit und den Wechsel
auch in das Wirken, und in Folge davon in das Wesen der
letzten Ursache zu übertragen. Wenn daher aus einer natur-
wissenschaftlichen Theorie, die an sich selbst zu den glänzendsten
und eingreifendsten Entdeckungen unseres Jahrhunderts gehört,
die Folgenmg abgeleitet worden ist, dass einmal nach voll-
kommener Ausgleichung aller Wärmeunterschiede die Bewegung
im Universum erlöschen werde, so lässt sich mit grösster
Sicherheit behaupten, es müssen hiebei wesentliche Elemente
der kosmischen Processe ausser Rechnung gelassen sein, gesetzt
auch wir seien nicht im Stande und werden vielleicht niemals
im Stande sein, diese Elemente näher nachzuweisen: könnte
ein solcher Stillstand alles Weltlebens^ überhaupt eintreten , so
müsste er schon vor unvordenklicher Zeit eingetreten sein, oder es
hätte vielmehr gar nie zu einer Bewegung in der Welt kommen
können; denn im Ewigen ist, wie Aristoteles sagt*^), zwischen
dem Möglichen und dem Wirklichen kein Unterschied, weil
eben beides von Ewigkeit her mit Nothwendigkeit aus seinem
Wesen hervorgeht.
Noch eine dritte Folgerung ergibt sich aber aus der Lehre
von der Ewigkeit der Welt, welche ich zwar auch früher schon
besprochen habe*®), auf die ich aber desshalb noch einmal zu-
rückkommen will, weil sie fortwährend viel zu wenig beachtet
wird. Bei der Untersuchung der Frage, ob die Welt als das Werk
blind wirkender Ursachen oder einer von Zweckbegriffen geleiteten
Thätigkeit zu betrachten, ob sie mechanisch oder teleologisch zu
erklären sei, gehen nicht allein solche, deren Schöpfungsbegriff
diess erlaubt, sondern auch Naturforscher und Philosophen, deren
allgemeine Voraussetzungen es verbieten würden, sehr häufig so
zu Werke, als ob es sich dabei wesentlich um die Art handle,
von der Ewigkeit der Welt. 29
wie wir uns die Entstehung der Welt zu denken haben. Die
einen suchen zu zeigen, dass ihre Grundbestandtheile sich selbst
überlassen sich unmöglich zu einem Ganzen von so vollehdeter
Schönheit und Zweckmässigkeit hätten zusammenfinden können;
die andern geben uns zu bedenken, dass jede natürliche Er-
klärung der Erscheinungen unmöglich gemacht werde, wenn
wir nicht annehmen, nach mechanischen Gesetzen seien in Zeit-
räumen von unbestimmbarer Dauer durch schrittweise Entwicklung
aus dem gasförmigen Urzustand die Weltkörper, aus den un-
organischen StoflFen die organischen Wesen, aus den niedrigeren
Organismen die höheren hervorgegangen, und dass jeder Fort-
schritt der Chemie, der Geologie, der Paläontologie, der Physiologie,
der Morphologie, dieser Annahme neue thatsächliche Stützen
zufllhre. Aber weder die einen noch die andern pflegen hiebei
zwischen dem Weltganzen und seinen einzelnen Theilen zu unter-
scheiden. Man scheint es als selbstverständlich zu betrachten, dass
das, was von den Theilen gilt, auch vom Ganzen gelten müsse, dass
die Entstehung des letzteren nur nach denselben Gesichtspunkten
und Grundsätzen erklärt werden könne, wie die der ersteren.
Die unerlässliche Vorfrage, ob überhaupt von einer Entstehung
des Weltganzen gesprochen werden kann, wird nicht aufgeworfen.
Verneint man diese Frage, wie wir sie verneinen mussten, so
erhält der Gegensatz der teleologischen und mechanischen Natur-
erklärung eine wesentlich veränderte Bedeutung. Es kann sich
bei ihm auf diesem Standpunkt nicht mehr darum handeln, ob
die Welt durch eine von Zweckbegrüfen geleitete Willens-
thätigkeit, oder ob sie als ein natumoth wendiges Erzeugniss
blind wirkender Kräfte entstanden ist und entstehen konnte;
denn sie ist überhaupt nicht entstanden. Sondern die Frage ist
lediglich die, wie wir uns die letzten Ursachen der Erscheinungen
zu denken haben, um das Ganze dieser Erscheinungen seinen
unveränderlichen Grundzügen nach erklären zu können. Nicht
die transeunten, ihrem Produkt vorangehenden Ursachen der
Welt sollen aufgesucht werden; denn solche hat nur das Ge-
wordene, nicht das Unentstandene , nur die einzelnen Theile,
nicht das Ganze; sondern ihre immanenten, dem, was sie her-
30 1^6 Lehre des Aristoteles
vorbringen, gleichzeitigen Ursachen. Durch diese Fassung der
Aufgabe ist nun die Vorstellung ausgeschlossen, dass die zweck-
mässige Einrichtung der Welt, die Vertheilung des Stoffes im
Weltgebäude, das Dasein organischer Wesen, die Bewusstseins-
erscheinungen sich erst nachträglich aus dem Zusammenwirken
von Ursachen ergeben haben , die an sich selbst auf kein der-
artiges Ergebniss hinzielten, dass alles dieses zwar eine natur-
nothwendige Folge der mechanischen Ursachen, aber nicht das
Ziel sei, dem sie zustreben, dass jede dieser Ursachen ihrer
Natur nach nur auf die Bewirkung bestimmter körperlicher Be-
wegungen angelegt, und alles, was aus diesen körperlichen Be-
wegungen weiter hervorgieng, erst im Laufe der Zeit als ein
Accidentelles zu ihnen hinzugekommen sei, nachdem sich ihre
Gausalität unbestimmt lange auf jene mechanischen Wirkungen
beschränkt hatte. Denn es kann nie eine Zeit gegeben haben,
in der die Welt ein Chaos, in der sie ohne Organismen und
ohne geistiges Leben gewesen wäre : die Vorstellung einer allge-
meinen Naturkraft oder einer Gesammtheit der Naturkräfte, die
nur mechanische Bewegungen bewirkten, ist eine blosse Ab-
straktion, welche niemals dem thatsächlichen Weltzustand ent-
sprach, ein Versuch, das, was fllr einen Theil der Erscheinungen
ausreicht, zum Erklärungsprincip für das Ganze zu machen.
Ebensowenig kann man aber, wenn die Welt anfangslos ist, die
mechanischen Ursachen als ein blosses Mittel behandeln, das
nur desshalb in den Weltplan eingeführt wurde, weil es zm* Er-
reichung des Weltzweckes nothwendig war. Denn es gab unter
dieser Voraussetzung niemals einen unausgeführten Weltzweck
oder Weltplan; die zweckmässige Einrichtung der Welt lässt
sich daher auch nicht aus den ihr im Geist des Weltschöpfers
vorangehenden (und somit während eines Zeitraums von
unabsehbarer Dauer nicht verwirklichten) Zweckbegriffen
erklären. Dann aber auch übertiaupt nicht aus einer von
Zweckbegriffen geleiteten Absicht ; denn jede Absicht bezieht sich
als solche auf etwas, das erst gethan oder hervorgebracht werden
soll, etwas zukünftiges: wenn die Welt ebenso ewig ist, wie
die Wirksamkeit der Ursache, aus der sie hervorgieng, kann diese
von der Emgkeit der Welt. 31
Ursache nie die Absicht gehabt haben, sie hervorzubringen, da
sie ja immer schon hervorgebracht war und immer die der Natur
ihrer Ureache entsprechende Beschaffenheit hatte. Weder die
mechanische noch die teleologische Welterklärung ist daher in
der Form, die ihnen gewöhnlich gegeben wird, mit der Anfengs-
losigkeit der Welt vereinbar. Die zweckmässige Einrichtung
der Welt kann durch die Wirkung der mechanischen Ursachen
zwar bedingt sein, aber sie kann nicht für eine erst im Laufe
der Zeit hervorgetretene Folge derselben gehalten werden**);
die mechanischen Ui*sachen konnten dieses Weltganze zwar nur
dann hervorbringen, wenn sie so beschaffen und in der Weise
verknüpft waren, wie sie diess thatsächlich sind, aber man kann
desshalb doch nicht sagen, sie seien auf diesen Zweck berechnet,
als Mittel für denselben geschaffen, denn diess wüide voraus-
setzen, dass die Vorstellung jenes Zweckes ihrem Dasein als
Grund desselben vorangieng. Wenn weder die Bedingungen, an
die ein bestimmtes Ergebniss geknüpft ist, noch dieses Ergebniss
selbst, weder das Ganze noch seine Grundbestandtheile entstanden
sind , lässt sich das Verhältniss beider nicht durch Begriffe be-
zeichnen, denen die Voraussetzung zu Grunde liegt, dass der
eine von beiden Theilen dem andern ideell oder reell, als sein
Zweck oder sein Grund, vorangegangen, also früher als jener
vorhanden gewesen sein müsse. Was uns als Gegenstand der
wissenschaftlichen Betrachtung vorliegt, ist ein System, welches
aus zahllosen Theilen von der verschiedenartigsten Beschaffen-
heit zusammengesetzt ist und Erscheinungen der verschiedensten
Art hervorbringt, welches die Welt unseres Bewusstseins ebensogut,
wie die im Raum sich vor uns ausbreitende Körpei*welt um-
fasst, in dem aber alles auf einen einheitlichen, durch unab-
änderliche Gesetze geordneten Zusammenhang, und ebendamit auf
eine einheitliche, ewige, unveränderliche Ursache hinweist. Für
die Erklärung dieses Systems, soweit eine solche Menschen
möglich ist, kann man nun von einem doppelten Standpunkt
ausgehen. Man kann fragen, in welcher Weise die Gesammtheit
der Erscheinungen sich erklärt, wenn als letzte Gründe derselben
Ursachen von einer bestimmten Beschaffenheit unter bestimmten
32 ^^ Lehre des Aristoteles
Verhältnissen der gegenseitigen Einwirkung auf einander vorausge-
setzt werden. Man kann aber auch umgekehrt untersuchen, wie
die Bestandtheile der Welt und die in ihnen wirkenden Kräfte
beschaffen sein mussten und in welchem Yerhältniss sie stehen
mussten, um die Welt, wie sie ist, hervorzubringen. In jenem
Fall erhält man die causale Erklärung der Dinge, welche zur
mechanischen wird, wenn sie voraussetzt, dass alle Erscheinungen
auf die räumliche Bewegung körperlicher Substanzen zurück-
zufahren seien ; in diesem die teleologische. Es ist nun leicht
zu sehen, dass diese beiden Erklärungen sich ausschliessen, wenn
sie auf die Entstehung des Weltganzen angewendet werden. Wenn
dem letzteren gewisse Stoffe oder Kräfte in ihrem/ Dasein voran-
giengen, aus deren Wirkungen die Bildung dieser Welt sich
natumothwendig ergab, so sieht man nicht ein, wie diese Welt-
ursachen auf das, was durch sie hervorgebracht werden sollte,
hätten Rücksicht nehmen und wie diese Rücksicht auf ihre, nach
unabänderlichen Gesetzen erfolgenden Wirkungen einen Einfluss
hätte ausüben können. In diesem Fall wäre daher die Welt
aus der Wirkung der weltbildenden Kräfte zwar als eine Folge
derselben hervorgegangen; aber sie könnte nicht als ihr Zweck
betrachtet, an eine teleologische Naturerklärung könnte nicht
gedacht werden. Nimmt man andererseits an, die letzten Be-
standtheile der Welt seien dessh'alb mit diesen bestimmten
Eigenschaften und Kräften ausgestattet und in diese bestimmten
ursprünglichen Verbindungen gebracht worden, weil die Voll-
kommenheit dessen, was sich aus ihnen bilden sollte, diess forderte,
so möchte man alles weitere aus denselben noch so sehr auf rein
causalem, oder sogar auf rein mechanischem Weg entstehen
lassen**): in letzter Beziehung wäre die Weltansicht doch eine
teleologische, denn alle natürlichen Ursachen wären nur als
Mittel für einen bestimmten Zweck in's Dasein gerufen, die
Vorstellung dieses Zweckes wäre ihrer Entstehung als Grund
derselben vorangegangen. Anders stellt sich die Sache, wenn
man die Voraussetzung einer Weltentstehung aufgibt. Dann ist
das Weltganze nicht später, als die Elemente, aus denen es zu-
sammengesetzt ist, und die in ihnen wirkenden Kräfte ; man kann
von der Ewigkeit der Welt 38
daher die Frage gar nicht aufwerfen, ob sie dieses Ganze durch
ein unbeabsichtigtes und insofern zufälliges Zusammentreffen,
oder durch eine von Zweckbegriflfen geleitete Verknüpfung ihrer
Wirkungen hervorgebracht haben; denn sie haben es überhaupt
nicht hervorgebracht, weil es ebenso anfangslos ist, wie sie.
Man kann aber auch nicht fragen, ob sie es, sich selbst über-
lassen, hervorgebracht haben würden; denn auch dieser Fall
ist undenkbar; sie existiren eben nur als Theile dieses Ganzen,
und so gut man behaupten kann : diese Grundbestandtheile voraus-
gesetzt, habe dieses Ganze daraus werden müssen, ebensogut
kann man auch umgekehrt sagen : dieses Ganze als wirklich ge-
setzt, können seine Elemente keine anderen sein als diese. Die
causale und die teleologische Erklärung stehen daher in einem
ausschliessenden Gegensatz nur sofern es sich um einzelne Er-
scheinungen handelt: hier kann man fragen, ob sie von bewusst-
losen oder von bewussten, nach Zweckvorstellungen wirkenden
Kräften hervorgebracht seien. Sofern dagegen das Weltganze
in Frage konmit, bezeichnet jener Unterschied nur zweierlei
Standpunkte für die Betrachtung: wird das Ganze als das Produkt
seiner sämmüichen Bestandtheile betrachtet, so ergibt sich die
causale, werden die Theile als die Bedingungen des Ganzen be-
trachtet, so ergibt sich die teleologische Weltansicht. Von der
einen wie von der andern muss aber in diesem Falle, mit ihrer
sonstigen Anwendung verglichen, so viel in Abzug gebracht
werden, dass das, was von ihnen übrig bleibt, keinen Gegen-
satz mehr bildet. Denn wenn weder die letzten Bestandtheile
der Welt dem Weltganzen der Zeit nach vorangehen, noch die
Idee des Ganzen den Theilen, so kann die causale Welterklärung
nur bedeuten, dass das Weltganze als aus diesen Theilen be-
stehend und auf diesen bestimmten Verbindungen derselben
beruhend gedacht werden müsse, und die teleologische nur, dass
die Theile als zu diesem Ganzen verbunden gedacht werden
müssen. Fragen wir aber, wo diese Noth wendigkeit herrührt,
so werden wir zwar, wie bemerkt (S. 17), auf einen einheitlichen
letzten Grund aller Dinge geführt; aber da die Welt keinen
Anfang in der Zeit hat, können wir weder annehmen, es seien
Zeller, Vorträge und Abhandl. 3
34 ^^^ Lehre des Aristoteles
aus ihm zuerst nur die Grundbestandtheüe der Welt hervorge-
gangen und die Welt selbst habe sich aus jenen durch eine
blosse Naturwirkung gebildet, noch können wir umgekehrt die
von dem Weltschöpfer entworfene Idee der Welt der Entstehung
ihrer Bestandtheile vorangehen lassen. Sondern es muss eine
und dieselbe Wirksamkeit sein, welche das Einzelne und das
Ganze hervorbringt, eine und dieselbe Kraft, welche vermöge
der Nothwendigkeit ihrer Natur in allem gleichsehr und zugleich
sich beihätigt, und was hiebei das frühere, was das spätere,
was Mittel und was Zweck, was der Grund und was die Folge
sei, kann man nicht fragen, weil keines dem andern in seinem
Dasein vorangeht, und eben nur dieses Ganze als Ganzes die
adäquate Erscheinung der Ursache ist, die es erzeugt. Nur auf
der Einheit dieser Ursache beruht der causale Zusammenhang
der Dinge : wie die Naturgesetze überhaupt nichts anderes aus-
drücken, als die gleichmässige Wirkungsweise gewisser Ursachen,
so lässt sich auch das gesetzmässige Ineinandergreifen der
natürlichen Wirkungen nur als eine Folge von der Einheit der
letzten Ursache betrachten*®). Aus dem gleichen Grund ergibt
sich aber mit Nothwendigkeit auch, dass aus diesen Wirkungen
ein in sich zusammenstimmendes Ganzes, eine mit vollkommener
Zweckmässigkeit eingerichtete Welt hervorgeht. Die causale
und die teleologische Weltbetrachtung fallen daher zusanmien, so-
bald jene von den Einzelursachen auf ihren letzten Grund, und
diese von einer äusserlichen Zweckbeziehung auf den inneren
Zusammenhang der Dinge zurückgeht : die Welt als Ganzes ge-
nommen ist gerade desshalb vollkommen, weil nichts in ihr zu-
fällig, weil sie ein Werk der weltschöpferischen Kraft ist, das
nach unabänderlichen Gesetzen und desshalb ohne Anfang und
Ende aus dem Wechsel seiner Theile in unwandelbarer Gleich-
mässigkeit sich erzeugt.
Anmerkungen.
1. De coelo I, 10. 279 b 12.
2. Die Belege gibt meine Philosophie der Griechen I, 212 f. 229. 247
4. Aufl.
von der Ewigkeit der Welt * 35
3. A. a. 0. 378 ff. 341, 4. 385, 2.
4. Fragm. 46 Schust 20 Byw.
5. De coelo I, 10—12.
6. Vgl. Phü. d. Gr. I, 492, 3. 495, 2.
7. A. a. 0. 498 ff.
8. De coelo I, 10. 249 b 32.
9. Zu der so eben angeführten Stelle , S. 136 b 83 Karst. 488 b 15 ff .
der akademischen Scholiensammlung. Das gleiche wird ebd. 489 a 4. 9 von
spateren Scholiasten wiederholt und an der letzteren Stelle auch auf
Speusippus ausgedehnt
10. Alexakdeb in Metaphysica 799, 5 Bon. Schol. in Arist 827 b 46.
11. Vgl. Phil. d. Gr. na 666 ff.
12. Fragm. 17 bei Ps. Philo De aetemitate mundi c 3 S. 222, 12.
Bern. Fr. 18 b. CiCEBO Acad. 11, 38, 119.
13. Tim. 34 A. 68, E. 92 Schi. Kritias Anf.
14. Jenes Tim. 32 C, dieses ebd. 41 A f.
15. Rhet n, 23. 1399 b 6.
16. Nur einen subsidiären Beweis bildet der Schluss aus der Anfangs-
nnd Endlosigkeit der Zeit auf die der Bewegung (a. a. 0. 251 b 12 ff. Metaph.
XII, 6. 1071b 6 ff.), welcher von der aristotelischen Definition der Zeit als
„Zahl oder Mass der Bewegung^ ausgeht.
17. C. 10. 279b 21 ff. c. 12. 283a 29ff.
18. Abist, gen. et corr. 11, 10. 836 a 27.
19. Phys. Vm, 1. 252 a 5 ff.
20. De coelo I, 3. 270 b 4 f. 16 f. Meteor. I, 3. 339 b 19 ff. Metaph. XH,
8. 1074 a 88 ff.
21. De coelo I, 3. 270 b 11.
22. Wie ich diess im Anschluss an Bebnays (Theophrastos' Schrift
über Frömmigkeit S. 44 f.) Phil. d. Gr. IT, b, 508 3. Aufl. gezeigt habe.
23. Tim. 22 C ff. Gess. IE, 676 B ff.
24. De coelo I, 3. 270 b 19. Meteor. I, 3. 339 b 27. Meteph. XH, 8.
1074 a 38 ff. Fragm. 2 bei Stne& calv. encom. c. 22.
25. De natura rerum V, 922—1455.
26. Diogenes LAfiRTius nennt von Theophrast V, 17 zwei Bücher
Tifql (VQtjfidrejv ; Erörterungen dieses Philosophen über die Anfänge der
menschlichen Kultur finden sich bei Pobphtb De abstinentia II, 5. Philo
De aetemitate mundi c. 27 S. 274 Bern.; vgl. Bebnats Theophrastos' Schrift
u. 8. w. S. 39 ff.
27. So schon Theophrast gegen Zeno, den Stifter der stoischen
Schule, wie ich im Hermes XI, 422 ff. aus Philo aetem. mundi c. 23 ff.
nachgewiesen habe, und später Eritolaus ebd. c. 11 ff.
28. PhU. d. Gr. H, a, 666, 2. IH, a, 807, 8. 814 3. Aufl.
29. S. 0. und PhU. d. Gr. ÜI, b, 131 1 3. Aufl.
30. Das nähere hierüber Phü. d. Gr. m, a, 553. 555 f. 561 f. 3. Aufl.
81. Vgl. Phil. d. Gr. IH, b, 847, 2 3. Aufl.
32. Der christliche Glaube I, § 41 Anm. 2. — Was von hier an folgt,
ist ebenso, wie der erste Absatz S. 1, jetzt erst beigefugt.
3*
36 1^6 Lehre des Aristoteles von der Ewigkeit der Welt.
38. Glaubenslehre (1840) I, 648 ff., wo man auch über die mittelalterhchen
und neueren Vertheidiger dieser Ansicht näheres findet ; ebd. II, 666 f« Der
alte und der neue Glaube (Ges. Sehr. VI) 99 f.
84. Eingehender ist diess im 2. Band dieser Vorträge S. 11 ff. nach-
gewiesen. Dass es aber Systeme gegeben hat, welche unsere Welt durch den
Kampf und die Vermischung entgegengesetzter Mächte, guter und böser,
lichter und dunkler, entstehen Hessen, wie die der Manichäer und der meisten
gnostischen Schulen, wird man dem im Texte gesagten nicht entgegenhalten ;
denn die Frage ist hier nicht die, welche Meinungen thatsächlich irgend
einmal aufgestellt worden sind, sondern welche Ansichten nach Wissenschaft*
lieber Möglichkeit aufgestellt werden können. Zu den wissenschaftlich mög-'
liehen Ansichten sind aber jene dualistischen Theorieen, abgesehen von
allem andern, schon desshalb nicht zu rechnen, weil keine von ihnen den
Versuch gemacht hat, eine rationale, und nicht blos eine mythische Er-
klärung dafür zu geben, dass die beiden von ihnen angenommenen Welten,
die der guten und die der bösen Mächte, in einem gegebenen Zeitpunkt
anfiengen, sich zu vermischen und zu bekämpfen, nachdem sie vorher un-
endlich lange vollständig getrennt gewesen waren. Strenggenommen dürfte
man ohnediess auf diesem Standpunkt gar nicht von einer Entstehung des
Weltganzen reden, das viehnehr in seinen beiden ursprünglichen Hälften,
der materiellen und der geistigen, der finsteren und der Lichtwelt, von
Ewigkeit her existirte, sondern nur von einer solchen Veränderung des
Weltzustandes, durch die eine vorübergehende theilweise Vermischung jener
beiden Theile der Welt herbeigeföhrt wurde.
35. Man vergleiche hierüber beispielsweise, was in meiner Geschichte
der Deutschen Philosophie S. 7. 15 ff. 554 f. 560 f. 2. Aufl. über Eckhart,
J. Böhme und Schelling mitgetheilt ist.
86. Mit der vorstehenden Auseinandersetzung stimmt die kürzere Bd. II,
545 f. ihrem Inhalt nach überein.
87. Kritik d, r. Vem. S. 454 f. der zweiten Originalausgabe.
38. Vorträge und Abb. II, 504 f. 521 f.
39. Auch hierüber ist a. d. a. 0. gesprochen.
40. Vgl. Phil. d. Gr. H, b, 898 f. 8. Aufl.
41. Beides findet sich bei Lotze im Mikrokosmus; jenes III, 596 ff.,
dieses II, 58 ff.
42. Phys. m, 4. 203 b 30.
43. Vortr. und Abhandl. II, 544 ff.
44. Es war desshalb ganz in der Ordnung, wenn Aristoteles (wie im
nädisten Stück dieser Sammlung gezeigt werden wird) den Gedanken, dass
das Zweckmässige nur ein zufälliges Erzeugniss der Natumothwendigkeit
sein könnte, abwies.
45. So Leibniz; vgl. Vortr. und Abb. II, 540 f. Gesch. d. Deutschen
Phil. S. 101 f. 2. Aufl. K. Fischer Gesch. d. n. Phil. II, 363 f. 2. Aufl.
46. Vgl. Vortr. und Abb. H, 13 ff.
II.
üeber die griechisohen Vorgänger Darwin's.
(Gelesen in der Akademie der Wissenschaften zu Berlin den 25. Juli 1878.)
Jede folgenreiche Erfindung oder Entdeckung, jede ein-
greifende wissenschaftliche Theorie, die in unserer Zeit auftritt,
lenkt unseren Blick unwillkürlich in die Vergangenheit zurück.
Wir fragen, ob ähnliches nicht auch früher schon da war, ob
das neue, was in der Gegenwart an's Licht getreten ist, nicht
vielleicht schon seit längerer Zeit vorbereitet und wenigstens
theil weise schon bekannt war ; und wir begegnen nicht selten zu
unserem Erstaunen dem einen und andern von dem, was wir
jüngsten Ursprungs glaubten, schon vor Jahrhunderten und Jahr-
tausenden, wir Sßhen die Alten dem, was in der Folge zur
durchschlagendsten Wirkung gelangte, oft so nahe kommen,
dass wir uns fragen müssen, wie die letzten, scheinbar so kleinen
Schritte unterbleiben, die Gedanken, deren Fruchtbarkeit uns in
die Augen springt, von ihren eigenen Urhebern nicht weiter
verfolgt, von der Mitwelt übersehen, von der Nachwelt vergessen
werden konnten^). Wenn wir genauer zusehen, zeigt sich frei*
lieh in der Regel, dass die Verwandtschaft des früheren mit dem
späteren doch nicht so weit geht, als es beim ersten Anblick
scheinen mochte; dass zur Entwicklung des einen aus dem
andern Zwischenglieder nöthig waren, an denen es noch lange
Zeit fehlte ; dass manche bereits gehobenen Schätze nur desshalb
wieder verloren giengen und später neu entdeckt werden mussten,
weil ihr Werth von den ersten Entdeckern selbst nicht erkannt
wurde, manche an sich selbst lebensfähige Keime nur desshalb
38 Ueber die griechischen Vorgänger Darwin's.
keine Frucht brachten, weil der ganze Bildungsstand und die
Verhältnisse ihrer Zeit ihnen die Bedingungen versagten, deren
sie zur Erhaltung und zum Ausreifen bedurften.
Unter den wissenschaftlichen Erscheinungen der Gegenwart,
deren leitende Gedanken man in neuerer Zeit bis in's Alterthum
zurück zu verfolgen versucht hat, nimmt die Darwin'sche
Theorie über die Entstehimg und Entwicklung der Organismen
eine der ersten Stellen ein; und es erscheint insofern als keine
undankbare Aufeabe, zu untersuchen, ob die griechische Wissen-
schaft dieser Theorie Anknüpftmgspunkte darbietet, wo diese
sich finden und wie weit sie reichen.
Die Frage nach der ersten Entstehung der Thiere und
Menschen hat nun allerdings das Nachdenken der Griechen, wie
vieler anderen Völker, schon frühe beschäftigt. Aber die Ant-
worten, die darauf gegeben wurden, waren anfangs, wie gleich-
falls überall, höchst einfacher und kindlicher Art: jene Mythen
von den Erdgeborenen, den Autochthonen, von denen fast jede
griechische Landschaft zum Beweis für das Alter ihrer Bevölkerung
einen ihr eigenthümlichen zu erzählen hatte, und was sonst noch
verwandtes überliefert ist. Der erste, von dem uns bekannt ist,
dass er sich die Entstehung der lebenden Wesen auf natürlichem
Wege zu erklären versuchte, ist der Müesier Anaximander,
nächst Thaies der früheste, und nach allem, was wir über ihn wissen,
einer von den hervorragendsten unter jenen Männern, die seit
dem Anfang des sechsten Jahrhunderts die Philosophie und Natur-
forschung bei den Griechen begründeten. Seine Vorstellungen
stehen aber freilich denen der mythischen Kosmogonie noch nahe
genug; und kommen auch schon in ihnen einzelne Gedanken
zum Vorschein, die an neuere Theorieen erinnern, so wird doch
diese Aehnlichkeit durch eine genauere Betrachtung derselben
wesentlich eingeschränkt. Wie die Erde nach seiner Annahme
ursprünglich in flüssigem, schlammartigem Zustand war, und erst
allmählich durch Austrocknung ihre jetzige Beschaffenheit an-
nahm, so sollten auch die lebenden Wesen, wie es scheint
durch eine von der Sonnenwärme bewirkte Urzeugung, aus dem
Wasser und dem Erdschlamm hervorgegangen sein*). Was im
Ueber die griechischen Vorgänger Darwin's. 39
besondem die Menschen betrifft, so sagte Anaximander, sie haben
zuerst die Gestalt von Fischen gehabt, indem sie in einer Art
domiger Einde steckten, und haben sich wie Fische im Wasser
genährt; erst mit der Zeit, als sie im Stande waren, sich auf
andere Art fortzubringen, seien sie an's Land gestiegen, ihre
pUnzerartige Umhüllung sei zerborsten, und sie haben ihre jetzige
Gestalt angenommen ; und er machte für diese Vermuthung den
sinnreichen Grund geltend: die Menschen bedürfen nach ihrer
Geburt viel zu lange fremder Pflege, als dass die ersten Stamm-
väter unseres Geschlechts sich selbst hätten erhalten können,
wenn sie gleich anfangs als Menschen zur Welt gekommen
wären ^). An dieser Hypothese überrascht uns zunächst aller-
dings die Annahme, dass der menschliche Organismus aus einem
tMerischen entstanden sein soll , und man könnte glauben, wir
haben es hier schon mit dem leitenden Gedanken der Descen-
denztheorie zu thun. Allein wenn auch Anaximander die Menschen
anfangs in Gestalt von Fischen im Wasser leben liess, scheint
er doch dabei nicht an den vollständigen Organismus der Fische
gedacht zu haben, welcher sich erst in der Folge in einen
menschlichen umgebildet hätte ; denn es ist nur von einer Binde
cöe Rede, von der die ersten, im Wasser entstandenen Menschen
umgeben gewesen seien, und um sie zu Landthieren zu machen,
ist nicht mehr nöthig, als das Zerspringen dieser Rinde. Der
Philosoph scheint also, — wie diess in einer so frühen und mit
Untersuchungen über den thierischen Organismus noch so unbe-
kannten Zeit ohnedem das natürlichste war, — bei seiner An-
nahme weniger den inneren Bau als die äussere Gestalt der
Menschen imd Fische im Auge gehabt zu haben: jene sollten
in diesen stecken, wie der Schmetterlingsleib in der Puppe oder
die Schildkröte in ihrem Gehäuse ; als sie soweit herangewachsen
waren, dass ihnen dieser Schutz entbehrlich wurde, krochen sie
auf das Land, an das sie angespült wurden, und warfen ihn ab.
^och weniger darf man in den Worten derPlacita: Tregi^^rjyvvfxavov
■fot q)Xoiov en oXiyov xqovov ^eraßiunai den Sinn suchen,
dass die Fischmenschen nach dem Abspringen ihrer Hülle sich
den veränderten Lebensbedingungen angepasst haben*), sondern
40 Ueber die griechischen Vorgänger Darwin*a.
ptevaßiovv heisst, wie der Zusatz «tt' (nicht: fiet' oder xot*)
hXiyov xQovov beweist : überleben. Anaximander muss demnach,
wenn die Angabe richtig ist, angenommen haben, die ersten
Menschen haben nach dem Uebergang aus dem Wasser aufs
Land nicht mehr lange gelebt, da sie ja schon erwachsen waren
und mithin einen bedeutenden Theil ihres Lebens bereits hinter
sich hatten. Doch, muss er ihnen immerhin die Zeit gelassen
haben, um sich fortzupflanzen und ihre Nachkommenschaft so lange
zu erhalten, bis sie sich selbst fortbringen konnte. Dass der
Philosoph seine Hypothese auch auf die übrigen Landthiere an-
gewendet habe, wird nicht gesagt und ist nicht wahrscheinlich ^).
Um so weniger lässt sich aber dann voraussetzen, es habe ihm
schon bei seiner Annahme der allgemeine Gedanke einer Ent-
wicklung der vollkommeneren Organismen aus den einfacheren
vorgeschwebt; sondern was ihn zu ihr veranlasste, war nur die
Erwägung, dass der Mensch, wenn er nicht schon erwachsen ans
der Erde hervorgegangen sein sollte, im Wasser eher die Mög-
lichkeit gefunden haben werde, sich so lange zu erhalten, bis
er im Stande war, auf dem Lande zu leben. Mag es uns aber
auch vielleicht um nichts denkbarer erscheinen, dass ein unent-
wickelter menschlicher Organismus im Wasser, als dass ein aus-
gewachsener im Schosse der Erde sich durch Selbstzeugung ge-
bildet haben sollte, so verhielt es sich doch damit in jener Zeit
noch anders: an eine Entstehung durch Selbstzeugung wurde
damals allgemein geglaubt, — nimmt sie doch selbst Aristoteles
noch ausser manchen niedrigeren Thieren sogar bei den Aalen
an; aber so viele Beispiele derselben man auch zu kennen
glaubte, so fand sich doch fllr den Hervorgang erwachsener
Menschen aus der Erde keine Analogie, wogegen Anaximander's
Hypothese sich wenigstens an das anschloss, was in seiner Zeit
für ein thatsächlich gegebenes galt. Diese Hypothese ist daher
zwar immer im Vergleich mit den Autochthonensagen der My-
thologie ein erheblicher Fortschritt, denn sie sucht die Ent-
stehung des Menschengeschlechts nach natürlichen Analogieen zu
erklären ; aber eine weitere Verwandtschaft mit den neueren Ver-
suchen zur Lösung dieser Frage dürfen wir in ihr nicht suchen.
Ueber die griechischen Vorgänger Darwin's. 41
Mit Anaximander stimmte der Begründer der eleatischen
Schule, welcher diesen Philosophen nach Theophrast (b. Diog. IX, 21 )
auch wirklich zmn Lehrer gehabt hatte, der Kolophonier X e n o -
phanes, darin übereiu, dass er die Menschen beim Uebergang
der Erde aus dem schlammartigen in den festen Zustand ent-
stehen liess (Phil. d. Gr. I, 498). Wie er sich aber diesen Vor-
gang näher dachte, wird uns nicht mitgetheilt. Auch unter den
übrigen vorsokratischen Philosophen ist es nur Einer, der Agri-
gentiner Empedokles, dessen Vorstellungen über die Ent-
stehung der Organismen an neuere Theorieen erinnern; wenn
wir auch wissen, dass schon Xenophanes' Schüler Parmenides
die Menschen, später Diogenes von ApoUonia und D e m o k r i t
Pflanzen und Thiere zuerst aus dem Erdschlamm hervorgehen
liessen (Phil. d. Gr. I, 528. 245. 806), und dass Anaxagoras
diese Vermuihung mit dem weiteren Zusatz voi^etragen hatte:
die Keime der Pflanzen seien aus der Luft, die der Thiere aus
dem Aether in die Erde gekommen (ebd. 906 f.). Dass sie aus der
Erde entsprungen seien, nahm nun auch Empedokles an ; aber er
dachte sich diesen Hergang nicht so einfach, wie die meisten andern.
Er liess nämlich nur die Pflanzen schon in der ersten Zeit nach
der Bildung der Erde, und noch ehe sie von der Sonne umkreist
wurde, aus ihr hervorkeimen®), die Thiere dagegen erst später
entstehen; und der gegenwärtigen Thierwelt sollte eine Reihe
unvollkommenerer Bildungen vorangegangen sein '^). Zuerst ent-
standen, wie er sagt, noch keine vollständigen Organismen, sondern
nur die einzelnen, von einander getrennten Theile derselben:
Köpfe ohne Hals, Arme ohne Schultern, Augen ohne ihre Höhlen.
Als die einigende Kraft in der Natur, welche Empedokles die
Liebe nennt, über die trennende, den Hass, mehr und mehr Herr
wurde, begannen sie sich zu suchen und zu vereinigen ; aber sie
folgten hiebei zunächst nur dem Zufall: jedes von den ver-
einzelten Organen verband sich mit dem nächsten besten, mit
dem es gerade zusammentraf, und so entstanden anfangs allerlei
abenteuerliche Geschöpfe: Stiere mit Menschenköpfen und
Mensehen mit Stierköpfen, Wesen mit doppelter Brust und zwei
Häuptern, wie die Urmenschen des Aristophanes im platonischen
42 Üeber die griechischen Vorgänger Darwih's«
Gastmahl, die vielleicht daher stammen, beide Geschlechter in
Einem Leibe vereinigt u. s. w. Aber diese migeheuerlichen Bil-
dungen giengen bald wieder zu Grunde^).. Erst eine weitere
Reihe organischer Produkte fiel so aus , dass sie sich erhalten
und fortpflanzen konnten. Aber auch diese bildete sich nicht
auf einmal. Anfangs wurden nur unförmliche Klumpen, aus
Erde und Wasser gebildet, noch ohne Gliedmassen, Geschlechts-
oi^ane und Sprache, von dem unterirdischen Feuer empoi^eworfen ;
später erst trat die Scheidung der Geschlechter und die jetzige
Art der Fortpflanzung ein ^). Ueber die Frage, wie Empedokles
diese letzte Verändemng der thierischen Organismen zu Stande
kommen liess, ist nichts überliefert ; dass aber die verschiedenen
Akte, die zur Entstehung der Thiere und Menschen führten, in der
oben angegebenen Ordnung auf einander folgen sollten, wird auch
durch eine Stelle der pseudoplutarchischen Placita bestätigt ^^).
Diese Darstellung bietet nun allerdings, so seltsam sie sich
auch in ihrer näheren Ausführung ausnimmt, mit der neuesten
Theorie über die Entstehung der organischen Wesen einige merk-
würdige Vergleichungspimkte dar. Wenn diese voraussetzt, die
jetzt auf der Erde vorhandenen Arten derselben seien nicht
mit Einem Male durch eine Zweckthätigkeit entstanden, welche
von Anfang an auf ihre Hervorbringung ausgieng, sie seien viel-
mehr das Ergebniss einer langen Entwicklungsreihe, von deren
Erzeugnissen nur diejenigen sich erhielten, denen theils in ihrem
eigenen Bau, theils in der sie umgebenden Welt die Bedingungen
einer längeren Dauer gegeben waren, so nimmt auch Empedokles
an, wenigstens im Gebiete der Thierwelt sei es der Natur erst
nach wiederholten misslungenen Versuchen geglückt, lebens-
und fortpflanzungsfähige Wesen hervorzubringen. Diese Ueber-
einstimmung mit der Wissenschaft unserer Tage ist dem agri-
gentinischen Naturphilosophen so hoch angerechnet worden, dass
der Verfasser der Geschichte des Materialismus^^) geradezusagt,
er habe zwar in roher Form aber in voller begrifflicher Schärfe
den Denkern des Alterthums dasselbe geboten, was D a r w i n für
die Gegenwart geleistet habe. Dieses XJrtheil bedarf jedodi einer
erheblichen Beschränkung.
Ueber die griechischen Vorgänger Darwin's. 43
Aristoteles wirft in seiner Physik 11, 8 die Frage auf: ob
die Natur nach Zwecken, um des Besten willen, wirke, oder, nur
vermöge einer blinden Nothwendigkeit , so dass es sich schliess-
lich mit allem so verhielte, wie mit dem Begen, der zwar das
Wachsen des Getreides zur Folge habe, aber nicht um des Ge-
treides willen, sondern lediglich desshalb eintrete, weil die auf-
steigenden Dünste in der Höhe söch abkühlen und dann als
Wasser niederschlagen. Warum könnte nun, fragt er, nicht das-
selbe von allen Naturerzeugnissen gelten? Warum könnte z. B.
die Schärfe der Schneidezähne und die Stumpfheit der Backzähne
nicht etwas zufälliges, der Dienst, den uns beide beim Essen und
Kauen leisten , eine nicht beabsichtigte Folge dieses zufälligen
Zusammentreffens sein ? Ebenso, könnte man annehmen, verhalte
es sich überall, wo eine Zweckmässigkeit vorzuliegen scheint;
„diejenigen Wesen nun, bei denen sich alles so fll^, wie wenn
es um eines Zweckes willen gemacht worden wäre, haben sich
erhalten, da sie der Zufall zweckmässig gebildet hatte ; diejenigen
dagegen, bei denen diess nicht der Fall war, seien zu Grunde
gegangen und gehen fortwährend zu Grunde, wie nach Empe-
dokles die Stiere mit Menschengesichtem." Hier wird allerdings
der Gedanke ausgesprochen, die zweckmässige Beschaffenheit der
Naturerzeugnisse könnte olme Mitwirkung einer Zweckthätigkeit
lediglich davon herrühren, dass unter den mannigfaltigen We-
sen, welche durch das zufällige Zusammentreffen der natur-
nothwendigen Wirkungen entstanden, nur die lebensfähigen sich
erhielten. Aber diesen Gedanken Empedokles zuzuschreiben,
gibt die aristotelische Stelle uns kein Recht. Von Empedokles
wird hier nur angeführt, er habe seine Stiermenschen wieder
untergehen lassen; imd selbst wenn er schon dafür den Grund
geltend gemacht haben sollte, dem wir später bei Lucrez
(V, 834 ff.) begegnen, dass derartige Geschöpfe nicht im Stande
gewesen seien, sich zu ernähren, sich fortzupflanzen, und sich
vor Gefahren zu schützen, so wäre diess imtmer noch etwas
anderes, als der Versuch, den zweckmässigen Bau der organischen
Wesen durch die Annahme zu erklären, es haben von den zahl-
losen Erzeugnissen des Zufalls nur die zweckmässig eingerichteten
44 Ueber die griechischen Vorgänger Darwin's.
sich erhalten und fortpflanzen können. Aber auch jener Lucre-
zische Satz wird EmpedoUes von keinem unserer Zeugen bei-
gelegt; noch weniger wird ihm der weitergreifende Gedanke,
den Aristoteles in der oben besprochenen Stelle entwickelt, von
diesem selbst oder ii^end einem andern zugeschrieben. Alle
allgemeineren Gründe sprechen ohnedem gegen diese Annahme.
Denn die Frage, ob die Zweckmässigkeit der Natureinrichtung
sich nicht ohne eine nach Zweckbegriflfen wirkende Naturkraft
erklären lasse — diese Frage konnte doch nicht früher aufge-
worfen werden, als nachdem man auf die Zweckmässigkeit der
Natureinrichtung aufmerksam geworden war und sie von einer
zweckthätigen Intelligenz herzideiten begonnen hatte. Diesen
Schritt hat aber, wie durch das Zeugniss des Aristoteles
(Metaph. I, 4. 984 b 8 flf.) und Plütarch (Perikl. 4) fest-
steht, vor Anaxagoras niemand gethan, und auch er hat sein
neuentdecktes Princip, wie ihm Plato und Aristoteles überein-
stimmend vorwerfen, für die Naturerklärung nur in Ausnahms-
fällen verwendet; und dass die Erklärung der thierischen Or-
ganismen zu diesen nicht gehörte, erhellt schon aus dem oben
(S. 41) angeführten: die Pflanzen und Thiere sollten ja nach
ihm aus der durch die Luft und den Aether befruchteten Erde
hervoi^egangen sein ; dass der weltbildende Geist bei ihrer Ent-
stehung betheiligt gewesen sei, wird nicht berichtet Anaxagoras
hätte daher dem EmpedoUes zu der Erklärung der Zweckmässig-
keit in der Natur ^ welche man bei diesem sucht, kaum einen
ausreichenden Anstoss geben können. Wahrscheinlich hat aber
von den beiden gleichzeitigen Philosophen Empedokles sein Lehr-
gedicht früher verfasst, als Anaxagoras sein Buch über die Na-
tur ^^); um so unwahrscheinlicher ist es, dass ihm schon jene
Ableitung der zweckmässig eingerichteten Nftturerzeugnisse aus
den blindwirkenden Ursachen angehört, die Aristoteles in der
Physik versuchsweise vorträgt, die aber weder er noch sonst
jemand Empedokles beilegt. Dann kann aber auch das, was der
letztere über die Aufeinanderfolge der verschiedenen organischen
Erzeugnisse sagt , nicht den Zweck gehabt haben , die voll- ,
kommeneren von diesen als die lebensfähigen Ueberreste aus
Ueber die griechischen Vorgänger Darwin's. 45
der anfänglichen Masse der zufälligen Hervorbringungen zu be-
greifen ; und Empedokles stellte sie ja auch nicht als solche dar,
sondern erst nachdem die seltsamen Produkte der früheren
Periode untergegangen waren, liess er durch eine neue Schöpfung
jene unförmlichen Massen entstehen, welche sich in der Folge
zu den jetzigen Menschenleibem (denn nur von diesen wird
hier gesprochen) gliederten. Das Motiv seiner Darstellung scheint
vielmehr anderswo, in dem Ganzen seines kosmologischen Systems,
zu liegen. Die Geschichte des Weltganzen bewegt sich ja seiner
Annahme zufolge in einem endlosen Wechsel zwischen zwei
Punkten : der vollkommenen Einigung aller Elemente im Sphairos
und ihrer vollkommenen Trennung durch den Hass ; und bei der
Schilderung der Weltbildung gieng er von der letzteren Voraus-
setzung aus, und beschrieb dieselbe demnach als eine fortgesetzte
Einigung des Getrennten durch die Liebe. Nach dem gleichen
Gesichtspunkt scheint er auch bei seinen Annahmen über die Ent-
stehung der lebenden Wesen verfahren zu sein: er liess die Theile
derselben erst vereinzelt entstehen, dann sich zwar vereinigen,
aber zu so unvollkommenen Verbindungen, dass diese sieh nicht
erhalten konnten, und erst zuletzt, bei zunehmender Herrschaft
der Liebe, zu vollkommeneren und lebensfähigen Bildungen. Da
aber die letzteren nicht aus den ersteren selbst sich entwickeln,
sondern erst nach dem Untergang derselben aus der Erde neu
hervorkommen sollten, so kann der Philosoph bei seiner
Schilderung nicht die Absicht gehabt haben, die Entstehung der
organischen Wesen im Sinne der heutigen Descendenztheorie
durch eine stufenweise Umbildung primitiverer Formen in höher-
stehende zu erklären.
Auch unter den übrigen vorsokratischen Philosophen ist
keiner, dem wir einen derartigen Versuch zuschreiben dürften,
und ebensowenig einer, bei dem sich von dem allgemeineren
Gedanken, die Zweckmässigkeit der Naturprodukte auf diese
Art ohne Beihülfe einer zweckthätigen Intelligenz begreiflich zu
machen, eine Spur fände. Selbst demjenigen unter den alten
. Naturforschern, bei dem wir ihn ani ehesten suchen möchten,
Demokrit von Abdera, scheint er durchaus fremd gewesen zu
46 Ueber die griechischen Vorgänger Darwin's.
sein. Bei der Vorliebe, mit der Demokrit auf die zweckmässige
Eimichtung und den Gebrauch der körperlichen Organe hin-
wies ^^), hätte er zwar alle Veranlassung gehabt, sich darüber
auszusprechen, wie diese Erscheinung vom Standpunkt seiner
mechanischen Physik aus zu erklären sei; aber dass er diess
wirklich gethan habe, wird nicht allein von keiner Seite be-
hauptet, sondern Aristoteles (De respir. 4. 472 a 2) sagt
auch ausdrücklich, er habe ebenso, wie die übrigen Physiker,
die Endursache überhaupt nicht berührt; was er doch kaum
hätte sagen können, wenn sich Demokrit mit der teleologischen
Naturansicht in der eben besprochenen Weise auseinandergesetzt
hätte. Andererseits stand einem Sokrates und Plato ihre
Teleologie viel zu fest, und das Interesse für die physikalische
Betrachtung der Dinge war bei ilmen zu schwach, als dass ihnen
das Bedenken überhaupt angestiegen wäre, ob zur Erklärung
der zweckmässigen Welteinrichtung die Annahme einer in der
Natur waltenden Zweckthätigkeit wirklich unerlässlich sei. Die
Wahrscheinlichkeit spricht daher entschieden für die Vermuthung,
erst Aristoteles selbst sei es gewesen, welcher die Frage auf-
warf (zu der ihm aber allerdings, auch nach Phys. n, 8. 199
b 5 ff. , die empedokleische Theorie die nächste Veranlassung
gegeben zu haben scheint): ob nicht auch ohne eine Zweck-
thätigkeit der Natur zweckmässig eingerichtete Naturprodukte
entstehen können, indem von den Wesen, welche die Natur-
kräfte in ihrem zufälligen Zusammentreffen hervorbrachten, nur
die lebensfähigen sich erhielten. Aristoteles selbst verneint
diese Frage. Jene Erklärung, bemerkt er a. a. 0. (198 b 33 ff.),
wäre nur dann zulässig, wenn die Zweckmässigkeit der Natur-
erzeugnisse blos als Ausnahmefall vorkäme; wo man dagegen
eine ausnahmslose oder doch ganz tiberwiegende Regelmässigkeit
der Erscheinungen wahrnehme, könne man dieselbe nicht auf
den Zufall zurückführen. Wenn in der Natur immer, falls kein
Hindemiss eintritt, von einem bestimmten Punkt aus in stetigem
Verlauf ein gewisses Ziel erreicht werde, so lasse sich dieses
nur als der Zweck der Thätigkeiten betrachten, durch die es
erreicht wird (a. a. 0. 199 b 14 ff., vgl. 199 a 8 ff.). So wenig
Ueber die griechischen Vorgänger Darwin's. 47
daher auch die Natur über ihre Mittel und Zwecke mit sich zu
Rathe gehe **), so lasse sich doch ihre Zweckthätigkeit nicht in
Abrede ziehen. Aber wenn Aristoteles auch f&r seine Person
nicht glaubt, die Zweckmässigkeit der Naturerzeugnisse sei nur
eine nicht beabsichtigte Folge natumothwendiger Wirkungen,
das Uebergewicht des zweckmässigen über das zweckwidrige
nur eine Folge von dem Untergang des letzteren, so scheint er
doch der erste gewesen zu sein, welcher den Gedanken, dass es
sich so verhalten könnte, aussprach, indem er die empedokleische
Darstellung auf ein allgemeines Princip zurückführte. Ebenso
verfahrt er ja seinen Vorgängern gegenüber nicht selten: was
sie in Beziehung auf bestimmte Fälle behaupten, aus dem hebt
er die Grundsätze heraus, die ihre Behauptung seiner Ansicht
nach voraussetzt; und er sieht so z. B. in Heraklit's Aeusserungen
über das Zusammensein des Entgegengesetzten und Anaxagoras'
Erzählung von der anfänglichen Mischung aller Stoffe so gut,
wie in dem protagorischen Ausspruch, der Mensch sei das Mass
aller Dinge, einen Zweifel gegen den Satz des Widerspruchs ^^),
in dem pythagoreischen Einfall, dass die Sonnenstäubchen Seelen
seien, die Auffassung der Seele als des bewegenden Princips ^®),
in einer Aeusserung Demokrit's, welche die Sinnesempfindung
mit zum Denken rechnete, die Gleichstellung von Geist und
Seele und die Behauptung, die Erscheinung sei das wahrhaft
Wirkliche ^^). Aber so wenig wir diesen Philosophen selbst
desshalb das zuschreiben dürfen, was Aristoteles aus ihren
Sätzen herausliest, ebensowenig dürfen wir bei Empedokles den
allgemeinen Gedanken suchen, den Aristoteles, ohne ihm den-
selben doch beizulegen, an seinen Annahmen über die Bildung
der lebenden Wesen erläutert.
Aristoteles selbst würde diesen Gedanken für die Erklärung
der organischen Natur auch dann nicht benützt haben, wenn er
grundsätzlich mit ihm einverstanden gewesen wäre, da seine
Lehre von der Ewigkeit der Welt eine zeitliche Entstehung der
Thiere und des Menschengeschlechts ausschloss. Aber auch die-
jenigen unter den nacharistotelischen Philosophen, denen er —
eben durch Aristoteles — bekannt war, haben merkwürdiger
48 Die griechischen Vorgänger Darwin's.
Weise filr die Beantwortung der Frage über die Entstehung der
lebenden Wesen keinen Gebrauch von ihm gemacht ; was wieder
deutlich beweist, dass diess auch von den griechischen Vor-
gängern, die sie benützten, keiner gethan hatte.
Der poetische Dollmetscher der epikureischen Physik, der
geistvolle Lucretius Carus, nimmt schon im ersten Buch
seines Lehrgedichts Gelegenheit, die mechanische Naturansicht
seiner Schule der teleologischen mit allem Nachdruck entgegen-
zuseteeji ; und hieflir ist ihm jene Vorstellung sehr willkommen,
die wir Aristoteles zwar nur versuchsweise und nur zum Zweck
ihrer Widerlegung entwickeln hörten, die aber Epikur, und
durch ihn Lucrez, gewiss keinem andern, als ihm, zu verdanken
hat. Die Atome, sagt er (I, 10. 21 ff.), haben sich ja nicht
ndt Vernunft geordnet oder sich über ihre Bewegungen vorher
verabredet; sondern weil sie von Ewigkeit her Anstösse aller
Art erhalten, durch alle möglichen Bewegungen und Vereinigungen
hindurchgehen, so kommen sie schliesslich auch in diejenigen Ver-
bindungen, aus denen unsere jetzige Welt besteht. Aber für die
Untersuchung über die Entstehung der lebenden Wesen
wird dieser Gedanke nicht weiter benützt. Es kommt Lucrez,
und kam somit auch Epikur nicht in den Sinn, diesen Vorgang?
der Begreiflichkeit dadurch näher zu bringen, dass er in eine
längere Reihe aufeinanderfolgender Vorgänge aufgelöst wurde,
von denen jeder frühere die folgenden erst möglich machen
sollte ; die Thiere und schliesslich den Menschen als das Produkt
einer natürlichen Entwicklung von unbestimmbarer Dauer zu
betrachten, die nur desshalb zu diesem Ergebniss hinführte,
weil es ihren anderen Erzeugnissen an den Bedingungen gefehlt
hatte, unter denen sie sich allein hätten erhalten und fortpflanzen
können. Sondern gerade so gut, wie bei einem Parmenides,
Demokiit und Anaxagoras, sollen die Organismen unmittelbar
aus der Erde hervorkommen. Die Gräser und Bäume, sagt
Lucrez (V, 780 ff.), seien aus ihr hervorgewachsen, wie aus dem
Leibe der Thiere die Federn, Haare und Borsten. Die lebenden
Wesen ihrerseits können freilich nicht vom Himmel gefallen,
und die Landthiere auch nicht (wie Anaximander gewollt hatte)
Ueber die griechischen Vorgänger Darwin's. 49
im Meer entstanden sein. Aber wenn noch jetzt manche Thiere
unter dem Einfluss des Regens und der Sonnenhitze in der
Erde entstehen, so habe diese in frischer Jugendkraft noch
grössere und in grösserer Anzahl hervorbringen können. Zuerst
seien so die Vögel, von der Frühlingswärme ausgebrütet, wie
jetzt noch die Grillen, aus Eiern ausgeschlüpft; dann seien die
übrigen Thiere aus dem Schosse der Erde hervorgegangen,
indem zuerst uterusartige Erhöhungen aus ihr hervorwuchsen,
und aus diesen dann die Kinder, nachdem sie in ihnen gereift
waren, herauskamen. Und in analoger Weise soll auch ftlr
die Ernährung dieser kleinen Erdgeborenen durch eine Art
Milch gesorgt worden sein, die an einzelnen Stellen aus der
Erde hervorgequollen sei. Nur als ein nachträglicher Zusatz,
nicht als ein Mittel , um die Entstehung der Menschen und
Thiere zu erklären, wird dieser Darstellung, die unverkennbar
Epikur's .ursprüngliche Annahmen wiedergibt, die vielleicht
gleichfalls schon von Epikur aus Empedokles entlehnte Be-
merkung beigefügt: es seien damals auch mancherlei Ungeheuer
und Missgeburten aller Art entstanden, die aber bald wieder
imtergiengen, weil sie nicht im Stande waren, sich zu erhalten
und fortzupflanzen; wobei es aber der epikureische Freigeist
nicht unterlässt, die naheliegende Vergleichung dieser urwelt-
lichen Ungeheuer mit den Centauren und Chimären der Mytho-
logie ausdrücklich durch den Nachweis abzuwehren, dass es
solche Geschöpfe, wie diese, überhaupt nie gegeben haben könne.
Etwas den heutigen Theorieen analoges wird man in den Ver-
muthungen, mit denen sich die Phantasie Epikur's und seiner
Schüler den uralten Glauben an den Hervorgang der Menschen
aus der Erde näher ausmalte, nicht suchen dürfen; und es wäre
auch wirklich merkwürdig, wenn ein irgend erheblicher Beitrag
zu einer der schwierigsten und verwickeltsten naturwissenschaft-
lichen Untersuchungen von einer Schule ausgegangen wäre, deren
Stifter es an naturwissenschaftlichen Kenntnissen und an dem
Sinn für wirkliche Naturforschung in so hohem Grad fehlte, wie
Epikur. Nahm doch dieser Philosoph, beispielsweise, an der
Vorstellung, die Sonne sei nicht grösser, als sie uns erscheint.
Zeller, Vorträge und Abhandl. 4
50 Ueber die griechischen Vorgänger Darwin's.
keinen Anstoss, und bei der Naturerklärung liess er seinen
Lesern zwischen allen mögliehen, auch den bodenlosesten Hypo-
thesen die Wahl frei, wenn sie nur überhaupt Aussicht gaben,
das zu leisten, um was es dem Aufklärer allein zu thun war,
die Beseitigung aller übernatürlichen Einflüsse. Aber auch den
allgemeinen Gedanken, in dem sich die neueste Theorie mit
der epikureischen Philosophie berührt, den Satz, dass unter
einer grossen Anzahl zufälliger Stoffverbindungen auch zweck-
mässige und lebensfähige vorkommen, und nur diese sich er-
halten werden — auch diesen Gedanken hat nicht Epikur, sondern
Aristoteles zuerst, imd er allein in dieser Bestimmtheit ausge-
sprochen ; imd wenn Aristoteles eine Anregung zu demselben in
der empedokleischen Physik fand, so musste er hier gerade noch
mehr, als in anderen Fällen, das, „was Empedokles stammelt"
(Metaph. I, 4. 985 a 5), um es für sich verwenden zu können,
erst auf klare Begriffe zurückführen und in die Form allgemeiner
Grundsätze erheben.
Anmerknngeii.
1. Ein merkwürdiges Beispiel dieser Art gibt Cicero Deor. N. II, 37, 93
in der aus stoischer Quelle, zunächst wohl Panätius, geflossenen (schon Phil. d.
Gr. ni, a, 135, 5 von mir berührten) Bemerkung: dass die Welt aus einer
zufälligen Verbindung der Atome entstanden sein sollte, sei gerade so un-
denkbar, als dass aus einem Haufen Metallbuchstaben, die man auf die Erde
schütte, ein Buch werde. Wenn der Urheber dieser Vergleichung sich sagte,
dass man aus Metallbuchstaben ein Buch herstellen könnte, warum kam
nicht ihm oder einem seiner Leser der Gedanke, wirklich eines auf diesem
Weg herzustellen und dann abzudrucken?
2. Diese Annahme gibt wenigstens die beste Erklärung für die frag-
mentarischen Angaben unserer Berichte : „dass die lebenden Wesen entstanden
seien durch eine von der Sonne bewirkte Ausdünstung {f^ttTfAiCofiivu vno
Tov r^XCov HiPPOLYTüS Kefut. haer. I, 6, 6) und „dass die ersten lebenden Wesen
im Feuchten entstanden seien" (ps. plutarchische Placita V, 19, 4, wo aber im
folgenden allgemein von ihnen gesagt wird, was nur von den Menschen gilt),
wenn wir damit das über die Entstehung der Menschen berichtete verbinden;
denn wenn diese desshalb im Wasser entstehen und heranwachsen mussten,
weil sie allein nicht sofort im Stande gewesen wären, sich am Lande fort-
zubringen (vgl. folg. Anm.), so setzt diess voraus, dass die übrigen Land-
thiere nicht im Wasser entstanden, also von der Sonne aus dem Erdschlamm
ausgebrütet waren.
Ueber die griechischen Vorgänger Darwin's. 51
3. Plut. qu. conv. Vin, 8, 4. Ps. Flut. b. Eus. praep. ev. I, 8, 3.
Plac V, 19, 4. HiPPOL. a. a. 0. Wenn die erste von diesen Stellen
nach unserem Text Anaximander behaupten lässt: h tx^vaiv tyyev^a&ai
10 nQtaJov avS^Qwnovg xai rgatf^vrag tjorreg ol nalntol xal yevofiivovs
l/MVovg iavTols ßorjff^tiv fxßlTid-rjvai TTivixaOra xal yrjg Xaß^ad-at^ SO muss
das naXaioi, welches keinen erträglichen Sinn gibt, aus dem Kamen eines
Thiers verschrieben sein, das anfangs im Wasser lebt, und wenn es heran-
gewachsen ist, an's Land kommt, und da liegt wohl ßaTQu^oi am nächsten.
4. Teichmülleb, Studien zur Geschichte der Begriffe S. 64, dem
meine Phil. d. Gr. I*, 210, 1 hierin etwas zu viel einräumt.
5. Vgl. Anm. 2.
6. Plac. V, 26, 4 vgl. Abist. Phys. U, 8. 199 b 10.
7. Ob Empedokles das letztere auch in Betreff der Pflanzen annahm,
ist trotz der Angabe Plac. V , 19, 5 zweifelhaft, da diese Vorstellung weder
Plac. V, 26, 4 noch bei LucREZ V, 780 ff. 834 ff. vorkonmit.
8. Emp. V. 242—261 St, 305—317 M. Weitere Belege gibt meine
Phil. d. Gr. I, 718 f., deren Darstellung durch die gegenwärtige einige Be-
richtigungen erhält
9. Ebd. V. 263—271 (318—327).
10. V, 19, 5: ^ Efinidoxliig, Tag nQforug yiviang tcüv (^aiv xal yurwr
firjSttfxuig oXoxlrjQovg ysv^a&aif aav[A(fvi(Si (nicht zusammengewachsen) Sk
folg fioQioig Suievyfiivag* rag dl devr^gag avfKpvofjL^vtav TtSv {nSQaiv
fidtoXoifttveig' rag dk tgCxag rtov dlXrjXoifvaiv' rag &e Tiiagrag ovxin ix
Tüiv ofioCfov, olov ix yrjg xal vSarog, dXXä J"*' aXXrjXtov tj&ri U. 8. w. Wenn
man hier die y^viaeig €ld(oXo(fav€ig von solchen versteht, die aussehen wie
Bilder welchen keine Wirklichkeit entspricht, von phantastischen Gebilden,
und statt des sinnlosen dXXriXo(^vwv (die yiv^aig dt* dXX'^Xatv gehört ja
erst der vierten Beihe an) aus Emp. V. 265 {ov).o<pv€Tg fikv ngioTa rvnoi
X^ovog i^ttvireXXov) mit Kabsten und DiELS ovXo(fv(ov setzt, so ent-
spricht die Angabe genau dem, was sich aus den empedokleischen Bruch-
stücken als das wahrscheinlichste ergibt.
11. Lange Gesch. d. Mat I, 23.
11. Vgl. Phil. d. Gr. I, 919 f.
13. Ebd. I, 806 f.
14. Hierüber a. a. 0. 199 b 26 ff. vgl. Phil. d. Gr. ü, b, 427, 1.
15. Phil. d. Gr. I, 600, 2. 911, 1. 982 unt
16. De an. I, 2. 404 a 16.
17. Metaph. IV, 5. 1009 b 12. 28. De an. I, 2. 404 a 27; vgl. Phil,
d. Gr. I, 822.
IIL
Eine heidnische Apokalypse.
(Erschien in englischer Uebersetzung in der Monatschrift „Nineteenth
Century" April 1882.)
Unter dem Namen der apokalyptischen Literatur pflegt man
diejenigen Schriften zusammenzufassen, welche der Menschheit
als Abschluss ihrer Geschichte ein goldenes Zeitalter verheissen,
das durch ein Eingreifen der Gottheit in den Weltlauf, eine
durchgreifende Umwälzung des gegenwärtigen Weltzustandes,
herbeigeführt werden soll. Der Name stammt aus der Apokalypse
des Johannes ; der thatsächliche Stammvater der christlichen wie
der jüdischen Apokalyptik ist aber das Buch Daniel ; diese merk-
würdige prophetische Schrift, deren angeblicher Verfasser schon
zu Ezechiels Zeit als ein Frommer der Vorzeit von der hebräischen
Sage gefeiert war (Ezech. c. 14, 14. 20. c. 28, 3), daim aber,
in den Tagen der Makkabäerkämpfe , an den Hof des Nebu-
kadnezar und Cyrus versetzt und zum Urheber von Weissagungen
gemacht wurde, welche dazu bestimmt waren, den Muth der
Kämpfenden durch den Ausblick auf den herrlichen Ausgang
des Kampfes zur äussersten Ausdauer anzufeuern. Denn jetzt
erst wird das Schicksal der jüdischen Nation , auf das sich die
messianische Weissagung seiner Propheten bis dahin beschränkt
hatte, mit dem Schicksal des ganzen Menschengeschlechts in
Verbindung gebracht ; die Geschichte der Menschheit soll zugleich
mit der des israelitischen Volkes in der ewigen Herrschaft der
Heiligen ihren Abschluss finden, und diese grosse Katastrophe
soll schon in der nächsten Zukunft bevorstehen: unmittelbar auf
die Religionsverfolgung des Antiochus Epiphanes soll der Eintritt
Eine heidnische Apokalypse. 53
des Gottesreichs folgen. Es ist bekannt, welcher Nachwuchs
aus der apokalyptischen Weissagung Daniels noch auf jüdischem
Boden in den jüdischen Stücken der sibyllinischen Orakel, dem
Buch Henoch und dem vierten Buch Esra entsprungen ist, welche
umfassende Literatur sich an die Apokalypse des Johannes, theils
in der Gestalt von Erklärungen dieses Räthselbuchs, theils in
der neuer selbständiger Offenbarungen angeschlossen hat; und
wie jede von diesen apokalyptischen Schriften, nach dem Vorgang
ihres jüdischen und ihres christlichen Vorbilds, das Ende der
gegenwärtigen Welt schon für die nächste Zeit nach ihrer eigenen
Abfassung in Aussicht nahm. Aber auch den heidnischen Völkern
des Alterthums war die allgemeine Voraussetzung dieser apo-
kalyptischen Prophetie keineswegs fremd. Auch bei ihnen findet
sich der Glaube an eine grosse Revolution des ganzen Weltzu-
standes, von der man auch wohl erwartete, dass durch sie allem
Elend und Verderben der Menschen gesteuert und eine Zeit
dauernder Glückseligkeit heraufgeführt werden werde ; und wenn
dieser Glaube zunächst nur eine theoretische Ueberzeugung, ein
theologisches oder philosophisches Dogma war, von dem keine
Anwendung auf die Zustände einer bestimmten Zeit gemacht wurde,
so war doch die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, dass auch die
bestimmtere Erwartung des nahe bevorstehenden Eintritts jener
Umwälzung, des nahen Abschlusses der Weltgeschichte sich
bildete, wenn sich die Verhältnisse irgendwo so gestalteten, dass
sie die Sehnsucht nach einer so plötzlichen und durchgreifenden
Veränderung zu erwecken geeignet waren.
Schon die Religion Zoroasters verhiess ihren Bekennen! :
wenn der Kampf des Guten mit dem Bösen, des Ormuzd mit
Ahriman, die ihm verordnete Zeit gewährt habe, werde schliess-
lich das Böse und sein Urheber vernichtet werden, und auf
der neu gestalteten Erde werden die Menschen, durch Eine
Sprache verbunden, keiner Nahrung bedürftig und keinen Schatten
werfend, in seligem Frieden zusammenwohnen. Von einer anderen
Seite her drang der Glaube an ein dereinstiges Weltende sehr
frühe in die griechische Philosophie ein. Schon von einigen der
ältesten unter den jonischen Philosophen, Anaximander und
54 ^i^6 heidnische Apokalypse.
Anaximenes , wird uns berichtet, dass sie die Welt periodisch
aus dem Urstoff hervorgehen und wieder in ihn zurückkehren
Hessen ; ganz besonders aber ist es Heraklitus von Ephesus, der
sich (um 480 v. Chr.) durch die Behauptung bekannt gemacht
hat, dass das Urfeuer, oder die Gottheit, die Welt abwechslungs-
weise aus sich hervorgehen lasse und durch einen Weltbrand
wieder in sich zurücknehme. Theilweise damit übereinstimmend
lehrte bald nach ihm Empedokles, die Geschichte, der Welt be-
wege sich zwischen zwei Polen, der vollkommenen Einigung
aller Elemente durch die Liebe und ihrer vollständigen Trennung
durch den Hass, nur in den Zwischenperioden zwischen diesen
beiden Zuständen gebe es Welten, wie die unsrige, von denen
demnach jede blos eine Zeit lang bestehen soll ; während gleich-
zeitig Leucippus und nach ihm sein Schüler Demokritus jeder
von den unzähligen Welten, die sich aus den Atomen bilden
sollten, nur eine begrenzte Dauer zuschrieb. Plato und Aristoteles
allerdings wollten von einem Weltende nichts hören, und der
letztere besonders hat die Anfangs- und Endlosigkeit unseres
Weltgebäudes so nachdrücklich vertheidigt, dass sie durch ihn
eine weite Verbreitung gewann und sich bis in die letzten
Jahrhunderte des Alterthums erhielt. (Vgl. S. 1 ff.) Da-
gegen kehrten die Stoiker bei diesem wie bei anderen Punkten
ihrer Physik zu Heraklit zurück, und nur einzelne jüngere Mit-
glieder dieser Schule sind es, die uns seit der Mitte des
zweiten Jahrhunderts v. Chr. als Gegner der Weltverbrennung
bekannt sind.
Die Lehre der Philosophen von einem dereinstigen Welt-
untergang hatte nun freilich eine andere Bedeutung, als die
apokalyptischen Weissagungen über das Ende dieser Welt oder
des gegenwärtigen Weltzustandes. Die letzteren haben eine
durchaus praktische Abzweckung: diejenigen, an die sie sich
wenden, sollen durch den Hinblick auf das Ende aller Dinge
theils unter Leiden und Verfolgungen getröstet, theils zur
würdigen Vorbereitung auf diese letzte Entscheidung, zum uner-
schütterlichen Ausharren in den bevorstehenden Prüfungen er-
muntert, mit jenem begeisterten Kampfesmuth, jener rücksichtslosen
Eine heidnische Apokalypse. 55
Aufopferungsfähigkeit erfüllt werden, welche aus dem Glauben
an den unbedingt sicheren Sieg, den unmittelbar bevorstehenden
tausendfachen Ersatz aller Opfer entspringt. Gerade bei den
grössten und einflussreichsten unter unsem Apokalypsen, der des
Daniel und der des Johannes, ist diese praktische Abzweckung
mit Händen zu greifen. Diese Weissagungen sind nicht müssige
Spekulationen über die Zukunft, sondern höchst wirkungsvolle,
auf die nächste Gegenwart berechnete, von tiefer Begeisterung
erfüllte Aufrufe zu heldenniüthiger Tapferkeit im Streit für den
Glauben. Ebendesshalb halten auch alle diese Schriften das Ende
der gegenwärtigen Weltordnung für unmittelbar bevorstehend.
Ihie angeblichen Verfasser allerdings, einen Daniel oder eine
Sibylle, lassen viele von ihnen lange Reihen geschichtlicher
Thatsachen vorhersagen; aber ihre wirklichen Verfasser
glauben ohne Ausnahme, dass sie selbst in der letzten Zeit leben
imd höchstens durch ein paar Jahre noch von der Schlusskata-
strophe getrennt seien. Denn nur dann hat der Glaube an ein
Weltende praktische Bedeutung, wenn man es selbst noch zu
erleben erwartet; nimmt man es dagegen erst für die Zeit nach
dem eigenen Tode in Aussicht, so ist ja durch diesen für jeden
die Entscheidung schon gefallen, ehe es kommt, und wenn ihm
die Aufforderung entgegentritt, sich auf das Ende vorzubereiten,
wird er doch dabei nur an sein eigenes Ende denken können,
nicht an das des Weltganzen, welches für ihn selbst keine weiteren
Folgen nach sich zieht. Den philosophischen Theorieen über
einen künftigen Weltuntergang fehlt nicht blos diese Bestimmung,
sondern die praktische Tendenz und die praktischen Motive der
apokalyptischen Literatur sind ihnen überhaupt fremd. Es sind
physikalische Annahmen, aus rein wissenschaftlichen Erwägungen
hervorgegangen, die mit den religiösen und politischen Interessen
der Menschen, mit der Frage, ob ihnen die gegebenen Zustände
zusagen oder nicht, mit ihren Holfiiungen und ihren Verpflichtungen
nicht mehr zu thun haben, als diess etwa bei der Vermuthung
eines dereinstigen Aufhörens der Bewegung der Fall ist, die
neuere Naturforscher aus der mechanischen Wärmetheorie ab-
geleitet haben.
56 ^^e heidnische Apokalypse.
Nichtsdestoweniger konnte auch diesen naturwissenschaft-
lichen Annahmen eine Wendung gegeben werden, durch die sie
den apokalyptischen Erwartungen der Juden und Christen näher
traten. Man brauchte nur das, was die Philosophen aus einer
Natumothwendigkeit ableiteten, unter den teleologischen Gesichts-
punkt zu stellen und mit dem moralischen Zustand der Menschen
in Verbindung zu bringen, so erhielt man den Satz: das Ende
des gegenwärtigen Weltzustandes werde dann hereinbrechen,
wenn derselbe so unerträglich geworden sei, dass sich dem all-
gemeinen Verderben nur noch durch eine Vertilgung der sündigen
Menschheit steuern, nur auf diesem Weg eine durchgreifende
Umwandlung zum Besseren herbeiführen lasse ; und wenn die ge-
gebenen Zustände irgend einmal so unheilbar erschienen, so hatte
man dann auch nicht mehr weit zu der Erwartung, welche den
wesentlichen Inhalt aller apokalyptischen Prophetie bildet, dass
der Untergang und die Neubildung der jetzigen Welt schon in
der nächsten Zeit bevorstehe. Diese Wendung begegnet uns
nun auch wirklich in der stoischen Schule. Diese Schule machte
es sich bekanntlich in ähnlicher Weise, wie die englischen und
deutschen Physikotheologen des 18. Jahrhunderts, zur Aufgabe,
in der ganzen Natur die Fürsorge der Gottheit für die Menschen
nachzuweisen, auf deren Wohl alles in der Welteinrichtung be-
rechnet sei; und ebenso machte sie es nun auch in dem vor-
liegenden Falle. Neben der Verbrennung, die" das Ende jeder
Welt und die Entstehung einer neuen herbeiführen sollte, nahmen
die Stoiker auch das Eintreten allgemeiner Diluvien an, welche
ebenso den Winter jeder Weltperiode bilden sollten, wie die
Ekpyrosis ihren Sommer; und wenn die letztere das ganze
Weltgebäude mit allem, was darin ist, verzehren sollte, so wurde
von dem Diluvium erwartet, dass es wenigstens die ganze Erde
überfluthe, und alle lebenden Wesen auf derselben vertilge.
Von dieser Stindfluth nun sagt Senecä (nat. qu. m, 28 f.),
sie werde eintreten, „wenn es Gott für gut findet, dass ein
Neues beginne und dem Alten ein Ende gemacht werde", „wenn
die Zeit da ist, wo die Menschheit von Grund aus vertilgt
werden soll, um im Stande der Unschuld neu erzeugt zu werden,
Eine heidnische Apokalypse. 57
dass niemand ttbrig bleibt, der zum Bösen anleiten kann*';
wenn „das Gericht über die Menschheit vollendet sei, und auch
die Thiere vertilgt seien, deren Gemüthsart die Menschen an«
genommen hatten", dann werde den Fluthen wieder ein Ziel
gesetzt, die alte Weltordnung wiederhergestellt, und der Erde
ein neues Geschlecht von Menschen geschenkt werden, die von
keiner Schuld wissen, deren Unschuld aber freilich, wie der
Philosoph wehmtithig beifügt, auch nicht lange dauern werde.
Hier haben wir nun wirklich eines von den Motiven, auf denen
auch die jüdische und die christliche Apokalyptik beruht: die
Annahme, dass die Menschheit zeitweise in ein Verderben ver-
sinke, aus dem sie auch von der Gottheit nur durch eine Ver-
änderung des ganzen Weltzustandes gerettet werden könne. Und
wenn wir hören, wie Seneca über den sittlichen Zustand seines
Zeitalters urtheilt, könnte es uns kaum überraschen, auch die
weitere Ueberzeugung bei ihm zu finden, dass eben jetzt ein
so tiefes Verderben eingetreten sei, und dass demnach der
Untergang der sündigen Menschheit unmittelbar bevorstehe.
Wenn du auf das Forum oder in den Circus gehst, sagt er (De
ira n, 8), und du betrachtest die Volksmassen, die sich da
drangen, so denke, es seien hier ebensoviele Laster als Menschen.
Tragen sie auch kein Kriegskleid, so lebt doch keiner mit dem
andern in Frieden. Jeder sucht nur durch den Schaden des
andern zu gewinnen; um jeden kleinsten Genuss oder Vortheil
dürfte, wenn es auf sie ankäme, alles zu Grunde gehen. Es
ist eine Versammlung von reissenden Thieren, die sich von
allen andern nur dadurch unterscheiden, dass diese wenigstens
Ihresgleichen verschonen, während sich die Menschen unter-
einander selbst verschlingen. In wildem Wetteifer wirft man
sich auf das Schlechte; jeden Tag wächst die Lust an der
Sünde, nimmt die Scheu vor ihr ab. Das Laster hält sich nicht
mehr in der Verborgenheit, es geht vor aller Augen; Recht-
schafifenheit findet sich nicht etwa nur selten, sondern überhaupt
nicht. Liest man diese und ähnliche Schilderungen bei Seneca,
so möchte man allerdings glauben, er hätte seine Zeit für so
unverbesserlich halten müssen, dass nur jene von ihm in Aussicht
58 Eine heidnische Apokalypse.
genommene Sündfluth eine Heilung bringen könne. Indessen
ist diess doch nicht seine Meinung. Es sind weniger die Laster
einer bestimmten geschichtlichen Periode, als die allgemeinen
Fehler der menschlichen Natur, gegen die er seine Vorwürfe
richtet. „Wir alle haben gefehlt," ruft er aus (De dement. I,
6, 3), „und wir werden fehlen bis zum Ende unseres Lebens";
„einer drängt den andern zum Bösen'' (ep. 41, 9); „man kann
keinem einzelnen zürnen, das ganze Menschengeschlecht bedarf
der Verzeihung"; „es ist eine Bedingung unseres Daseins, dass
unsere Seele ebenso vielen Krankheiten unterliegt, wie unser
Leib" ; „kein Verständiger zürnt der Natur" ; „über die Schlechtig-
keit der Menschen ausser sich zu gerathen, wäre so klug, als
sich zu wundem, dass keine Aepfel an den Domen wachsen*'
(De ira II, 10). Wer sich in dieser Weise in die Verderbtheit
der Menschen als etwas naturnothwendiges ergibt, in dem kann
nicht wohl der Wunsch oder die Holfiiung auftreten, dass eine
plötzliche Katastrophe derselben für immer ein Ende mache.
Wenn auch alle Sünder auf einmal vertilgt' würden, wäre es die
Sünde selbst darum noch lange nicht, da sie viel zu tief in
der menschlichen Natur begründet ist, um nicht sofort wieder
zur Herrschaft zu gelangen. Und wir haben ja auch gehört,
dass unser Philosoph selbst von der Sündfluth, die er w^eissagt,
keine dauemde Bessemng der menschlichen Zustände erwartet.
Dass vollends dem Streite des Guten mit dem Bösen irgend
einmal für immer ein Ende gemacht werden werde, konnte er
als Stoiker schon desshalb nicht annehmen, weil nach stoischer
Lehre auf jede Weltverbrennung die Bildung einer neuen Welt
folgt, die allen früheren so ununterscheidbar ähnlich sein soll,
dass alle Personen, Dinge und Vorgänge in ihr bis auf's einzelste
hinaus genau so wiederkehi-en , wie sie in jenen waren. Der
Glaube an die N ä h e des Weltendes, auf welchem die praktische
Wirkung und Bedeutung aller apokalyptischen Erwartungen be-
mht, musste ohnediess den römischen und griechischen Zeit-
genossen Seneca's auch dann durchaus ferne liegen , wenn sie
einen dereinstigen Weltuntergang in thesi annahmen. Denn
dieser Glaube hat sich immer nur bei solchen Parteien gebildet,
Eine heidnische Apokalypse. 59
die sich so schwer bedrückt iind bedroht fühlten, dass sie an der
Gegenwart verzweifelten und nur von einem wunderbaren Ein-
greifen der Gottheit noch eine Rettung zu hoffen wagten. In
diesem Zustand befanden sich aber die Vertreter der antiken
Bildung zu Seneca's Zeit noch lange nicht. Den Juden mochte
während des Verzweiflungskampfs der makkabäischen Erhebung,
und auch später noch unter dem Drucke der Fremdhen-schaft, den
Christen unter dem firischen Eindruck des Schreckens, welchen die
neronische Christenverfolgung und bald darauf die Erwartung
der Wiederkehr Nero's verbreitete, ihre Lage so holfiiungslos
erscheinen, dass sie den Zeitpunkt kaum erwarten konnten, in
dem der Herr vom Himmel herabkommen sollte, um dem Reich
ihrer Verfolger ein Ende mit Schrecken zu bereiten: ein Römer
oder Grieche jener Zeit hatte auf seinem Standpunkt keinen
Gnmd, die bestehenden Verhältnisse, wie vieles ihm auch
daran missfallen mochte, für unverbesserlich genug zu halten,
um nur von einer vollständigen Umwälzimg des ganzen Welt-
zustandes Abhülfe zu hoffen. Erst geraume Zeit später, als der
Verfall der alten Kultur viel weiter fortgeschritten war und in
dem weltgeschichtlichen Kampfe des Christenthums mit den
polytheistischen Volksreligionen der Sieg sich, nach jahrhunderte-
langem Ringen, auf die Seite des Christenthums neigte, begegnet
uns in einer von den hermetischen Schriften^) eine Dar-
stellung, die sich ihrem Inhalt nach mit den jüdischen und
chrisüicljen Apokalypsen vergleichen lässt.
Mit dem Namen ihres Hermes bezeichneten die Griechen
den ägyptischen Gott Thot oder Tehuti, welcher nicht blos als
Erfinder der Schrift und vieler anderen Künste, sondern auch
als der Urheber der heiligen Literatur der Aegypter gefeiert
vrurde. In der Folge, als man die Götter des Volks nach
Euemerus' Vorgang zu blos menschlichen Grössen, zu Königen
und Weisen der Vorzeit herabzusetzen begann, wurde auch der
ägyptische Hermes zu einem Menschen gemacht, zugleich aber
mit dem Beinamen des dreimal Grossen, „Trismegistos", ausge-
zeichnet, und es wurden ihm unter diesem Namen viele Schriften
beigelegt, von denen wir noch eine Anzahl, theils vollständig
60 Eine heidnische Apokalypse.
theils in Bruchstücken, besitzen. Diese jüngere hermetische
Literatur entstand zwar, wie wir annehmen dürfen, ebenso, wie
die ältei-e, in Aegypten; aber während die alten „Bücher des
Thot", die heiligen Schriften der ägyptischen Priester, jedenfalls
viele Jahrhunderte vor der macedonischen Eroberung in der
damaligen Landessprache verfasst wurden, waren die späteren
hermetischen Schriften, so weit wir irgend von ihnen wissen,
von Hause aus griechisch geschrieben, und wenn auch die Ab-
fassung der verschiedenen Stücke der Zeit nach weit auseinander-
liegen mag, scheinen sie doch sänmatlich erst der christlichen
Periode anzugehören, da uns die erste, noch unsichere, Spur
solcher Schriftwerke bei Plutarch (De Is. et Os. 61), die nächste
bei Tertullian (De an. 2. 33) begegnet. Ihre Verfasser waren
wohl durchweg, oder doch überwiegend, Aegypter, aber solche,
welche sich mit der griechischen Philosophie der Zeit bekannt
gemacht und ihre Ideen sich angeeignet hatten; so dass uns in
dieser ägyptisch-hellenistischen Literatur eine analoge Erscheinung
vorliegt, wie in der gleichzeitigen und früheren jüdisch-hellenisti-
schen: die Ansichten, welche sich den Urhebern derselben aus
einer Verknüpfung orientalischer Traditionen mit griechischer
Philosophie ergeben hatten, sollen durch die von der nationalen
Religion geheiligten Auktoritäten empfohlen werden. Von den
noch vorhandenen hermetischen Schriften scheint ein erheblicher
Theil gegen das Ende des dritten Jahrhunderts nach Christus
verfasst zu sein; und eine von den letzteren ist es, in der sich
jene merkwürdige Weissagung befindet, welche wir der jüdischen
und christlichen Apokalyptik als ein heidnisches Gegenbüd der-
selben zur Seite stellen können.
Der Titel dieser Schrift lautete in ihrem griechischen Original:
„Die vollkommene Rede". Sie ist uns jedoch, abgesehen von
ein paar kleinen Bruchstücken, nur in einer lateinischen Ueber-
setzung überliefert, welche unter die Werke des Apulejus ge-
rathen ist, wiewohl sie nicht vor dem 4. Jahrhundert unserer
Zeitrechnung verfasst sein kann. Hier gibt nun der angebliche
Hermes Trismegistus seinem Sohn Asklepius c. 24 — 26 Auf-
schlüsse über die Zukunft, aus denen ich die Hauptstellen in
Eine heidnische Apokalypse. 61
etwas freierer Uebersetzung mittheilen will. „Es wird eine
Zeit kommen," sagt er, „in der es scheinen wird, dass Aegypten
die Gottheit vergeblich mit frommem Eifer verehrt habe." „Die
Gottheit wird sich von der Erde in den Himmel zurückziehen,
und das Land Aegypten, welches der Sitz der Götter war, wird
ihrer Gegenwart beraubt sein;" „dieses heilige Land, der Sitz
der Tempel und Heiligthümer, wird voll von Gräbern und Todten
(Kapellen und Beliquien christlicher Märtyrer) sein. Aegypten,
Aegypten, von deiner Gottesverehrung wird nichts übrig bleiben,
als Gerüchte, die den Nachkommen unglaublich erscheinen, und
die Inschriften in den Steinen, die von deiner Frömmigkeit er*
zählen. Scy then und Inder und ähnliche Barbaren werden Aegypten
bewohnen. Denn die Gottheit wird in den Himmel zurückkehren,
die Menschen werden insgesammt sterben, und Aegypten wird
so der Götter und Menschen beraubt und verlassen sein. Du, o
heiliger Fluss, wirst von Blutströmen erfüllt sein bis an den
Rand; du wirst deine Ufer durchbrechen und die Zahl der
Gräber wird weit grösser sein, als die der Lebenden, und wer
noch übrig bleibt, den wird man nui* noch an seiner Sprache
als Aegypter erkennen, sein Thun dagegen ist das eines Fremden."
„Aegypten, einst das heiligste und gottesfürchtigste Land, die
Lehrerin der Frömmigkeit, wird ein Bild der äussersten Ruch-
losigkeit sein ; die Menschen werden aufhören, die Welt zu ver-
ehren und zu bewundem, dieses unveränderliche Werk Gottes,
diese herrliche Darstellung des Guten, mit den mannigfaltigsten
Bildern geschmückt, das Werkzeug des Willens der Gottheit,
die ihrem Werke neidlos zur Seite steht, die vielgestaltige
Einheit von allem, dessen Anschauung zu Verehrung, Preis und
Liebe auffordert. Man wird die Finstemiss dem Lichte vor-
ziehen, den Tod für besser halten, als das Leben; niemand
wird ehrfurchtsvoll zum Himmel aufblicket, den Frommen wird
man einen Thoren, den Gottlosen weise nennen ; der Wahnsinnige
wird für einen Helden, der Schlechteste für den Besten gehalten *
werden." „Neue Rechte und Gesetze werden eingeführt werden,
nichts, was heilig oder fromm, was des Himmels und der
himmlischen Mächte würdig wäre, wird man hören oder glauben.
62 Eine heidnische Apokalj-pse.
Die Götter nehmen Abschied von den Menschen, nur die bösen
Geister (unser Verfasser nennt sie „die verderblichen Engel")
bleiben zurück, um die Menschen zu Krieg, Raub und Betmg
und zu allem dem aufzustacheln, was der Natur der Seelen
widerstreitet. Dann mri die Erde erbeben, das Meer wird
nicht mehr von Schiffen befahren werden, der Himmel und der
Lauf der Gestirne sich nicht gleich bleiben; alle göttlichen
Stimmen werden für immer vei-stmumen, die Erzeugnisse des
Feldes werden verderben, die Erde wird aufhören, Frucht zu
biingen, selbst die Luft ^ird in dmckender Schwüle dahinsiechen.
So Tsird das Greisenalter über die Welt kommen: Gottlosigkeit,
Unordnung, Nichtachtung alles Guten." (Das folgende findet
sich griechisch bei Lactantius Listit. VII, 18.) „Wenn aber
dieses also geschieht, o Asklepius, dann wird der Herr und
Vater und Gott, der Schöpfer des ersten und einen Gottes^),
sein Auge diesen Dingen zuwenden und durch seinen Willen
seine Welt wieder zu ihrem ursprünglichen. Zustand zurück-
führen, indem er das Gute der Unordnung entgegenstemmt, von
der Verirrung zurückruft und die Schlechtigkeit austilgt, bald
durch Wasserfluthen , mit denen er die Erde überschwemmt,
bald durch Feuei^luthen, mit denen er sie ausbrennt, bisweilen
auch dm'ch Kriege imd Seuchen, womit er sie bedrängt; auf
dass auch der Welt wieder Anbetung und Bewunderung gezollt,
und der Gott, der dieses herrliche Werk geschaffen und wieder-
hergestellt hat , von den Menschen, deren es dann wieder eine
grosse Anzahl geben wird, mit Lob und Preis gefeiert werde."
Diese Daretellung ist nun, wie bemerkt, desswegen merk-
würdig für uns, weil sie das einzige uns bekannte Beispiel einer
auf heidnischem Boden entstandenen apokalyptischen Weissagung
ist. Denn diejenige des angeblichen Mederkönigs Hystaspes,
welcher nach Lactantius Instit. VH, 15. 18 in grauer Vorzeit für
^ das Ende der Tage nicht allein den dereinstigen Untergang des
Römen-eichs, sondern auch ein Einschreiten des Zeus gegen das
Verderben der Menschen und eine Vertilgung aller Gottlosen
vorhergesagt hatte — diese Weissagung stammte doch wohl von
einem Juden oder Christen her, wenn sie sich auch, der von
Eine heidnische Apokalypse. 63
ihr vorgenommenen Maske zuliebe, des heidnischen Gottesnamens
bediente. Nun ist es allerdings wohl möglich, dass der Verfasser
des „Äsklepius" durch jüdische und christliche Weissagungen,
wie etwa die der sibyllinischen Orakel, veranlasst worden war,
die Rettung seines Glaubens in ähnlicher Weise, wie diess die
Juden und Christen mit dem ihrigen gemacht hatten, von einer
wunderbaren Veränderung des ganzen Weltzustandes zu erwarten.
Allein wenn diese Erwartung auf einem von ihrer ursprünglichen
Heimath so verschiedenen Boden Wurzel schlagen konnte, so
beweist diess, dass eben jetzt die Anhänger der ägyptisch-
griechischen Religion und Philosophie in eine ähnliche Lage ge-
rathen waren, wie die, aus welcher die jüdisch - christliche
Apokalyptik ursprünglich hen^orgieng ; und es verdient die Be-
achtung der Geschichtsforscher, dass diess schon so frühe der
Fall war. Da Lactantius in einer Schrift aus dem ersten oder
zweiten Jahrzehend des vierten Jahrhunderts unsere Darstellung
schon berücksichtigt, so werden wir diese nicht über das Ende
des dritten Jahrhunderts herabrücken dürfen; einige (in dem
obigen Auszug übergangene) Sätze im 24. und 26. Kapitel
des „Asklepius", worin ein gesetzliches Verbot der Götterver-
ehrung unter Androhung der Todesstrafe geweissagt wird, müssen
mit Bernays für spätere Zuthaten gehalten werden, denn vor
dem Gesetz des Kaisers Constantius vom Jahr 353 ist kein
derartiges Verbot erlassen worden. Längere Zeit vor 300 n. Chr.
wird der „Asklepius" allerdings nicht verfasst sein, da die Zu-
stände, die er voraussetzt, nicht viel früher eingetreten sein
können. Aber mögen wir ihn auch noch so nahe an diesen
Zeitpunkt heranrücken, so bleibt es doch immer höchst merk-
würdig, wenn schon damals, noch vor dem Beginn der
Diokletianischen Christenverfolgung, die Dinge, wenigstens in
Aegypten, so lagen, dass ein eifriger Anhänger der alten Religion
ihren bevorstehenden Untergang als einen Erfolg voraussah, der
nur noch durch ein unmittelbares Einschreiten der Gottheit ab-
gewendet werden könne. Wenn es sich auch in anderen Theilen
des römischen Reichs ähnlich verhielt, so begreift man um so eher,
dass der Entscheidungskampf zwischen den beiden Religionen,
64 ^1^6 heidnische Apokalypse.
der unmittelbar nach der Abfassung unserer Schrift unter
Diokletian ausbrax^h, nicht zum Sieg des Heidenthums führen
konnte, und dass Gonstantin's politischer Scharfblick das Stärke-
verhältniss der Parteien richtig beurtheilte, wenn er in den
Christen, trotz ihrer Minderzahl, den Theil sah, der allein ihm
für seine Herrschaft und seine Umgestaltung des Römerreichs
eine zuverlässige Stütze zu bieten versprach.
Anmerkungen.
1. Nähere Nachweisungen über diese Schriften und die sie betreffende
Literatur finden sich in meiner „Philosophie der Griechen'^ m, b, 224 f.
2. Mit diesem ist die Welt gemeint, welche auch in der von Lactanz
IV, 6 griechisch 'erhaltenen Stelle Ascl. c. 8 zwar der zweite Gott, aber doch
zugleich, wie hier, „der erste und einzige und eine" genannt wird.
IV.
Ueber den wissenschaftlichen Unterricht bei den
(xriechen.
(Rede beim Antritt des Rectorats an der Friedrich-Wilhelms-Üniversität zu
Berlin 15. Oktober 1878.)
Hochgeehrte Versammlung!
Die Feierlichkeiten, welche uns von Zeit zu Zeit in diesem
Räume zusammenführen, bringen es uns immer aufs neue in
Erinnerung, dass der wissenschaftliche Verband, dem wir ange-
hören, nicht blos eine äusserliche Verknüpfung einzelner Fach-
schulen und Fächer, sondern ein innerlich zusammenhängendes,
durch die natürliche Zusammengehörigkeit aller seiner Theile
verbundenes Ganzes, ein geistiger Organismus ist und sein soll.
Wie es Ein grosser Zusammenhang ist, der alles Wirkliche um-
fasst, der das entfernteste mit dem nächsten, das niedripte mit
dem höchsten zu Einem Weltganzen zusammenschliesst, so ist
auch die Wissenschaft, welche die Erkenntniss des Wirklichen
sich zur Aufgabe macht, in ihrem tiefsten Grund Eine; und so
mannigfaltig die Zweige sein mögen, deren sie immer neue zu
gesondertem Bestände hervortreibt: alle diese vielen Wissen-
schaften wollen und sollen doch Wissenschaft sein, sie
setzen sich gleichartige Ziele, sie bedienen sich des gleichen, nur
in seinen näheren Bestimmungen nach der Natur ihres Gegen-
standes so oder anders gestalteten Verfahrens, der gleichen, allem
unserem Denken unentbehrlichen Begriffe ; und je weiter sie ihre
eigenthümlichen Aufgaben in die Breite und in die Tiefe ver-
folgen, um so sicherer treffen sie, oft unvermuthet, mit dem zu-
sammen, was sich andern von scheinbar femliegenden Ausgangs-
zeile r, Vorträge und Abhandl. 5
QQ Ueber den wissenschafüichen Unterricht
punkten aus ergab. Nur eine Folge von diesem inneren Zu-
sammenhang aller Wissenschaften ist es, dass auch für den
Unterricht in denselben, so weit er in dem gleichen Sinn und
Geist ertheilt werden sollte, die Vereinigung aller besonderen
Fächer in umfassenden wissenschaftlichen Anstalten sich als das
naturgemässe und zweckmässigste herausstellte. Je grösser aber
die Bedeutung war, die solche Anstalten für das ganze Volks-
leben gewannen, je wichtiger die Dienste, welche der Staat von
ihnen zu erwarten berechtigt war; je erheblicher andererseits
die Mittel, die sie in immer steigendem Masse in Anspruch
nahmen : um so ausschliesslicher mussten sie auch in die Hände
des Staats übergehen, ohne dessen Fürsorge und Leitung es
ihnen in den meisten Ländern an den unerlässlichen Bedingungen
ihres Gedeihens fehlen würde; und so sind namentlich bei uns
in Deutschland mit dem übrigen Unterrichtswesen auch die
Universitäten zu einem so wesentlichen Bestandtheil des Staats-
oi^anismus geworden, dass alle deutschen Regierungen, in richtiger
Erkenntniss ihrer Bedeutung für das Staats- und Volksleben,
um die Erhaltung und Hebung ihrer Hochschulen sich wetteifernd
bemühen, dass aber andererseits für ausserstaatliche Universitäten
auf dem Boden unserer Anschauungen, Verhältnisse und Be-
dürfnisse kein Raum ist.
Es ist bekannt, wie unser heutiges Universitätswesen im
Lauf der Jahrhunderte aus dürftigen Anfängen sich allmählich
entwickelt hat; wie aus einzelnen theologischen, dialektischen,
medicinischen und Rechtsschulen die ersten wissenschaftlichen
Korporationen hervorgiengen, in denen mit der Zeit alle wissen-
schaftlichen Fächer, an die vier Facultäten vertheilt, sich ver-
einigten; wie seit der neuen Wendimg, welche das wissen-
schaftliche, religiöse und politische Leben im 15. und 16. Jahr-
hundert nahm, die korporative Selbständigkeit dieser Anstalten
sich immer mehr verlor, die staatliche Aufsicht und Unterstützung
inmier breiteren Spielramn gewann, und wie sie schliesslich in
den meisten Ländern in reine StaatsanstaJten übergiengen.
Manche Analogieen zu diesen Vorgängen bietet aber auch die
Geschichte des wissenschaftlichen Unterrichts bei einem Volke,
bei den Griechen. 67
das uns geistig ebenso nahe steht, wie es zeitlich von uns ent-
fernt ist, bei den Griechen, und es ist nicht ohne Interesse zu
sehen, wie sich derselbe in dieser seiner ältesten Heimath, auf
dem jungfräulichen Boden gestaltete, der zuerst eine freie und
selbständige Wissenschaft hervorgebracht hat.
Als während des sechsten vorchristlichen Jahrhunderts in
Griechenland die ersten Schritte zur Bildung einer wissenschaftr
liehen Weltansicht gewagt wurden, handelte es sich nicht um Er-
theilung eines förmlichen Unterrichts oder Eröffnung von Schulen ;
sondern einzelne hervorragende Männer wandten ihr Nachdenken
theils den mathematischen Wissenschaften, deren erste Elemente
sich um jene Zeit in Hellas einbürgerten, theils der Frage über
das Wesen, die Gründe, die Entstehung und die Einrichtung der
Welt zu, und ihre Ergebnisse machten sie mehr ziun Gegen*
stand mündlicher als schriftlicher Mittheilung. Aber an regel-
massige Lehrvorträge werden wir hiebei nicht denken dürfen,
sondern zunächst an eine Besprechung zwischen Freunden ; daher
auch nicht an einen Unterricht, zu dem jedermann der Zutritt
geöffnet gewesen wäre, sondern nur an einen solchen, der aus
dem persönlichen Verhältniss der Lehrenden und Lernenden als
eine natürliche Folge desselben sich ergab. Verhielt es sich
doch nicht anders auch mit der Heilkunde: auch diese wurde,
wie eine andere technische Fertigkeit, nur in persönlicher An-
leitung mitgetheilt, und sie war. desshalb in der Kegel auf einzelne
Familien von sogenannten Asklepiaden beschränkt, in denen sie
sich als Handwerksgeheimniss vom Vater zum Sohn forterbte;
an eine wissenschaftliche Unterweisung war hier schon desshalb
nicht zu denken, weil die ärztliche Kunst selbst in jener Zeit
von dem Charakter einer Wissenschaft noch zu weit entfernt
war. Nur Eine von den älteren Schulen nähert sich durch
ihren festeren Zusammenhang, und wahrscheinlich auch durch
die Einführung eines regelmässigen Unterrichts, den späteren
Einrichtungen : die pythagoreische ; denn hier war die Mittheilung
«^thematischer und philosophischer Lehren ebenso, wie die
Ueberlieferung religiöser Dogmen und Lebensvorschriften, die
Uebung der Musik, Heilkunde und Gymnastik, Vereinssache : sie
68 üeber den wissenschaftlichen Unterricht
bildete einen Bestandtheil jener durchgreifenden sitüich-religiösen
Reform, welche der Stifter des pythagoreischen Bundes sich zur
Lebensaufgabe gemacht hatte. Um so ausschliesslicher blieb
dagegen diese Mittheüung auf die Mitglieder 'des Bundes be-
schränkt; und wenn auch die späteren Vorstellungen über das
Schulgeheimniss der Pythagoreer ohne Zweifel an starken Ueber-
treibungen leiden, so brachte es doch der ganze Charakter ihrer
Vereine mit sich, dass nur den Genossen derselben der Zutritt
zu den Zusammenkünften frei stand, in welchen die Wissenschaft
der Schule überliefert wurde ^).
Erst in der zweiten Hälfte des fünften vorchristlichen Jahr-
hunderts sehen wir in Griechenland Lehrer auftreten, welche
über den engeren Kreis persönlicher Verbindungen oder ge-
schlossener Vereine hinausgreifend allen Lernbegierigen Gelegen-
heit zu einer methodischen höheren Ausbildung geben wollten.
Das Verdienst dieser eingreifenden Neuerung gebührt jenen
Männern, die zwar seit Plato und Aristoteles gewöhnlich in dem
ungünstigsten Lichte dargestellt werden, deren hohe Bedeutung
für ihre Zeit aber trotz aller ihrer Einseitigkeit imd aller späteren
Entartung sich nicht verkennen lässt, den sogenannten Sophisten.
Nach dem Vorbild eines Protagoras und Gorgias bildete sich
jetzt ein Stand berufsmässiger Lehrer, deren Unterricht gegen
eine entsjprechende Belohnung allgemein zugänglich war, mochte
er nun einem grösseren Kreise in öffentlichen Vorträgen, oder
mochte er einzelnen Schülern ertheilt werden, die sieb für
längere Zeit an den Lehrer anschlössen ^). Und dieser Vorgang
war auch für die Folgezeit nicht verloren. Aber um feste
Schulen mit dauernden Einrichtungen zu begründen, war die
Sophistik zu arm an positivem wissenschaftlichem Gehalt, und
zu ausschliesslich an die Persönlichkeit einzelner Lehrer gebunden,
von denen überdiess gerade die bedeutendsten ohne festen Wohn-
sitz von Stadt zu Stadt zu wandern pflegten. Erst Sokrates
war es, dessen Einfluss auch in dieser, wie in jeder Beziehung,
dem wissenschaftlichen Leben seines Volkes den Weg eröfl&iete,
den es während seiner ganzen weiteren Entwicklung nicht wieder
verliess.
bei den Oriechen. 69
Dieser seltene Mann gieng zwar nicht direkt darauf aus,
eine philosophische Schule zu stiften; noch weniger traf er irgend
welche Veranstaltungen, um die Fortpflanzung seiner Lehre für
die Zeit nach seinem Tode zu sichern. Die Art und Weise
seiner wissenschaftlichen Mittheilung war das Gegentheil alles
Schulmässigen: auf den Märkten und den Strassen, in der Pa-
lästra und in den Buden der Handwerker setzte er Bekannten
und Unbekannten in freiem Gespräch seine Ansichten über die
wissenschaftlichen und sittlichen Aufgaben des Menschen aus-
einander, veranlasste sie, mit ihm gemeinsam zu fragen und zu
forschen. Aber der Gehalt seiner Reden war so bedeutend, die
Anziehungskraft seiner wunderbaren Persönlichkeit so mächtig,
dass die sokratische Weise des gemeinsamen PhilosopMrens das
Ideal seiner Schüler blieb, und dass namentlich Plato, der
grösste und einflussreichste derselben, dieses Ideal in einem
wissenschaftlichen Verein zu verwirklichen versuchte, der weniger
abgeschlossen, als der pythagoreische, fester organisirt, als der
sokratische Kreis, das Bedürfhiss eines regelmässigen Unterrichts
'und einer gesicherten Lehrüberlieferung in der Form eines freien
freundschaftlichen Verkehrs befriedigte. Die platonische Schule
diente dann wieder den späteren, der peripatetischen, stoischen
und epikureischen, zum Vorbild; ihre Einrichtungen zeigen uns
daher den allgemeinen Typus der Anstalten, welchen in Griechen-
land fast während eines Jahrtausends der philosophische
Unterricht, also der allgemein wissenschaftliche Unterricht über-
haupt anvertraut war.
Im Vergleich mit unsem heutigen Hochschulen f&Ut uns an
denselben zunächst schon der Zug auf, dass sie nicht blos ein
Verband von Lehrern und Schülern, sondern zugleich eine Ver-
bindung nebeneinanderstehender wissenschaftlicher Arbeiter dar-
stellten, mit dem Charakter einer Lehranstalt bis zu einem ge-
wissen Grade den einer Akademie verbanden^). Die Leitung
des Ganzen lag in der Hand des Schulvorstehers, welcher zu-
gleich der Hauptlehrer war und als Zeichen seiner Würde das
Schulscepter selbst während der Lehrvorträge zu fuhren pflegte *) ;
^ter ihm standen aber mit den studirenden Jünglingen auch
70 Ueber den wissenschaftlichen Unterricht
die älteren Männer, welche von ihrer eigenen Studienzeit her
Mitglieder des Vereins geblieben waren, und nicht selten neben
dem Schulvorstand gleichfalls Unterricht ertheilten; und in ein-
zelnen Fällen kommt es vor, dass es solche ältere Schüler — denn
als Schüler pflegen auch sie noch bezeichnet zu werden — dem
Vorsteher der Schule noch während seiner Amtsführung an
Leistungen und wissenschaftlichem Ruhm zuvorthun. Aus ihrer
Mitte gieng beim Tod eines Schulvorstands, theils durch letzt-
willige Verfügung des Verstorbenen theils durch freie Wahl der
Genossen, der Nachfolger hervor. Sie waren auch die nächst-
berechtigten Nutzniesser der Stiftungen, welche die Mehrzahl der
athenischen Schulen besass ^). Für die akademische hatte schon
Plato seinen Garten in der Akademie als Versammlungsort er-
worben ; in der Folge gelangte sie durch Schenkungen zu einem
beträchtlichen Vermögen*). Der peripatetischen hinterliess
Theophrast einen Garten mit mehreren Gebäuden; der epiku-
reischen ihr Stifter sein Landhaus mit dem dazu gehörigen Gar-
ten und einem für die Zusammenkünfte und Feste der Schule
bestimmten Kapital. Nur die Stoiker scheinen kein solches ge-
meinsames Eigenthum gehabt zu haben. Zur Belebung des per-
sönlichen Verkehrs zwischen den Genossen des Vereins dienten
die gemeinsamen Mahle, welche dieselben seit Plato und Aristo-
teles regelmässig an gewissen Monatstagen und am Geburtstag
des Stifters der Schule zu vereinigen pflegten. Ähnliche Ein-
richtungen scheinen auch ausser Athen wenigstens in einem Theil
der Philosophenschulen bestanden zu haben, die während der
alexandrinischen und der römischen Periode im Osten und im
Westen entstanden. Dagegen behielt der Unterricht in der
Bhetorik, so viel uns bekannt ist, auch in der späteren Zeit den
gleichen Charakter, den er schon bei einem Isokrates und seinen
Vorgängern gehabt hatte, den eines Privatunterrichts, welcher
von Einzelnen gegen Bezahlung ertheilt wurde; der aber frei-
lich einem angesehenen Lehrer nicht allein zahlreiche Schüler
zuführen, sondern ihm auch auf die öffentliche Meinung und die
allgemeine Bildung seines Volkes namentlich dann einen be-
deutenden Einfluss verschaffen konnte, wenn er (wie diess eben
bei den Griechen. 71
bei Isokrates der Fall war) von der Form der Reden auch auf
ihren Inhalt ausgedehnt wurde, und sich in den Dienst bestimmter
politischer und ethischer Ansichten stellte. Ebenso scheint der
Unterricht in der Heilkunde nur von Einzelnen in eigenem
Namen ertheilt worden zu sein, ohne dass für denselben in ähn-
licher Art, wie für den philosophischen, durch organisirte Vereine
gesorgt worden wäre, und mir die da und dort bestehenden, mit
Tempeln verbundenen Heilanstalten gewährten ihm eine äussere
Stütze ■'). Im Vergleich mit unserem heutigen System des öffent-
lichen Unterrichts waren aber auch jene Philosophenschulen reine
Privatgesellschaften. Die Staaten betrachteten es nicht als ihre
Aufgabe, sich der wissenschaftlichen Studien anzunehmen, oder
sie als solche zu überwachen. Es kam wohl vor, dass ein an-
gesehener Lehrer von Fürsten oder Gemeinden durch Ehren-
bezeugungen, Geschenke, Befreiung von öffentlichen Lasten aus-
gezeichnet, oder dass ein Philosoph wegen angeblicher Religions-
vergehen zur Rechenschaft gezogen wurde; aber grundsätzlich
galt die Wissenschaft als eine Privatangelegenheit der Einzelnen,
um die der Staat sich nicht kümmerte, und in die er sich nicht
einmischte : als einmal (306 v. Chr.) in Athen der Beschluss ge-
fasst wurde, den Unterricht in der Philosophie von einer obrig-
keitlichen Erlaubniss abhängig zu machen, stiess dieses Gesetz
auf einen so starken Widerstand, dass es schon im folgenden
Jahr wieder zurückgenommen werden musste.
Unter den griechischen Philosophen selbst waren manche,
und gerade einige der hervorragendsten, mit der Stellung, welche
in ihrem Volke der Wissenschaft angewiesen war, keineswegs
einverstanden. Plato und Aristoteles hatten einen viel zu hohen
Begriff von den Aufgaben des Staats und von der Bedeutung der
Wissenschaft für denselben, als dass sie die herkömmliche Gleich-
gültigkeit des Gemeinwesens gegen die wissenschaftliche Bildung
des Volks hätten gutheissen können. Wer so fest, wie Plato,
überzeugt war, dass jede sittliche und politische Thätigkeit von
wissenschaftlicher Erkenntniss geleitet sein müsse, dass sie allein
den Staatsmann zu seinem Berufe befähigen könne, ja dass die
Leitung der Staaten geradezu den Männern der Wissenschaft,
72 üeber den wissenschaftlichen Unterricht
den „Philosophen" anvertraut werden sollte, der musste auch
darauf dringen, dass der Staat, schon in seinem eigenen In-
teresse, für die Heranbildung dieser seiner wichtigsten Organe
Soi^e trage; wer den letzten und höchsten Zweck des Staats
mit Aristoteles in der Glückseligkeit der Staatsbürger, und den
wesentlichsten Bestandiheil der menschlichen Glückseligkeit im
Erkennen suchte, der konnte die* Staaten unmöglich von der
Verpflichtung freisprechen, sich zugleich mit der sittlichen auch
der wissenschaftlichen Erziehung des Volks anzunehmen. So
verlangt denn auch Plato in seiner Republik, dass dem Theile
der Jugend, aus welchem der r^erende Stand hervorgehen soll,
eine über die herkömmlichen Unterrichtsfächer, die Musik und
Gymnastik, hinausgehende wissenschaftliche Bildung ertheilt
werde. Erst nachdem die jungen Leute vom zwanzigsten Jahr
an in den mathematischen Wissenschaften, vom dreissigsten bis
zum fiinfunddreissigsten in der Philosophie einen gründlichen
Unterricht genossen haben, und dann noch fünfzehn Jahre lang
im praktischen Staatsdienst ausgebildet sind , sollen sie in jene
oberste Behörde eintreten. Von Aristoteles liegen uns in dem
grossen politischen Werke, an dessen Vollendung er allen An-
zeichen nach durch seinen Tod verhindert wurde, keine so be-
stimmten und eingehenden Vorschläge vor; indessen lässt sich
nicht bezweifeln, dass auch er in seiner Schilderung des besten
Staates, wenn er dieselbe zu Ende geführt hätte, mit der sitt-
lichen Erziehung auch die wissenschaftliche Ausbildung be-
sprochen, und dass er sie dem Staate zugewiesen haben würde,
da alle Erziehung vom Beginn des Knabenalters an nach seinen
Grundsätzen eine öffentliche, vom Staat geleitete sein soll®).
An die praktische Verwirklichung dieser Vorschläge wurde
in der alten Welt erst spät Hand angelegt, und was in dieser
Richtung geschah, blieb hinter den Idealen eines Plato und
Aristoteles weit zurück. In den griechischen Städten wurde
während der Periode ihrer politischen Unabhängigkeit kein Ver-
such gemacht, die wissenschaftliche Ausbildung in das System
des öffentlichen Unterrichts aufizunehmen. Auch die grossartigen
Stiftungen der ägyptischen Ptolemäer, . die alexandrinische
bei den Griechen. 73
Bibliothek und das mit Gehalten für Gelehrte verbundene Mu-
ßeum, waren nicht unmittelbar für ünterrichtszwecke bestimmt,
so grossen Gewinn sie ihnen immerhin bringen mussten. Erst
das römisdie Kaiserthum war es, welches dem Gedanken einer
staatlichen Fürsoi^e für den wissenschaftlichen Unterricht näher
trat. Nachdem schon Vespasian griechischen und lateinischen
Ehetoren in Rom Gehalte ausgesetzt hatte, errichtete Hadrian
in dieser Stadt nach dem Vorbild des alexandrinischen Museums
eine Art Akademie für Philosophen, Rhetoren und Dichter in
seinem für öffentliche Vorträge bestimmten Athenäum. Die
gleichen Kaiser entbanden die Lehrer des Rechts, der Gramma-
tik, Rhetorik und Philosophie und die Ärzte von gewissen bürger-
lichen Leistungen. Hadrian's Nachfolger Antoninus Pius er-
weiterte diese Privilegien zu einer Befreiung von allen öflfent-
lichen Lasten. Ebenso wurde durch ihn das System öffent-
licher, vom Staat angestellter Lehrer weiter entwickelt, indem
er in allen Theilen des römischen Reichs Lehrern der Rhetorik
und der Philosophie Gehalte verlieh. Sein Adoptivsohn und
Nachfolger Marcus Aurelius Antoninus, der wahrscheinlich schon
hiebei mitgewirkt hatte, traf die Bestimmung, dass in Athen, der
alten Metropole der griechischen Philosophie, jede von den vier
Schulen, die dort bestanden, die akademische, peripatetische,
stoische und epikureische, zwei besoldete Lehrer haben sollte.
Um die Mitte des dritten Jahrhunderts scheinen' aber unter den
Wirren, welche zur Zeit der sogenannten dreissig Tyrannen das
römische Reich zerrütteten, diese besoldeten Lehrstellen der
Philosophie in Athen wieder eingegangen zu sein, während uns
die der Rhetorik noch im vierten und fünften Jahrhundert be-
gegnen. Wann die Staatsunterstützung zuerst auf die Rechts-
schulen ausgedehnt wurde, die in Rom schon seit Augustus und
mit der Zeit auch in mehreren Provinzialstädten entstanden, ist
nicht bekannt. Ein Gesetz vom Jahr 425®) bestimmt für Rom
und Konstantinopel, es sollen in jeder von diesen beiden Haupt-
städten drei lateinische und fünf griechische Rhetoren, zehen
lateinische und zehen griechische Grammatiker, zwei Lehrer des
Rechts und ein Lehrer der Philosophie angestellt werden, deren
74 Ueber den wissenschaftlichen Unterricht
Werth demnach in den Augen der B^erungen damals sehr ge-
sunken, deren Leistungen aber allerdings auch in jener Zeit ge-
ring waren. Der Unterricht in der Bechtswissenschaft war in
der byzantinischen Periode neben Alt- und Neu -Rom nur der
altberühmten Rechtsschule zu Berytos in Phönicien gestattet ^^).
Unter den Lehranstalten, welche auf diese Weise durch
Staatsunterstützung in's Leben gerufen oder gefördert wurden,
ist die in Athen die einzige, über die uns einiges nähere be-
kannt ist^^). Wir sehen daraus unter anderem, dass neben
den angestellten Lehrern auch andere nach Belieben auftreten
konnten ; dass der Wahl der ersteren in der Begel ein Concurs
vorangieng, der in Beden über aufeegebene Themata bestand;
dass sich ihr Gehalt auf die beträchtliche Summe von 10,000
Drachmen belief, daneben jedoch auch die längst hergebrachten Ho-
norare der Zuhörer fortgiengen ; dass für öffentliche Bibliotheken
zur Unterstützung der Studien gesorgt war ; dass die Vorlesungen
neben den studirenden Jünglingen auch von Männern reiferen
Alters und andererseits von Knaben besucht wurden, dass es
aber auch den studirenden Damen unserer Tage in dem da-
maligen Athen, wie schon früher in der Schule Plato's und
Epikur's, nicht ganz an Vorgängerinnen fehlte: in Alexandria
stand bekanntlich um den Anfang des fünften Jahrhunderts die
geistvolle Hypatia, welche schliesslich in einem Aufstand des
christlichen Pöbels ein so grässliches Ende fand, längere Zeit
sogar als Lehrerin an der Spitze der platonischen Schule ^^). Wir
hören femer, hauptsächlich durch Berichte aus dem vierten Jahr-
hundert, von häufigen Beibungen und Parteiungen unter Leh-
rern und Schülern, die nicht ganz selten in offene Streitigkeiten
ausarteten, und andererseits von der Art, wie die Disciplin über
die studirende Jugend theils von der bürgerlichen Obrigkeit
theils aber auch von den Lehrern selbst gehandhabt wurde,
unter denen einzelne sogar die Anwendung körperlicher Züch-
tigung nicht verschmähten^^). Wir erfahren mancherlei Einzel-
heiten über die scherzhaften und lärmiBnden Feierlichkeiten,
unter welchen die Aufiiahme der Neulinge und ihre Bekleidung
mit dem Tribon, dem Philosophenmantel, vor sich gieng; über
bei den Griechen. 75
den Eifer, mit dem man sie schon im Piräeus empfieng, mn sich
ihrer für den eigenen Lehrer, selbst mit Gewalt, zu versichern^*);
über die Landsmannschaften mid die wissenschaftlichen Vereine
der Studirenden und über ähnliche Dinge. So vieles uns aber
nicht blos in den Aeusserlichkeiten des akademischen Lebens,
sondern auch in der inneren Einrichtung dieser spätgrieehischen
Unterriebtsanstalten^ theils an die neueren, theils an die mittel-
alterlichen Universitäten erinnert, so wenig entsprechen sie doch,
wenn wir näher zusehen, in der Hauptsache dem Begriffe, den
wir uns von einer Universität zu machen gewohnt sind.
Was sie von unsem heutigen Universitäten unterscheidet,
ist zunächst schon der Umstand, dass sie sich eine viel beschränk-
tere Aufgabe gestellt haben. Keine von ihnen will das Ganze
des höheren wiss^oischaftlichen Unterrichts umfassen, und auch
diejenigen, welche über den Charakter blosser Fachschulen
hinausgehen, bleiben hinter dieser Au%abe weit zurück: in Athen
wurde nur Philosophie und Bhetorik gelehrt, in Rom und Kon-
stantinopel sollte nach den Bestimmungen Theodosius' ü. und
Justinian's ausser der Bhetorik vorzugsweise die Grammatik be-
trieben werden, deren Hauptgeschäft; neben der Anleitung zum
richtigen Gebrauch der Sprache im Lesen und Erklären der
alten Schriftsteller bestand; nur ein beschränkter Baum wird
hier der Bechtskunde, ein noch beschränkterer der Philosophie
eingeräumt. Die Mathematik und Naturwissenschaft müssen sich,
was ihre officielle Vertretung betrifft, mit dem begnügen, was
bei den Philosophen, die Geschichte mit dem, was bei den
Grammatikern für sie abfiel. Von der Heilkunde ist bei allen
diesen Einrichtungen überhaupt nicht die Bede. Es handelt
sieh bei denselben nicht um eine organische Vereinigung aller
Fächer, sondern nur um eine Gelegenheit zur Erwerbung der-
jenigen Fertigkeiten und Kenntnisse, auf welche theils bei allen
Gebildeten, theils im besondem bei den öffentlichen Beamten
der Hauptwerth gel^ wurde.
Noch wiijhtiger ist aber die Frage nach dem Geist, in dem
diese Studien betrieben wurden. Heutzutage sind die Univer-
sitäten, vor allem bei uns in Deutschland, zwar nicht die einzigen,
76 Üeber den wissenschaftlichen Unterricht
aber doch die hauptsächliehsten Sitze der wissenschaftlichen
Forschung. Mit dem Leben unseres Volkes aufs innigste ver-
wachsen, ihrer Mehrzahl nach unter der Einwirkung grosser
geistiger und nationaler Bewegungen, des Humanismus, der Re-
formation, der Befreiungskriege, gegründet oder umgestaltet,
tragen sie den Trieb zu freier Untersuchung, zu unabhängigem
Denken, zu unermüdlichem Fortschreiten von Hause aus als ihr
eigentliches Lebensprincip in sich. Ihre Vorgängerinnen im
Alterthum waren umgekehrt das Werk geistig ermatteter und
sittlich erschlaffter, im unaufhaltsamen Rückgang begriffener
Jahrhunderte, denen es an der Kraft und dem Vertrauen zu
selbständigen wissenschaftlichen Schöpftmgen gebrach, deren Ehr-
geiz nicht über die Fortpflanzung der Ueberlieferungen, die Nach-
ahmung der alten Formen hinausgieng. Dieses Gepräge der
Unfruchtbarkeit und Greisenhaftigkeit ist auch dem Unterricht,
der an ihnen ertheilt wurde, aufgedrückt. Von den Fächern,
welche darin den breitesten Raum einnahmen, hat es die Rhetorik
überwiegend nur mit dem Formalen der Darstellung und Aus-
drucksweise, die Grammatik theils gleichfalls nur mit den sprach-
lichen Formen theils mit den Erzeugnissen der Vorzeit zuthun;
die Anleitung zu einem in die Sachen selbst eindringenden Er-
kennen liess sich weder von der einen noch von der andern er-
warten. Um so mehr lag sie allerdings in der Aufgabe der
•Philosophie. Aber auch die Philosophen hatten sich längst ge-
wöhnt, statt eigener Forschung sich mit der Ueberlieferung älterer
Lehrbegriffe zu begnügen; und etwas anderes wurde auch gar
nicht von ihnen verlangt, wenn die acht philosophischen Lehr-
stellen in Athen nicht für Philosophie als solche, sondern aus-
drücklieh fllr platonische, aristotelische, stoische, epikureische
Philosophie bestimmt waren. Die wissenschaftlichen Ansichten
erscheinen hier als ein Glaubensbekenntniss, das man möglichst
unverändert aus der Ueberlieferung aufiiimmt : nach Lucian hatten
sich die Bewerber mn einen Lehrstuhl sogar ausdrücklich über
ihre Schulorthodoxie auszuweisen. Dass die Wissenschaft als
solche auf diesem Wege eine erhebliche Förderung erfahren
werde, liess sich nicht erwarten; und wirklich hat auch Athen
bei den Griechen. 77
in den dritthalb Jahrhunderten, die auf Mark AurePs Stiftung
folgten, nicht allein keinen epochemachenden, sondern ausser
einigen achtungswerthen Vertretern der peripatetischen Schule
überhaupt keinen namhaften Philosophen besessen; erst im
fünften Jahrhundert feierte der Neuplatonismus hier in der Ge-
burtsstätte der platonischen Schule seine letzte Nachblüthe. Aber
die Staatsgewalt lieh ihm hiebei keine Unterstützung, und nach-
dem er in dem christlich gewordenen Reiche mOhsam sein Dasein
gefristet hatte, wurde von Justinian durch die Schliessung der
Schule und die Einziehung ihres Vermögens der letzte lieber-
rest jener philosophischen Vereine zerstört, welche dem wissen-
schaftlichen Leben des griechischen Volkes seit Plato und Aristo-
teles so grosse Dienste geleistet hatten.
Was die Beherrscher des römischen Reiches nur in unge-
nügender Weise und mit unbefriedigendem Erfolge versuchten,
die staatliche Organisation des wissenschaftlichen Unterrichts,
das haben die neueren Staaten ungleich umfassender und nach-
haltiger durchgeführt. Dem Verfall des wissenschaftlichen Lebens
bei den alten Völkern zu steuern , wäre den Regierungen auch
dann nicht möglich gewesen, wenn ihre Massregeln auf eine
durchgreifende und systematische Reform des Unterrichtswesens
berechnet gewesen wären; doppelt unmöglich war es, da die-
selben schliesslich doch nur darauf hinausliefen, dass eine An-
zahl von Lehrern fttr einzelne Fächer vom Staate bestellt wurde,
im übrigen aber fast alles dem Belieben der einzelnen Lehrer
und Schüler überlassen, und weder für eine regelmässige Vor-
bildung der letztem, noch für eine geordnete Aufeinanderfolge
und ein zweckmässiges Ineinandergreifen der verschiedenen Unter-
richtszweige, noch für Prüftingen gesorgt war, in denen die
Einzelnen über den Erfolg ihrer Studien Rechenschaft zu geben
gehabt hätten. Das einzige, was uns von einer dm*ch die Staats-
behörde vorgeschriebenen Studienordnung aus dem Alterthum
bekannt ist, besteht in der Anweisung, welche den Lehrern der
Rechtswissenschaft von Justinian im Proömium der Pandekten
ertheilt wird; und diese selbst gehört bereits mehr dem byzan-
tinischen Mittelalter als der alten Zeit an. Weit günstiger lagen
78 lieber den wissenschaftlichen Unterricht
die Verhältnisse für die neueren Staaten. Ihnen war nidit die
unlösbare Aufgabe gestellt, einer sinkenden Wissenschaft neues
Leben einzuflössen, sondern die viel dankbarere, eine lebens-
kräftige und in frischem Aufblühen begriffene für den Zweck des
Unterrichts zu organisiren; und eben dieses ist der Gedanke,
auf dem vor allem unsere deutschen Universitätseinrichtungen
beruhen. Der Staat betrachtet es nicht als seine Sache, in die
wissenschaftliche Thätigkeit als solche einzugreifen, der Forschung
ihr Verfahren oder ihre Ergebnisse vorzuschreiben ; und in diesem
freien Sinn eröffiiet er auch an seinen höchsten Lehranstalten
jedem, der sich > über seine wissenschaftliche Befähigung ausweist
und die allgemeinen Bedingungen einer akademischen Wii'ksam-
keit nicht verletzt, die Gelegenheit, sich in derselben zu ver-
suchen. Aber er ist überzeugt, dass er der Wissenschaft bedürfe,
und dass sie ihrerseits zu ihrem Gedeihen seine Unterstützung
nicht entbehren könne ; er betrachtet die wissenschaftliche Bildung,
im Sinn eines Plato und Aristoteles, als einen wesentlichen Be-
standtheil der öffentlichen Erziehung, in der er eine seiner wich-
tigsten und unerlässlichsten Aufgaben erkennt. Der wissenschaft-
liche Unterricht selbst aber findet seinen AbscUuss in denjenigen
Studien , für die unsere Universitäten bestimmt sind ; denn sie
sollen ihre Schüler in das höchste und reifste einfuhren, was
die Wissenschaft der Zeit erreicht hat; sie sollen nicht blos zu
technischen Fertigkeiten, sondern zum wissenschaftlichen Erkennen
als solchem anleiten, und auch jede speciellere Berufsbildung auf
eine umfassende allgemein wissenschaftliche Ausbildung begründen.
Wenn der Staat für seine Universitäten Sorge trägt, anderer-
seits aber den Eintritt in den höheren Staatsdienst und in einige
andere für die Gesellschaft besonders wichtige Berufearten an die
Bedingung eines erfolgreichen Universitätsstudiums knüpft, so
spricht er damit aus, dass ihm eine blos gewohnheitsmässige
Uebung in Geschäften nicht genüge, dass es ihm um die Wissen-
schaft als solche, den Sinn für unabhängige Erforschung der Wahr-
heit, die Kunst des methodischen Denkens , die Einsicht in das
Wesen der Gegenstände und Verhältnisse zu thim sei, auf welche
die praktischen Aufgaben sich beziehen. Er legt aber ebendamit
bei den Griechen. 79
auch den Jüngern der Wissenschaft die Verpflichtung auf, sich
dem Dienst des Gemeinwesens nicht zu entziehen. Nicht als ob
die wissenschaftliche Forschung als solche sich ein anderes Ziel
setzen dürfte, als die Erkenntniss, der wissenschaftliche Unter-
richt ein anderes als die Mittheilung der Wahrheit. Aber je
reiner diese Aufgabe gefasst, je vollständiger sie gelöst wird,
um so sicherer wird auch die Wissenschaft dem Staat imd der
Gesellschaft den höchsten Dienst leisten, den sie ihnen leisten
kann : die praktischen Thätigkeiten durch die denkende Erkennt-
niss ihrer Mittel und Zwecke zu befestigen, zu vertiefen imd zu
läutern. Diess ist es, was der Staat von der Wissenschaft er-
wartet, diess der Grund, wesshalb er den wissenschaftlichen Unter-
richt in seinen Organismus aufnimmt. Was fUr die grössten
unter den griechischen Philosophen ein unerreichtes Ideal war:
dass das Staatsleben von wissenschaftlicher Einsicht geleitet werde,
die wissenschaftliche Erziehung vom Staat ausgehe, an dessen
Verwirklichung arbeiten die heutigen Staaten seit Jahrhunderten,
und an der Spitze der Einrichtungen, die diesem Zweck dienen,
stehen unsere Universitäten.
Bei keiner anderen Hochschule liegt aber diese Verschmel-
zung des wissenschaftlichen und des staatlichen Interesses schon
in der Geschichte ihrer Gründung augenscheinlicher am Tage,
als bei der Universität Berlin. Wenn ein hochherziger Fürst in
der äussersten Bedrängniss des Staates, in einem Zeitpunkt,
wo es sich für ihn um Sein oder Nichtsein handelte, diese
Pflanzstätte der Wissenschaft gestiftet hat, so war es ihm nicht
um ein solches Wissen zu thun, das für die Gesammtheit keine
Frucht bringt, sondern das Volksleben sollte von hier aus ge-
kräftigt, dem schwer erschütterten Gemeinwesen eine neue Heil-
quelle erschlossen werden. In der strengen Schule des wissen-
schaftlichen Denkens sollte der Wille gestählt, in der freien Hin-
gebung an die Erforschung der Wahrheit sollte der Charakter
geläutert werden. Und die junge Universität hat diese Er-
wartung nicht getäuscht. Ob sie ihr auch fernerhin entsprechen
wird, diess, meine Herrn Commilitonen , hängt nicht blos von
den Universitätseinrichtungen und nicht blos von Ihren Lehrern,
80 lieber den wissenschaftlichen Unterricht
es hängt in erster Reihe von Ihnen selbst ab. Es ist eine schone
Aufgabe, die Ihnen hier obliegt : mit der Ausbildung der eigenen
Kräfte, der Sorge für das eigene Wohl, eine Pflicht gegen das
Vaterland zu erfüllen. Je lebendiger Ihnen diese Aufeabe gegen-
wärtig ist, je weniger Sie vergessen, dass die Zeit, die für Ihre
Studien bestimmt ist, nicht Ihnen zu beliebigem Gebrauche ge-
hört, sondern Ihrem Volke, um so befriedigter werden Sie der-
einst auf die schönsten und wichtigsten Jahre Ihrer Jugend
zurückblicken, um so höher wird schon jetzt das freudige Be-
wusstsein Sie erheben, dass auch Sie in Ihrem Theile für das
grosse Ganze arbeiten, dem wir alle angehören, und dass auch
Sie das Ihrige thun, um den guten Namen unserer Hochschule
aufrechtzuhalten.
Anmerkungen,
Nähere Nachweisimgen über die im vorstehenden besprochenen Ver-
hältnisse finden sich an verschiedenen Stellen meiner „Philosophie der
Griechen", femer bei Zumpt „über den Bestand der philos. Schulen in
Athen" (Hist phil. Abb. d. Berl. Akad. 1842. S. 44 ff.), Webeb De Aca-
demia literaria Atheniensium seculo secundo p. Chr. constituta (Marb. 1858.
Progr.), SiEVERS Leben des Libanius (1868) S. 16 ff. und in andern
Schriften, zu' denen neuerdings die lehrreiche Abhandlung von Üseneb:
„Organisation der wissenschaftlichen Arbeit" (Preuss. Jahrb. Bd. LUX, 1. H.)
hinzugekommen ist.
1) Näheres hierüber Phil. d. Gr. I, 288 ff.
2) Vgl. ebd. I, 964 ff. 943 f.
3) Diese Bedeutung der alten Philosophenschulen, die sie zu Mittel-
punkten für gemeinsame wissenschaftliche Arbeiten machte, hat Useneb
a. a. 0. eingehend behandelt. Derselbe bespricht S. 6 ff. die äusseren Ve^
hältnisse imd die Einrichtungen dieser Schulen etwas ausftihrlicher, als es
mir möglich war. Ihre rechtliche Stellung betreffend hat die Vermuthung
(v. WiLAMOWiTZ-MöLLENDORFF Philolog. Untersuch. IV, 263 ff. USBNER
S. 7) alles für sich, dass dieselbe, an die Heiligthümer der Musen („Museen")
in ihren Gärten anknüpfend, die einer Eultusgenossenschaft {d-taaog) war.
4) Dieser letztere Zug ergibt sich aus einer Stelle des Eüdemüs,
eines persönlichen Schülers von Aristoteles, bei Simpl. Phys. 732, 24 ff,
in der er seinen Zuhörern sagt: Wenn man den Pythagoreem Glauben
schenken wollte, müsste man annehmen, dass alles einzelne in der Welt
wieder kommen werde, „und dass ich wieder einmal mit meinem kleinen
Stab in der Hand zu euch sprechen werde, während ihr da sitzt wie jetzt"
u. s. w.
bei den GriecheiL 81
5) Unsere wichtigsten Urkunden über diese Stiftungen sind die noch
erhaltenen letztwilligen Verfügungen des Plato, des Aristoteles und seiner
drei Nachfolger: Theophrast, Strato und Lyko, und des Epikur. Eine
interessante rechtsgeschichtliche Untersuchung dieser Urkunden gibt die
Abhandlung von C. G. Bbui^S: „Die Testamente der griechischen Philosophen*'
(Klein. Sehr, n, 192 flf.).
6) Nach Damasg. v. Isidori 158 (und daher SuiD. niar, o ^Aoor.)
belief sich der Ertrag des Gartens in der Akademie , welchen Plato seinen
Schülern hinterlassen hatte, auf nicht mehr als drei Goldstücke, zur Zeit
des Proklus da^gegen (um 450 n. Chr.) war die platonische Schule durch
Vermächtnisse in den Besitz eines Einkommens von mehr als tausend Gold-
stücken gelangt
7) Solche Schulen konnten sich natürlich am leichtesten an Tempel
des Asklepios anschliessen. Bei den Heiligthümem dieses Gottes versammelten
sich nicht blos Kranke aller Art, welche ihn um Hülfe angiengen, sondern
diese Kranken wurden auch von den Priestern des Asklepios, den Asklepiaden,
auf Grund der in ihren P^amilien einheimischen und mit dem Priesterthum
sich forterbenden Traditionen behandelt, und es bildete sich so allmählich
eine Ueberlieferung von Anweisungen fiir die Behandlung verschiedener
Krankheiten, welche den späteren ärztlichen Kunstregeln zur Grundlage
dienen konnte. Strabo (VIII, 6, 15. S. 374) bezeugt von dem berühmten
Asklepiostempel in Epidaurus, es seien in ihm ebenso wie in denen zu Kos
und zu Trikka (in Thessalien) Tafeln mit Krankengeschichten (nivaxes fv
olg avay^yQafJLfiivav Tvyxarovaiv al d'€Qan€La&) aufgestellt gewesen. Aus
denen in Kos soUte Hippokrates, der berühmteste Sohn dieser Stadt, der
selbst einem Asklepiadengeschlecht angehörte, einen Theil seines ärztlichen
Wissens gescHlöpft haben (Strabo XIV, 2, 19. S. 657). Auch andere Heilig-
thümer als die des Asklepios konnten aber zur Gründung ärztlicher Schulen
Anlass geben: nach Strabo XII, 5, 20. S. 580 war im ersten Jahrhundert
V. Chr. bei einem Tempel des phrygischen Mondsgottes (Mt^vos Kagov) in
der Nähe von Laodicea eine grosse Lehranstalt von Zeuxis, einem.Arzt aus
der Schule der Herophileer, begründet und später von seinem Schüler
Alexander Philalethes geleitet worden, ohne sich doch länger halten zu können.
8) Die näheren Nachweise gibt meine Phil. d. Gr. II, a, 771 ff. 532 ff.
b, 780 ff.
9) Cod. Theodos. XIV, 9, 3, Cod. Just. XI, 18 wiederholt
10) Die Angaben der alten Schriftsteller, auf denen die vorstehende
Darstellung beruht, finden sich am vollständigsten bei Weber a. a. 0.
S. 2 f. 8 f. vgl. Phil. d. Gr. IH, a, 683 ff. und über die Rechtsschulen
Breuer Die Kechtsschulen im römischen Kaiserreich. Berl. 1868.
11) Auch hiefur haben Weber (S. 6—32) und Sievers a. a. 0. die
Belege gesammelt. Ich begnüge mich hier damit, einige davon anzuführen,
indem ich hinsichtlich der übrigen auf ihre Zusammenstellungen verweise.
12) Vgl. Phil. d. Gr. in, b, 742 f. und was dort weiter angeführt ist.
18) Der „Sophist" Himeriüs, welcher zur Zeit Julian's (um 360 n. Chr.)
Lehrer der Rhetorik in Athen war, tadelt in einer Rede, mit der er seine
neu eintretenden Schüler begrüsst, (or. XV, 2) diejenigen von seinen Collegen,
Zell er, Yortr&ge and Abhandl. 6
82 üeber den wissenschaMichen Unterricht
„welche ihre Heerde, statt sie mit dem Klang der Hirtenflöte zu leiten, mit
den Schlägen der Peitsche bedrohen". Sein Zeitgenosse, der berühmte
antiochenische Rhetor LiBANlüS (314 n. Chr. geboren, nach 392 gestorben),
versichert zwar (or. ü. Bd. I, 178 R.) gleichfalls , er könne jene strengeren
Mittel entbehren; aber aus andern Stellen (or. XLIII. LXV, Bd. II, 425.
in, 436. .ep. 1119) geht hervor, dass er die Anwendung der Peitschen
und Stöcke (Ifjidvres und ^aßdot) gegen unfleissige Zuhörer doch niciit ver-
schmähte und sie auch von seinen Collegen verlangte, und in den Pro-
gymnasmata Bd. IV, 868 schildert er die schlimme Lage der jungen Leute,
die den Scheltworten, Schlägen und Drohungen der Lehrer,, dem Stock und
der Peitsche des Pädagogen ausgesetzt seien. Vgl. Sievees a. a. 0. S. 30.
14) Gbegob von Nazianz, welcher um 350 zugleich mit dem späteren
Kaiser Julianus in Athen studirt hatte, sagt or. XLm, 16. vgl. c. 20, die
Parteinahme fiir einzelne Lehrer der Rhetorik habe in dieser Stadt und
in ganz Hellas einen solchen Grad erreicht, dass sich die Anhänger der-
selben ebenso leidenschaftlich und eifersüchtig bekämpften, wie die Parteien
im Cirkus, und jede Schule sich eiMg bemühte, den andern ihre Mitglieder
wegzufangen und für ihren eigenen Meister zu gewinnen. Welcher Mittel
man sich hieför bediente, sehen wir aus dem, was Libakius in den Er-
innerungen aus seinem Leben (Libanii Declamationes ed. Reiske I, 18 ff.)
und sein jüngerer Zeitgenosse Eunapiüs im Leben des Proäresius (Vitae
Sophistarum, S. 74 f.) über ihre Erlebnisse bei ihrer Ankunft in Athen mit-
theilen. Die neu eintretenden Studirenden wurden bei der Landung im
Piräeus oder an dem Vorgebirge Sunium von älteren Commilitonen erwartet,
die in dem Eifer, sie für einen bestinunten Lehrer zu gewinnen, auch wohl
so weit giengen , dass sie sich eines Ankömmlings gewaltsam bemächtigten
und ihn so lange gefangen hielten, bis er eidlich versprochen hatte, der
Schülerschaft eines bestimmten Lehrers beizutreten, wie diess Libanius
begegnete. Hatte sich der angehende Studirende für eine Schule oder
Landsmannschaft entschieden, so wurde er (nach Gbegob. Naz. a. a. 0.
Oltmpiodob b. Photiüs Biblioth. Cod. 80, S. 60 b) von seinen älteren Freunden
zunächst einem Examen unterworfen, bei dem man ihn durch neckische
Fragen in Verlegenheit zu bringen suchte ; * dann brachten sie ihn in Pro-
cession über die Agora in ein Bad, zu dem ihm aber der Eintritt zuerst
mit lautem Lärm und Geschrei verwehrt wurde ; nachdem er zugelassen und
gebadet war, wurde er mit dem Tribon, der Tracht der Studirenden, bekleidet,
und seinem Lehrer feierlich zugeführt. — Dass die Eifersucht der akademischen
Parteien nicht selten zu Streitigkeiten und selbst zu Schlägereien führte,
erhellt aus Libanius a. a. 0. S. 16. 60 f. or. XLIV Bd. II, 433; über einen
derartigen Zusammenstoss zwischen den Schülern der Rhetoren Apsines und
Julianus (unter Constantin L), welcher dem angreifenden Theil körp^liche
Züchtigungen von Seiten des Proconsuls zuzog, berichtet EüNAPIUS v. Sophist
Julianus S. 69 f. ; einer blutigen Schlägerei, deren Augenzeuge er selbst gewesen
war, gedenkt Libanius De fort, sua I, 17. 19. 60. In diesen Stellen werden
auch Fälle berührt^ in denen Lehrer von Parteigängern ihrer Rivalen miss-
handelt oder durch Drohungen gezwungen wurden Athen zu verlassen; 339
n. Chr. setzte ein Proconsul drei Professoren wegen solcher Händel ab.
bei den Griechen. g3
PhüiOSTBATUS (um 280 n. Chr.) sagt v. Sophist ü, 26, 1 von Heraklides
aus Smyrna, er sei durch die Anhänger seines Gegners ApoUonius von seinem
Lehrstuhl in Athen yertrieben worden. Das gleiche widerfuhr nach Eünap.
y. Sophist Proaeres. S. 80 dem Proäresius durch Bestechung des Pro-
consnls. Auch die Wunde, von der Hirn er ins wiederhergestellt war, als er
mit seiner 22. Bede seine Vorträge wieder eröffiiete, scheint er bei einem
solchen Angriff erhalten zu haben. Libanius wurde um 840 durch Drohungen
genöthigt, auf eine Lehrthätigkeit in Konstantinopel zu verzichten (a. a. 0. 28 ff.).
Dagegen werden die Anfechtungen, welche im fünften Jahrhundert den Neu-
platoniker Proklus (Maein. v. Procli 15) und seinen Nachfolger Marinus
(Damäbc. y. Isidori 277) veranlassten, sich fikr einige Zeit aus Athen zu entfernen,
wohl von christlichen Gegnern ausgegangen sein, wie diess auch Marinus a. a. 0.
deutlich sagt. Im philosophischen Unterricht hatten jene Männer in dem
damaligen Athen keine Nebenbuhler; die heidnische Philosophie musste sich
aber auch in jener Zeit schon viel zu sehr in die Verborgenheit zurückziehen,
als dass say öffentliche Streitigkeiten zwischen ihren Anhängern gedacht
werden könnte. Auch in den zwei vorangehenden Jahrhunderten sind es aber
immer nur die „Sophisten**, d. h. die Rhetoren, nicht die Philosophen, auf
derm Schüler die Angaben über die Händel unter den Studirenden zu Athen
sich beziehen; was um so natürlicher erscheinbwwenn wir erwägen, dass
der philosophische Unterricht in dieser Stadt wänNnd des ganzen dritten
und vierten Jahrhunderts fiut völlig brach lag, während die Bhetorik Mode-
sache und Gegenstand des allgemeinsten Interesses war.
6
V.
üeber akademisches Lehren und Lernen.
(Rede zur Gedächtnissfeier der Friedrich- Wilhelms-Universität zu Berlin
gehalten am 3. August 1879.)
Wenn unsere Universität bei der jährlichen Wiederkehr
des heutigen Festes mit der dankbaren Erinnerung an ihren
königlichen Stifter die Vertheilung der akademischen Preise und
die Aufforderung ziMleuen wissenschaftlichen Wettkämpfen ver-
bindet, so bringt sie damit den Gedanken zum Ausdruck, dass
der beste und würdigste Dank ftlr eine wohlthätige Gabe in
dem guten Gebrauche liege, der von ihr gemacht wird. Wussten
doch die Griechen selbst ihre Götter nicht höher zu ehren, als
durch jene festlichen Spiele, in denen alles, was dieses reichbe-
gabte Volk schönes und herrliches hatte, im Wettstreit der
Kraft und der Gewandtheit, der dichterischen und der musika-
lischen Schöpfungen, den Urhebern dieser Gaben zur frohen
Betrachtung vorgeführt wurde. Eine wissenschaftliche Lehranstalt
kann freilich nicht den Anspruch erheben, bei solchen Ver-
anlassungen schon mit Arbeiten prunken zu können, welche eine
grössere Reife und eine längere Uebung in wissenschaftlichen
Untersuchungen erfordern würden, als sie sich von ihren Zög-
lingen erwarten lässt. Sie muss zufrieden sein, wenn in der
Pflanzung, die ihrer Obhut anvertraut ist, einzelne Erstlings-
früchte gedeihen, welche die Hoffnung auf einen künftigen
reicheren Ertrag begründen, wenn da und dort schon in- einem
•
jugendlichen Probestück das selbständige Denken, die sichere
Hand, die reinliche Arbeit eines künftigen Meisters sich an-
kündigt. Ihre Aufgabe ist es ja nicht, die geistige Entwicklung
Ueber akademisches Lehren und Lernen. 85
ihrer Schüler zu einem Abschluss zu bringen, der nur ein vor-
zeitiger sein könnte; sondern das beginnende wissenschaftliche
Leben soll von ihr gepflegt, es soll durch sachverständige Leitung
60 weit gebracht werden, dass es seine Wege mit erstarkten
Kräften und geschärftem Blicke sich selbst zu suchen vermag,
und vor der Gefahr jener wissenschaftlichen Verirrungen ge-
schützt ist, denen das ungeschulte Talent so leicht anheimfällt.
Mehr können und sollen auch die höchsten von unsem wissen-
schaftlichen Unterrichtsanstalten für die Ausbildung ihrer Zög-
linge nicht thun; und es würde dem Ernst, und der Wahrhaftig-
keit unserer deutschen Wissenschaft nicht entsprechen, wenn sie
sich den Anschein von Leistungen geben wollten, welche über
ihren Beruf und ihre Mittel hinausgehen. Die Universitäten
können keine wissenschaftlichen Grössen hervorbringen ; sie haben
das Ihrige vollauf gethan, wenn sie talentvolle junge Männer
durch methodische Ausbilduog in den Stand setzen, sich selbst
zu wissenschaftlichen Grössen emporzuarbeiten. Sie sind aber
auch überhaupt nicht blos Pflanzschulen fUr Gelehrte und wissen-
schaftliche Forscher. Die grosse Mehrzahl ihrer Schüler sucht
vielmehr auf ihnen die Vorbildung für einen praktisdien Beruf,
mit dem eine selbständige wissenschaftliche Thätigkeit zu ver-
binden nur einzelnen gelingt: sie sollen mit der Befähigung
zur eigenen wissenschaftlichen Arbeit zugleich die wissenschaft-
Uche Vorbildung für eine Reihe der wichtigsten, in das geistige,
physische und politische Leben des Volkes auf's tiefste ein-
greifenden praktischen Thätigkeiten gewähren. Es wird der
doppelten Veranlassung der heutigen Feier entsprechen, wenn
ich etwas näher auf die Bedingungen eingehe, unter denen sie
hoffen dürfen, dieser ihrer Aufgabe genügen zu können.
Auf den Universitäten , sagte ich , solle zugleich die Vor-
bildung für gewisse praktische Thätigkeiten und die Befähigung
zu eigener wissenschaftlicher Arbeit erworben werden können.
Diess ist nur dann kein Widerspruch, wenn vorausgesetzt wird,
dass jene praktischen Thätigkeiten im wesentlichen dieselbe
wissenschaftliche Ausbildung verlangen, deren die Forschung
des Gelehrten als ihrer allgemeinen Grundlage bedarf. Und
86 lieber akademisches Lehren und Lernen.
diess ist wirklich eine von den Vorausßetzungen, auf denen unser
deutsches Universitätswesen beruht Nur unter dieser Vomus-
setzung kann ja für den Eintritt in gewisse Beru&artai der Be-
such von Anstalten zur Bedingung gemadit werden, denen man
einen streng wissenschaftlichen Charakter zu wahren auf jede
Weise bemüht ist. Die blosse Uebung in Geschäften — das
ist der Sinn dieser Einrichtung — die blosse Fertigkeit in der
Anwendung überlieferter Lehren und Begeln genügt nickt; nur
eine gründliche wissenschaftliche Ausbildung kann dem Einzelnen
die geistige Selbständigkeit und die Einsicht verleihen, der^i er
bedarf, um den praktischen Angaben gerecht zu werden. Wer
an einer höheren Schule als Lehrer wirken will, der darf nicht
blos das gelernt haben, was er seinen Schülern mitzutheilen
bat, sondern er soll mehr gelernt haben : er soll in die Wissen-
schaft, in deren Anfangsgründe er die Knaben, in deren nächst
höhere Stufen er das beginnende Jünglingsalter einftLhrt, tief
genug eingedrungen sein, um die entfernteren Ziele dieses
Unterrichts aus eigener Erfahrung zu kennen, der Gründe
seiner Lehren auch dann sich bewusst zu sein , wenn sie über
das Verständniss seiner Schüler hinausgehen, neu gefundene
Wahrheiten sich aneignen, neu auftretende Ansichten prüfen zu
können. Wer zur Leitung einer Gemeinde oder einer Kirche,
zur Pflege des religiösen Lebens im Volke berufen ist, der soll
nicht blos ein Sprachrohr sein, durch das eine unverstandene
Ueberlieferung sich fortpflanzt, er soll auch nicht blos von
dunkeln Gefühlen, und wären sie noch so warm und febendig,
geleitet werden; sondern er soll über die Eigenthümlichkeit,
die Bedingungen und die Bedürfhisse des religiösen Lebens,
über seine geschichtliche Entwicklung und ihre Urkunden, durch
eigenes Nachdenken und Studium sich so gründlich orientirt
haben, dass er seine Aufgabe mit klarem Verständniss zu erfüllen
im Stande ist; er soll zu der Selbständigkeit herangereift sein,
deren es bedarf, um sich eine eigene Ueberzeugung zu bilden,
und zu der Einsicht, die uns das Wesentliche vom Unwesent-
lichen unterscheiden, fremde Ueberzeugungen verstehen und
achten lehrt; er soll von den Grundsätzen der heutigOT
Ueber akademisches Lehren und Lernen. g7
Wissensehaft, von der allgememen Bildung unserer Zeit so durch-
drungen, mit ihren unabweislichen Ergebnissen so vertraut sein,
das8 er nicht den fruchtlosen Versuch macht, sich dem unauf-
haltsamen Gange der menschlichen Geistesentwicklung entgegen-
zustemmen, das Neue vielmehr mit dem Alten zu versöhnen,
den unvergänglidien Kern der religiösen Wahrheit in den
wechselnden Formen seiner Erscheinung zu erkennen und zu
erhalten vermag. Wer als Richter oder als Sachwalter das
Becht handhaben, als Beamter die Yolkswohlfahrt schützen und
fördern will, der soll sich mit den allgemeinen Bedingungen
des wirthschaftlichen und des Bechtslebens, mit den Gründen
der rechtliclien und staatlichen Einrichtungen, mit den Ver-
hältnissen, auf welche sie sich beziehen, gründlich b,ekannt
gemacht und sich dadurch die Fähigkeit erworben haben, die
bestehenden Gesetze ihrem wahren Sinne nach anzuwenden, die
Lücken des Buchstabens ihrem Geiste gemäss zu ergänzen , an
der Fortbildung der rechtlichen und gesellschaftlichen Zustände
und der auf sie bezüglichen Lehren und Gesetze in seinem
Theil mitzuarbeiten. Wem die Sorge für die Gesundheit seiner
Mitmenschen anvertraut ist, den soll seine Wissenschaft so weit
gebracht haben, dass er von den Vorgängen im menschlichen
Organismus, von den Störungen, denen er unterliegt, den Ur-
sachen derselben und den Mitteln, ihnen zu begegnen, sich eine
klare Vorstellung zu bilden und auf Grund derselben sich auch
in verwickeiteren Fällen mit eigenem Urtheil zurechtzufinden,
den Fortschritten seines Faches zu folgen weiss; und je enger
der Zusammenhang des geistigen Lebens mit dem leiblichen ist,
je häufigere Gelegenheit ihm sein Beruf gibt , auf das Gemüth
derer, die seiner Fürsorge anvertraut sind, auf das sittliche
Leben der Einzelnen und der Familien wohlthätig einzuwirken,
um so höher sind die Ansprüche, die auch an seine Kenntniss
des menschliehen Seelenlebens und an seine allgemeine Bildung
gestellt werden. Es zeigt sich so überall, wo wir uns hinwenden,
wie unentbehriich eine gründliche wissenschaftliche Ausbildung
auch für die praktische Thätigkeit ist, wie viel sie dieser für
die Sicherheit und Selbständigkeit ihres Verfahrens, für die
88 * lieber akademisches Lehren und Lernen.
klare Auffassung und die zweckmässige Lösung ihrer Aufgaben
leistet ; und diess gilt von jeder einzelnen praktischen Thätigkeit
um so mehr, je unmittelbarer sie sich auf den Menschen und
die menschliche Gesellschaft bezieht. Diese Erkenntniss war es,
welche vor siebzig Jahren, in einer Zeit schwerer Bedrängniss,
zur Gründung unserer Hochschule geführt hat: die Wissenschaft
sollte dem Volksleben neue Kräfte zuführen, seine geistigen
Grundlagen vertiefen und sichern. Gerade die Berliner Universität,
wenn irgend eine, ist von Hause aus ein lebendiger Protest gegen
jene banausische Oberflächlichkeit, die da meint, unsere Universi-
täten seien eben gut genug, um auf ihnen zwischen Schule und
Leben ein paar unersetzliche Jugendjahre in äusserer Unge-
bundenheit hinzubringen, das eigentliche Lernen, die wirkliche
Ausbildung für die praktische Thätigkeit fange erst an, wenn
man der Wissenschaft und ihren Lehrern den Rücken gekehrt
hat; sie ist ein leuchtendes Denkmal für den Ernst, mit dem
ihr erhabener Gründer und die Staatsmänner, deren ßath ihm
zur Seite stand, von der Bedeutung der Wissenschaft für die
sittlichen und politischen Zustände der Völker überzeugt waren.
Diese ihre Bedeutung wird freilich nur dann zur Geltung
kommen , wenn die Wissenschaft selbst und ihre Lehre in dem
rechten Sinne betrieben wird. Eine wissenschaftliche Bildung
lässt sich nur da gewinnen, wo wirkliche Wissenschaft ist, wo
die Wahrheit als solche, ohne alle Nebenrücksichten, gesucht
und mitgetheilt wird; und eine Bildung durch die Wissenschaft
nur da, wo das Wissen nicht eine todte Ueberlieferung, sondern
eine lebendige Kraft, ein sich immer neu erzeugender Besitz
ist, wo die Wissenschaft den ganzen Menschen ergreift, seine
ganze Auffassung der Welt und des Lebens mit ihrem Geiste
durchdringt, seine Ziele klärt und veredelt, in seinem Wollen
und Empfinden ebensogut, wie in seinem Denken, zum Aus-
druck kommt. Li diesem hohen und umfassenden Sinn haben
die grossen Meister des Gedankens zu allen Zeiten ihre Auf-
gabe verstanden; diess ist jener sokratisch- platonische Begriff
der Liebe zur Weisheit, der Philosophie, der das Ideal jedes
wissenschaftlichen Mannes ausdrückt: dass mit dem Erkennen
Ueber akademisches Lehren und Lernen. 89
und durch das Erkennen auch der Charakter herangebildet,
dass der ganze Mensch in das Reich der Wahriieit, welches
auch das der Sittlichkeit ist, emporgehoben werde. Die Möglich-
keit, diesem Ideal im Lehren und im Lernen mit Erfolg nach-
zustreben, ist uns in den Einrichtungen unserer deutschen Uni-
versitäten in genügendem Masse gegeben; wie nahe wir ihm in
der Wirklichkeit kommen, hängt ganz imd gar von dem Geist
ab, in welchem, der Gewissenhaftigkeit und dem Geschick, mit
welchem die Mittel benützt werden, die sie gewähren.
Die Universitäten sind unsere höchsten Bildungsanstalten:
diejenigen, welche ihre Zöglinge zu selbständiger wissenschaft-
licher Arbeit oder zum unmittelbaren Uebergang in eine von
den höheren praktischen Berufsarten befähigen sollen. Schon
hiemit ist ausgesprochen, dass der Unterricht, welcher auf ihnen
erfheilt wird, den höchsten Anforderungen genügen soll, die an
einen wissenschaftlichen Unterricht gestellt werden können, dass
die Männer, die ihn ertheilen, jeder in seinem Fache, hinter
dem Standpunkte nicht zurückbleiben dürfen, den die Wissen-
schaft ihrer Zeit erreicht hat. Eine Universität ist allerdings
keine Akademie : der Universitätslehrer darf nie vei^essen, dass
er nicht vor wissenschaftlich Gereiften und ihm selbst Gleich-
stehenden seine Ansichten zu entwickeln, sondern solche, die diess
noch nicht sind, in die Wissenschaft erst einzuführen hat ; und es
gilt daher auch für ihn die Grundregel alles methodischen Unter-
richts, das, was er mittheilt, nicht ftliher mitzutheilen, als bis die
Bedingungen seines Verständnisses vorhanden, die Grundlagen für
den Weiterbau vollständig gelegt sind. Aber wenn auch der
Umfang und die Form der wissenschaftlichen Mittheilung durch
den Unterrichtszweck bedingt ist, so soll doch das, was geboten
wird, reine und strenge Wissenschaft sein. Auf tieferen Stufen
des Unterrichts ist es unvermeidlich, dass der Lehrer dem
Schüler die Gründe seiner Lehren nicht immer darlegen kann,
dass das Zutrauen zu dem Wissen des Lehrers die eigene Ein-
sicht noch vielfach ersetzen muss. Der Universitätsunterricht
soll zur wissenschaftlichen Selbständigkeit erziehen; und er
kann diess nur dadurch, dass er den Schüler gewöhnt, keinem
90 Ueber akademisches Lehren und Lernen.
wissenschaftlichen Satz auf blosse Auktorität hin beizupflichten,
bei jeder Annahme nach ihr^ Gründen zu fragen, die Aufeaben,
welche die Erscheinungen uns stellen, die Schwierigkeiten, die
von der Wissenschaft ihre Lösung erwarten, sich deutlich zu
madien, die verschiedenen Wege, die hieflir eingeschlagen werden
können, zu prüfen, zwischen den Thatsachen und den Hypothesen,
dem Erwiesenen und dem mehr oder minder Wahrscheinlichen
scharf und klar zu unt^scheiden. Dieser Unterricht soll aber
nicht blos in den einzelnen Disdplinen zu einem gründlichen,
selbständigen und methodischen Studium anleiten, sondern er
soll auch dazu hinführen, dass man sich an den Aufgaben des
besonderen Faches zugleich die allgemeinen Bedingungen und
Grundsätze des wissenschaftlichen Verfahrens zum Bewusstsein
bringt und sich in ihrer Anwendung übt; dass man. die Ergeb-
nisse der eigenen Wißsenschaft mit denen der übrigen ai ver-
knüpfen, sie in das Gajize einer umfassenden wissenschaAlichea
Weltansicht einzureihen sich bestrebt; dass die Vertiefung in's
Besondere, die Genauigkeit in seiner Bearbeitung, mit der Er-
weiterung des ganzen geistigen Horizonts Hand in Hand geht
Seine Aufgabe ist nicht blos die eines Fachunterrichts, sondern
zugleich die einer durchgreifenden wissenschaftlichen Bildung.
Es liegt nun am Tage, dass dieser Aufgabe nur soldie
Lehrer vollkommen gewachsen sein werden, welche daß, was äe
lehren, nicht blos als gelehrige Schüler von anderen empfan^n
haben, mögen sie auch das empfangene mit noch so viel Ge-
schick und Verständniss weiter geben; dass nur derjenige andere
in die Kunst des selbständigen Denkens und Forschens einzu-
führen geeigitöt ist, der diese Kunst selbst besitzt und in der
Bearbdtung eines weita'en oder engeren Wissensgebietes edoig"
reich bewährt hat. Wenn daher unsere Regierungen und Üni-
versitätsverwaltungen bemüht sind, für die akademischen Lehr-
stühle Männer zu gewinnen, die sich nicht blos als Lehrer
sondern auch als wissenschaftliche Forscher erprobt haben, und
wenn in Folge davon in Deutschland die Fortbildung der
Wissenschaften ganz überwiegend in die Hände der üniv««itäts-
lehrer gelegt ist, so wird man diess in der Hauptsache nur
Ueber akademisches Lehren und Lernen. 91
gutheissen können. Es kann freilich geschehen, dass ein hervor-
ragender Forscher znr Lehrthätigkeit keine Lust oder kdn Ge-
schick hat; dass er daher der Wissenschaft grössere Dienste zu
leisten im Stande ist, wenn er sich auf die dgene Arbeit be-
schränkt, und es anderen überlässt, die Früchte derselben für
den Untemcht zu verwerthen. Es wäre vielleicht zu wünschen,
dass wir mehr Männer hätten, denen ihre Verhältnisse es er-
laubt^ii und die ihre Neigung dazu hinfilhrte, sich der wissen-
schaftlichen Arbeit zu widmen, ohne durch ein akademisches
Lehramt dazu aufgefordert und durch die Geschäfte desselben
in der Verfolgung jenes Ziels beschränkt zu sein. Wir können
und wollen es nicht verbergen, dass die Wissenschaft, wenn die
Pflege derselben dem Lehrstand ausschliesslich oder fast aus-
schliesslicb überlassen wird, in Gefahr kommt, der Einseitigkeit,
welche jedem Stand als solchem anhaftet, dem Bann einer
schulmässigen Ueberliefenmg zu verfallen ; dass nicht allein von
den wissenschaftlichen Reformatoren des siebzehnten Jahrhunderts
die meisten, sondern auch von ihren Nachfolgern im achtzehnten
Bicht wenige ausserhalb eines Universitätsverbandes standen;
dass auch in unseren Tagen der Wissenschaft in und ausser
Deutschland von Männern, die nicht zu den Universitätslehrern
gehörten, von denen einzelne gar kdne Universitätsbildung ge-
nossen hatten, hervorragende Di^iste geleistet worden sind,
dem Gelehrt^sstande frisches Blut zugeführt, durch eingreifende
Entdeckungen, neue Gesichtspunkte, fruchtbare Gedanken der
geistige Horizont erweitert und aufgeklärt worden ist Ebenso-
wemg lässt sich andererseits verkennen, dass auch solche, deren
Nam^ in der Geschichte ihrer Wissenschaft kaum genannt wird,
nicht selten als Lehrer eine bedeutende und einflussreiche
^Wirksamkeit gewonnen haben. Aber im grossen und ganzen
wird sidi doch die Verbindung der produktiven wissenschaftlichen
Arbeit mit der akademischen Lehrthätigkeit, wie sie bei uns
übhch ist, sowohl vor der Erfahrung als auf Grund allgemeinerer
Erwägungen bewähren; und weder die deutsche Wissenschaft
noch der deutsche Universitätsunterrieht unserer Zeit, welche
beide ihr eigenthümliches Gepräge zu einem guten Theile dieser
92 Ueber akademisches Lehren und Lernen.
Verbindung verdanken, werden die Vergleichung mit anderen
Ländern und Zeiten zu scheuen haben. Wo der Universitäts-
bildung ihre Ziele weniger hoch gesteckt werden, als bei uns,
da wird es für die Meister der Wissenschaft allerdings geringeren
Beiz haben, sich als Lehrer in ihren Dienst zu stellen, und man
wird sich mit geringeren Ansprüchen an diejenigen, welche diess
thim, begnügen können. So lange femer die freie Forschung
der Neuzeit sich das Recht zum Dasein erst von einer Scholastik
zu erkämpfen hatte, die im Besitz aller Lehrstühle war und ihr
Monopol eifersüchtig, mit Lehrverboten und Absetzungen, ver-
theidigte, war es nicht anders möglich, als dass von denen, die
neue Bahnen einschlugen, die meisten auf eine akademische
Thätigkeit entweder von Hause aus verzichteten, oder die Wege
dazu sich verschlossen fanden. Aber wo diese Hindemisse nicht
im Weg stehen, wo der Forscher bei seinem Unterricht von
der Höhe seiner Wissenschaft nicht herabzusteigen braucht, wo
er ohne Gefahr für seine akademische Stellung jede wissenschaft-
liche Ueberzeugung frei vortragen kann, da ist die Verbindung
von Lehrthätigkeit und wissenschaftlicher Arbeit naturgemäss und
gesund, und die eine wie die andere wird sich in derselben wohl
befinden. Ich erlaube mir diess etwas eingehender zu begründen.
Wir kennen alle den Spmch : docendo discimm, „wir lernen
durch Lehren". Und welcher akademische Lehrer hätte es nicht
erfahren, wie vielfache Fördemng seine Lehrthätigkeit dem
wissenschaftlichen Leben des Lehrers selbst bringt? wie wohl-
thätig für den, welchen einzelne Arbeiten oft Jahre und Jahr-
zehende lang festhalten, ein Beruf ist, der ihn nöthigt, weitere
Gebiete der Forschung wiederholt zu durchwandem, sich in den-
selben auf dem Laufenden zu erhalten und mit allen wichtigeren
neuen Erscheinungen auseinanderzusetzen ; wie gerade die wissen-
schaftliche Mittheilung an solche , die in einen Gegenstand erst
eingeflihrt werden sollen, dazu auffordert, ihn von den ver-
schiedensten Seiten zu betrachten, die Begriffe zu zergliedern
und zu verdeutlichen, die Annahmen immer wieder zu prüfen,
ihre Begründung zu vervollständigen und zu schärfen ; wie oft
während des Lehrvortrags selbst eine neue Combination sich
1
Ueber akademisches Lehren und Lernen. 93
einstellt, eine Frage, die Antwort erheischt, aufbaucht, eine
Schwierigkeit, an der man vorübergegangen war, sich bemerkbar
macht, und zu eingehenderer Untersuchung Veranlassung gibt.
Indem der Lehrer andere wissenschaftlich zu fördern 'sucht,
fördert er, wenn er diess auf die rechte Art thut, immer zugleich
sich selbst: wir lernen durch Lehren. Aber ebenso wahr ist
dieser Satz, wenn man ihn umkehrt: dtscendo docemu.% wir lehren
durch Lernen. Ein guter Lehrer ist nur der, welcher selbst
noch ein Lernender ist, in welchem die wissenschaftliche Arbeit
nicht stillsteht, welcher nicht aufhört zu fragen und zu forschen,
Erweiterung, Berichtigung, Klärung und Vertiefung seines Wissens
zu suchen. Der Zweck des akademischen Unterrichts ist ja nicht
blos die Mittheilung von Kenntnissen oder die Ueberlieferung
von Lehrsätzen und Beweisen, die als geprägte Münze von
Hand zu Hand gehen könnten. Wer sich darauf beschränken
wollte, von dem würde jenes treffende Wort des Aristoteles
(Top. K, 34. 184 a) gelten, welcher diese mechanische Lehr-
weise mit dem Verfahren eines Handwerkers vergleicht, der
seinem Lehrling einen Vorrath fertiger Waaren in die Hand
gäbe, statt ihm zu zeigen, wie man sie verfertigt. Eben diess
ist vielmehr bei allem Unterricht die Hauptsache: dass man
nicht blos ein bestimmtes Wissen erwerbe, was freilich unent-
behrlich ist, sondern dass man es sich auch auf die rechte Art
erwerbe, und dadurch die Uebung des Denkens, die Sicherheit
des Verfahrens, die Selbständigkeit des Urtheils gewinne, welche
zu eigener wissenschaftlicher Arbeit befähigt. Was Kant in einer
Ankündigung seiner Vorlesungen seinen Zuhörern verheisst: sie
sollen bei ihm nicht Philosophie lernen, sondern philo-
sophiren lernen, das lässt sich auf jeden wissenschaftlichen
Unterricht anwenden. Eine wissenschaftliche Ueberzeugung ist
nur die, welche man nach klar erkannten Gründen sich selbst
gebildet hat; sie lässt sich daher in einem andern nur dadurch
hervorbringen, dass man ihn veranlasst, sie auf diesem Wege
sich zu bilden: sie kann nicht direkt, als blosses Resultat, mit-
getheilt, sondern nur indirekt, durch Anregung und Leitung
seiner eigenen Erkenntnissthätigkeit, in dem andern hervor-
94 üeber akademisches Lehren und Lernen.
gerufen werden. Diese Anregung und Leitung kann aber doch
nur darin bestehen, dass der Lehrer theils durch sein eigenes
Beispiel zeigt, wie die wissenschaftlichen Untersuchungen geführt,
die wissenschaftlichen Wahrheiten geftmden werden, theils die
gleichartigen Versuche des Schülers beurtheilt und berichtigt;
und das eine wie das andere wird nur der mit Erfolg leisten,
welcher den Geist und die Methode der wissenschaftlichen
Forschung nicht etwa nur als eine Erinnerung von früher her
in sich hat, sondern mitten darin steht. Nur ein solcher wird
auch seinen Schülern als ein Vorbild für ihr eigenes Streben
dienen können ; nur er wird ihnen die Anschauung eines Mannes,
der die Wahrheit und Sonst nichts sucht, der sich der Aufgabe,
sie zu finden, ganz imd voll hingibt, eines wissenschaftlichen
Charakters, gewähren, nur aus ihm wird eine Ahnimg vom
Glück des Erkennens, wird die Freude am wissenschaftlichen
Arbeiten imd Schaffen auf sie überfliessen. Dieser Hauptsache
gegenüber tritt manches andere, was bei äusserlicher Betrachtung
zimächst in's Auge fällt und desshalb in seiner Bedeutung leicht
überschätzt wird , in die zweite und dritte Stelle zurück. Zum
Lehrer eignet sich der Gelehrte freilich nur dann, wenn ihm die
wissenschaftliche Mittheilung als solche Freude macht; wenn
ihn sein eigenes Bedtirfhiss dazu hintreibt, die jüngere Generation
in sein geistiges Leben einzuführen; wenn ihm jeder Fortschritt,
den sie ihm verdankt , eine innere Befriedigung gewährt, wenn
ihm seine Lehrthätigkeit eine Lust, nicht eine Last ist. Es muss
femer von jedem Lehrer verlangt werden, dass er das, was er
weiss, klar und geordnet, in gefälliger Form mitzutheilen , dass
er sich auf den Standpunkt seiner Schüler zu versetzen, und
seine Mittheilung ihrem Bedürfhiss anzupassen im Stande sei;
und wem es an dieser Fähigkeit allzusehr fehlte, der würde
vielleicht ein grosser Forscher, aber kein guter Lehrer sein
können. Aber sie wird nicht leicht jemand fehlen , der über-
haupt klar und methodisch zu denken gewohnt ist; und auch
was seine Naturanlage ihm erschwert, wird ein solcher, wenn er
nur Lust und Liebe zur Sache hat, durch Uebung erreichen können.
Jener Glanz des Vortrags dagegen, der beim ersten Anblick
üeber akademisches Lehren und Lernen. 95
blendet, jene rednerischen Vorzüge, welchen nicht selten ein
übermässiges Gewicht beigelegt wird, sind für dcai wissenschaft-
lichen Unterricht als solchen nur von untergeordnetem Werthe,
und wo sie sich zu stark in den Vordergrund drängen , ge-
radezu eine Gefahr für denselben. Man macht uns Deutschen
aUerdings nicht mit Unrecht den Vwwurf , dass wir nicht blos
den Schmuck der Jäede, sondern audi die Reinheit der Sprache
und die Ge&lligkeit der Darstellung nicht genug zu würdigen
wissen; und ich bin weit entfernt, zu bestreiten, dass wir
auch ftkr den wissenschaftlichen Vortrag in dieser Beziehung
noch manches zu lernen haben. Aber der Hauptzweck des
letzteren ist die wissenschaftliche Belehrung : er soll nicht tiber-
reden, sondern tiberzeugen, nicht eine augenblickliche Wirkung
auf das Gefiüd oder die praktische EntSchliessung hervorbringen,
sondern eine dauernde auf das Denken. Sein wesentlichster
Vorzug besteht daher in der klaren und durchsichtigen Dar-
stellung der wissenschaftlichen Gedanken ; und wenn hiezu freilich,
wie zu jeder guten Darstellung, eine reine und gebildete Sprache
gehört, so müssen doch bei ihm die eigenthümlichen Aufgaben
und Vorzüge des Redners hinter die des Lehrers zurücktreten.
Die scharfe und unzweideutige Bezeichnung der Begriffe, die
logische Gliederung der Sätze, das plastische Hervortreten der
leitenden Gedanken sind ftür den wissensdiaftlichen Vortrag viel
wichtiger, als diejenigen Eigenschaften, welche zwar seine ästhe-
tische Wirkung erhöhen, aber zur Belehrung der Zuhörer nichts
beitragen. Nicht als ob die letzteren an ihrem Orte nicht gleich-
falls 2.U schätzen wären; nur davor hat man sich zu hüten, dass
sie sidi nicht an die Stelle dessen setzen, was für den Haupt-
zweck zunächst noththut, und die Auftnerksamkeit von ihm ab-
lenken; und wenn einmal nach der einen oder der andern
Seite gefehlt wird, so gilt hier gerade die alte Regel, welche
Cicero selbst dem Redner einschärft, dass das Zuviel schlimmer
ist als das Zuwenig. Dabei darf man aber nicht vergessen, dass
sowohl die Verschiedenheit der Gegenstände als die der Personen
eine grosse Mannigfaltigkeit der Behandlung nicht blos erlaubt,
sondern auch fordert. Die Geschichte verlangt einen andern
96 lieber akademisches Lehren und Lernen.
Stil als die Mathematik, die Aesthetik einen andern als die
Osteologie. Und was bei dem einen schön erscheint, weil es der
natürliche Ausdruck seiner Geistesart ist, das kann bei einem
andern den Eindruck des Gesuchten und Ueberladenen machen;
was ims erfreut, wo es frisch aus der Quelle hervorstromt, das
kann uns abstossen, wo es sich als ein gemachtes und künstlich
vorbereitetes darstellt. Eines schickt sich eben nicht für alle,
und so lange es verschiedene Bäume gibt, wird ihnen auch eine
verschiedene Einde wachsen. Nicht eine äusserliche Gleich-
förmigkeit ist es, um die es sich handelt, sondern die Gleich-
artigkeit des wissenschaftlichen Geistes neben der freiesten
Mannigfaltigkeit der Formen, in denen er sich ausspricht; und
das gerade ist das Schöne und Fruchtbare an unsem Universi-
täten, dass sie diese Freiheit ertragen und pflegen, dass sie
es jedem von ihren Lehrern gestatten, nach seiner Eigenart
im Dienste des Ganzen zu arbeiten, und jedem die Gelegenheit
geben, sich in seinem wissenschaftlichen Leben imd Wirken
durch andere zu ergänzen.
Allein der Erfolg eines Unterrichts hängt nur zur einen
Hälfte davon ab, wie er ertheilt wird, zur andern dagegen
davon, wie er benützt wird. Soll die Thätigkeit der Lehrer
ihr Ziel nicht verfehlen, so muss ihr die der Schüler in ihrem Theil
entgegenkommen. Der Unterricht kann das Talent nicht ersetzen ;
er kann es nur zur Entwicklung seiner Kräfte anregen, es in die
rechte Bahn leiten, ihm den geeigneten Wissensstoff zuftihren.
Und wie jede bestimmte Unterrichtsstufe ihre eigene Aufeabe
hat, so hat auch jede ihre eigenthümlichen Voraussetzungen.
Einen ausgiebigen Erfolg kann nur der von seinem Universitäts-
studium hoffen, welcher mit genügender Vorbildung an dasselbe
herantritt. Durch das Mass und die Richtung dieser Vorbildung,
so wie sie bei dem Durchschnitt der Zuhörer vorausgesetzt
werden kann, ist die Haltung der akademischen Lehrvorträge
bestimmt, und sie muss diess sein, da sie eben nicht selbständige
wissenschaftliche Kunstwerke, sondern ein Mittel zur Belehrung
dieser bestimmten Zuhörerschaft sein sollen. Sinkt jenes Mass
unter einen gewissen Höhepunkt herab, so werden die Vorträge
Ueber akademisches Lehren und Lernen. 97
entweder denen, auf die sie berechnet sind, unverständlich, sie
fallen wirkungslos zu Boden, oder wenn sie sich der Bildungs-
stufe derselben anbequemen, müssen sie gleichfalls an ihrem
wissenschaftlichen Werth und Charakter verlieren. Ist die Vor-
bildung der Zuhörer ihrer. Richtung imd Eigenthümlichkeit nach
zu ungleich, so findet der Lehrer immer nur bei einem Theil
derselben die Anknüpfungspunkte, deren es ziup vollen Ver-
ständniss seiner Mittheilungen bedarf. Es ist daher eine aus
der Natur des höheren wissenschaftlichen Unterrichts hervor-
gehende Forderung, dass die Zulassung zu einem regelmässigen
Universitätsstudium von dem Nachweis einer genügenden Aus-
bildung in den Fächern abhängig gemacht werde, welche als die
allgemeine Vorbedingung eines firuchtbaren Studiums zu be-
trachten sind; und da unsere Universitäten nicht blosse Samm-
lungen von Fachschulen sein wollen, die mit verschiedenartigen
Zielen neben einander hergiengen, sondern wissenschaftliche
Organismen, die in allen ihren Theilen von dem gleichen Geiste
belebt, auf die gleichen Ziele gerichtet sind, da der Unterricht
an ihnen in allen Fächern nach denselben Grundsätzen ertheilt,
ihre Zöglinge einer gleichartigen und gleichwerthigen wissen-
schaftlichen Ausbildung zugeführt werden sollen, da auch die
Unterschiede der Fachwissenschaften eine Gemeinschaft in ge-
wissen die aDgemeinen Grundlagen der Wissenschaft betreffenden
Unterrichtszweigen nicht ausschliessen , so hat auch das seinen
guten Grund, wenn sie sich dagegen sträuben, dass durch eine
allzu ungleichartige Vorbildung ihrer Schüler in den akademischen
Unterricht und das akademische Leben Gegensätze hereingetragen
werden, welche auf die Zwecke des Universitätsstudiums nur
nachtheilig einwirken könnten.
Doch auch solche, denen es weder an den nöthigen Gaben
noch an der nöthigen Vorbildung fehlt, haben von ihrem Studium
nur allzu oft nicht den Nutzen, den sie von ihm haben könnten,
weil sie es an sich selbst fehlen lassen. Die Zeit, welche für
die Studien bestimmt ist, wird ja den meisten so sparsam
zugemessen, die Masse dessen, was nicht blos gelernt, son-
dern auch durchdacht sein will, ist so gross, dass die treueste
Zell er, Vorträg;e und Abhandli 7
98 üeber akademisches Lehren und Lernen.
Benützung jener Zeit nnerlässlich ist, um sie auch nur annähernd
zu bewältigen. Und auch wo man keinen Anlass hat, über
Mangel an Fleiss zu klagen, ist doch dieser Fleiss nicht immer
von der rechten Art. Der Au%abe des Universitätsstudimns ist
damit noch lange nicht genügt, dass man die Vorlesungen regel-
mässig besucht imd den Inhalt derselben sich einprägt ; so nöthig
diess auch an sich selbst ist. Eine wirkliche wissenschaftliche
Ausbüdimg erlangt man vielmehr nur durch eigene Arbeit; und
wenn diese allerdings einem wesentlichen Bestandtheil nach
während der ganzen Studienzeit darin bestehen wird, dass man
sich des gegebenen Lehrstofis bemächtigt und ihn möglichst voll-
ständig mit seinem Verständniss zu durchdringen sich bemüht,
so muss sich doch mit der Benützung der Vorlesungen das eigene
Studium wissenschaftlicher Werke, imd mit beiden muss sich in
demselben Masse, wie im Fortgang der Studien die Kraft dazu
wächst , die selbständige wissenschaftliche Thätigkeit verbinden.
Es handelt sich ja beim Universitätsstudium nicht blos um ein
Wissen, sondern noch mehr um ein Können: die geistige An-
lage soll zur Kunst entwickelt, es soll die Sicherheit des Ver-
fahrens und des Urtheils erworben werden, auf der die wissen-
schaftliche Mündigkeit beruht. Dazu führt aber nur die Uebmig
der Kräfte durch selbständige Bearbeitimg wissenschaftlicher
Aufgaben. Diese Aufgaben werden je nach der Natur des Faches,
um das es sich handelt, von der verschiedensten Art sein; aber
immer werden sie darauf gerichtet sein müssen, zunächst im
kleinen an diejenige Art der Arbeit zu gewöhnen und in ihr zu
üben, auf deren Anwendimg im grossen die wissenschaftliche
Forschung beruht. Eben diess ist auch der Gesichtspunkt, von
welchem die Preisaufgaben der Universitäten für ihre Zöglinge
im Unterschiede von denen ausgehen, welche von wissenschaft-
lichen Corporationen zur Wettbewerbung für die Gelehrten aus-
geschrieben werden. Bei den letzteren ist der Hauptzweck die
Erweiterung unseres Wissens durch die Untersuchung einer noch
unerledigten Frage, bei den ersteren die Erprobung des wissen-
schaftlichen Vermögens an einer bestimmten Aufgabe: dort
handelt es sich um die Leistung, hier um die Leistungsfähigkeit;
lieber akademisches Lehren und Lernen. 99
und nach dieser verschiedenen Abzweckung hat der Umfang und
der Charakter der Aufgaben sich zu bestimmen.
Der letzte Zweck alles Wissens und aller wissenschaftlichen
Arbeit ist aber die Bildung des Geistes. Nur wenn sie diesem
Zweck dient, wird jene Arbeit in dem rechten Sinne betrieben,
und nur dann kann sie auch ihrer nächsten Au%abe, der des
wissenschaftlichen Erkennens, genügen. Wie es zweierlei Be-
weggründe gibt, um das Gute zu thun und das Schlechte zu
unterlassen : die Freude am Guten imd die Hoffiiung auf Lohn,
der innere Widerwille gegen das Schlechte und die Furcht vor
Strafe, so gibt es auch verschiedene und sich ihrem innersten
Wesen nach entgegengesetzte Triebfedern, aus denen der Eifer
in der wissenschaftlichen Arbeit hervorgehen kann. Wer sich
dieser Arbeit nur desshalb widmet, weil er in ihr ein Mittel zum
äusseren Fortkommen sieht, weil er durch sie eine angesehene
Stellung, Besitz und Ehre zu gewinnen hofft, der wird sich
immerhin nützliche Kenntnisse, werthvoUe und unentbehrliche
Fertigkeiten erwerben, sich vielleicht zu einem geschickten Arzt,
einem brauchbaren Geschäftsmann oder Beamten befähigen, und
er wird dadurch hoch über dem stehen, welcher jedes ernsteren
Strebens entbehrend seine Zeit in Trägheit und Sinnengenuss ver-
geudet. Aber den höchsten Gewinn, den ihm sein Studium bringen
könnte, lässt er sich entgehen : die Ausbildung seines Geistes und
seines Charakters, die Erhebung über das, was den gemeinen Sinn
bindet, die idealen Güter, die nur dem reinen und freien, dem
uneigennützigen Streben nach Wahrheit zum Preis gesetzt sind.
Niemand wird ja einen jimgen Mann darum tadeln, wenn er
von dem Benife, für den er sich vorbereitet, sich zeitig ein ge-
naues Bild zu verschaffen, nichts, was ihn für denselben be-
föhigen kann, zu versäumen sich zur Pflicht macht; wenn die
Hoffiiung, sich mit dem, was er gelernt hat, in der Welt fort-
bringen, sich Achtung und Ansehen erwerben zu können, wenn
der edle Ehrgeiz, sich durch Tüchtigkeit auszuzeichnen, ihn unter
Mühen und Entbehrungen aufrechthält, zur Anstrengimg und Be-
harrlichkeit ermuntert. Aber ein anderes ist es, ob diese Motive
den höheren und edleren hülfreich zur Seite stehen, oder ob
100 Ueber akademisches Lehren und Lernen.
sie dieselben überwuchern und ersticken. Wem seine Wissen^
schalt nur die milchende Kuh ist, die ihn einmal mit Butter
versorgen soll, wer das schöne Vorrecht der Jugend, für ideale
Zwecke ohne äussere Rücksichten sich zu begeistern , für ein
Linsengericht wegzuwerfen im Stande ist, der zeigt ebendanait,
dass weder von ächter Liebe zur Wahrheit noch von dem inneren
Glück eines Wahrheit suchenden Geistes eine Ahnung in seine
Seele gekommen ist Einem solchen wird aber auch in der
Wissenschaft selbst nie etwas grosses gelingen, die vrtrkliche und
ächte Wissenschaft wird ihm vielmehr nothwendig fremd bleiben.
Denn diese ist nur da, wo man die wissenschaftlichen Gründe
über seine Ansichten unbedingt entscheiden lässt. Wie wäre
diess aber demjenigen möglich, dem seine Wissenschaft selbst
nur als ein Mittel für anderweitige, persönliche Zwecke einen
Werth hat? Wo er von einem Wissen keine Vortheile fttr sich
selbst erwartet, da wird er an dem Gegenstande gleichgültig
vorbeigehen, so wichtig er auch an sich sein mag; und wenn
ihn eine wissenschaftliche Ueberzeugung mit der herrschenden
Strömimg in Konflikt bringen, wenn sie ihm Ungimst und Zurück-
setzung zuziehen könnte, wird er sie mit allen Mitteln von sich
abwehren, so unabweislich sie auch seiner eigenen Einsicht sich
aufdrängt. Er wird vielleicht die Ehrlosigkeit nicht über sich
gewinnen, die klar erkannte Wahrheit mit ausdrücklichem Be-
wusstsein zu verläugnen ; aber er wird dadurch noch lange nidit
gegen die Unehrlichkeit jener Selbsttäuschungen geschützt sein,
deren letzter Grund nicht im Irrthum liegt, sondern im In-
teresse, in dem Wunsche, das zu glauben, was die Wissenschaft
längst widerlegt, oder das nicht zu glauben, was sie unwider-
leglich bewiesen hat. Und je weniger nun einem solchen
Wunsche sachliche Gründe zur Seite stehen, um so leichter lässt
man sich durch denselben einer rabulistischen Sophistik in die
Arme führen, welche gerade für die Fähigeren desshalb eine
grössere Gefahr bildet, weil ihnen ihr Verstand und ihr Wissen
die Mittel dazu in die Hand gibt. Gegen solche Verirrungen
gibt es nur Eine sichere und durchgreifende Abhülfe : jene reine,
zum Charakter gewordene Liebe zur Wahrheit, welche die Frage
Ueber akademisches Lehren und Lernen. 101
zum voraus abschneidet, ob ein Fortschritt in unserem Wissen
uns wohl auch Vortheil bringen werde, welche es dem, der von
ihr erfollt ist, einfach zur Unmöglichkeit macht, wissenschaftliche
Fragen vor sich selbst oder vor andern nach Rücksichten statt
nach Gründen zu entscheiden. Und eben hierin liegt auch der
nachhaltigste Schutz gegen die sittlichen Gefahren, die einer sich
selbst überlassenen , der inneren Keife erst entgegengehenden
Jugend von so mancher Seite her drohen. Wer mit seinem Sinn
auf geistige Güter gerichtet ist, wer das Glück eines ernsten
geistigen Strebens mehr als oberflächlich gekostet hat, dem kann
es ja nicht wohl sein im Niedrigen und Gemeinen, der muss ja
sich selbst zu hoch halten, um sich mit solchem zu beflecken,
dessen er sich vor seinem eigenen besseren Gefühl schämen
müsste. Fallen auch die Aui^aben des wissenschaftlichen Er-
kennens und des sittlichen Handelns im einzelnen nicht zu-
sammen, ihre tiefste Wurzel ist eine imd dieselbe: die reine
uneigennützige Liebe zum Idealen.
Dass die Studien an unsem Universitäten in diesem Sinne
betrieben sein wollen, diess spricht sich in den Eimichtungen
dieser Anstalten vor allem durch zwei Züge aus, welche sich in
dieser Gestalt nur bei den deutschen oder nach deutscher Art
eingerichteten Hochschulen finden: in der organischen Ver-
bindung der einzelnen Fächer zu einem wissenschaftlichen Ganzen,
und in der ihren Lehrern wie ihren Schülern gewährten wissen-
schaftlichen Freiheit. Wenn wir uns nicht mit einzelnen Fach-
schulen oder einem äusserlichen Zusammensein solcher Fach-
schulen begnügen, ebensowenig aber die Ausbildung für den
besondem Beruf von unsem Universitäten wegweisen und die-
selben auf die allgemein bildenden Fächer beschränken, so heisst
diess: wir sind überzeugt, dass sich eine tüchtige Fachbildung
nur auf dem Grund einer tüchtigen allgemein wissenschaftlichen
Bildung gewinnen lässt, dass niemand den Anspruch machen kann,
ein wissenschaftlich gebildeter Theolog oder Jurist oder Medi-
aner oder was immer zu sein, der sich nicht mit dem Geist der
Wissenschaft als solcher durchdrungen, den Zusammenhang seines
besonderen Fachs mit dem ganzen Gebäude des menschlichen
102 lieber akademisches Lehren und Lernen.
Wissens im Auge behalten, sich für alles Wissenswerthe,
auch wenn es über seinen nächsten Studienkreis hinausgeht, die
Empfänglichkeit und das Interesse bewahrt hat. Diese Empfäng-
lichkeit und dieses Interesse hat aber nur der, welchem das
Wissen nicht blos für ein Mittel zur Erwerbung gewisser Fertig-
keiten oder gar nur zum Erwerb äusserer Vortheile, sondern
an sich selbst für ein hohes Gut gilt ; welchem das Erkennen der
Wahrheit als solches Bedürfiiiss ist, imd daher jeder Fortschritt
im Erkennen an und für sich und auch ganz abgesehen von
seiner praktischen Verwendung von Werth ist ; welcher mit Einem
Wort von jener freien und uneigennützigen Liebe zur Wahrheit
erfüllt ist, die ich so eben als die sittliche Grundbedingung alles
ächten wissenschaftlichen Strebens bezeichnet habe. Wem dieses
rein wissenschaftliche Interesse fehlt, der könnte sich diejenigen
Kenntnisse und Fertigkeiten, um die es ihm allein zu thun ist,
allerdings auf einer wohleingerichteten Fachschule ebensogut er-
werben, als auf einer Universität, und wenn unsere Staaten
demselben keinen Werth beilegten , könnten sie sich auf solche
Fachschulen beschränken. Wenn sie diess nicht thun, so sprechen
sie ebendamit aus, dass sie unter der wissenschaftlichen Bildung,
zu der sie auf ihren Universitäten Gelegenheit geben wollen,
eine allgemeine und von wirklichem wissenschaftlichem Geist
getragene verstehen; sie legen Werth darauf, dass die Lehrer
wie die Schüler derselben auch mit denen, welche nicht dem
eigenen Fach angehören, in ein Verhältniss gegenseitiger wissen-
schaftlicher Einwirkung treten und sich durch sie ergänzen.
Durch jene höhere Auf&issung des Universitätsstudiums und
seiner Aufgabe ist aber auch die Freiheit bedingt, deren sich
die Lehrer an unsem Universitäten für ihre Vorträge, die
Schüler für ihre Studien erfreuen. Für die blosse Fortpflanzung
einer wissenschaftlichen Ueberlieferung oder eines technischen
Verfahrens können dem Lehrer bestimmte Vorschriften gegeben
werden, an die er sich zu halten hat; die wissenschaftliche
Selbstthätigkeit gedeiht nur in der Freiheit, weil eine
wissenschaftliche Ueberzeugung überhaupt nur die ist, welche
man durch eigene Prüfung ihrer Gründe sich selbst erworben,
Ueber akademisches Lehren und Lernen. 103
nicht auf fremdes Geheiss angenommen hat. Ebendesshalb ist
aber auch die Erziehung zur wissenschaftlichen Selbstthätigkeit
nur dadurch möglich, dass der Lehrer seiniB Ueberzeugungen und
die Gründe, auf denen sie beruhen, die Zweifel, die sich ihm
aufdrängen, die Schwierigkeiten, die er vielleicht auch in solchem
findet, was von den meisten für unantastbar gehalten wird, dass
er mit Einem Worte den Stand und die Ergebnisse seines
eigenen Denkens mit voller Offenheit darlegt. Es ist der Stolz
unserer Universitäten und eine von den Grundbedingungen ihres
wissenschaftlichen Lebens, dass die Freiheit dazu ihren Lehrern
nicht verkümmert wird. Es geschieht im Interesse dieser Frei-
heit , wenn jedem Befähigten gestattet wird, sich der akademi-
schen Lehrthätigkeit zu widmen. Wir verdanken dieser Ein-
richtung, um die andere uns beneiden, nicht nur eine werth-
volle Ergänzung unserer Lehrkräfte und eine durch nichts anderes
zu ersetzende Pflanzschule von wissenschaftlichen Lehrern und
Forschem, sondern in ihr liegt auch eine weitere Bürgschaft
daftlr, dass jede wissenschaftliche Ansicht an unsem Hochschulen
ungehindert zum Wort kommen imd mit allen andern in die
Schranken treten kann, eine Bürgschaft der Lehrfreiheit. Indem
der Staat diese Freiheit gewährt, spricht er das Vertrauen zu
der Wissenschaft und zu ihren Lehrern aus, dass sie dieselbe
ertragen können, die Ueberzeugung, dass das einseitige und ver-
fehlte, was im Laufe der wissenschaftlichen Entwicklung ja immer
bald da bald dort hervortreten wird, mit nachhaltigem Erfolg
nur durch die bessere Einsicht berichtigt, nicht durch äusserliche
Mittel verhindert werden könne. Er spricht aber auch das Ver-
trauen zu den Jüngern der Wissenschaft aus, dass sie im Streit
der Ansichten sich selbst zurechtfinden, sich eine eigene Meinung
zu bilden im Stande sein werden ; und weil eben nur die selbst-
erworbene, mit voller Freiheit gewonnene Ueberzeugung einen
Werth hat imd den Namen einer wissenschaftlichen Ueber-
zeugung verdient, gibt er jedem die Wahl der Lehrer und der
Universitäten frei, deren Leitung er sich anvertrauen will, ver-
zichtet er auf jede direkte Ueberw^achung des Fleisses, mit
welchem der Universitätsunterricht benützt wird. Das eigene
104 üeber akademisches Lehren und Lernen.
Bedtirfniss , das Gefiihl der eigenen Verantwortlichkeit soll der
Sporn sein, welcher den Einzelnen antreibt, alle seine Kräfte
flir seine wissenschaftliche Ausbildung einzusetzen; und kein
äusserer Zwang soll ihn hindern, bei derselben den Weg ein-
zuschlagen, der seiner Eigenthümlichkeit am besten entspricht.
Diese Freiheit der Selbstbestimmung erscheint uns als ein so
hohes Gut, eine so unerlässliche Bedingung jeder selbständigen
und eigenartigen wissenschaftlichen Entwicklung, dass wir um
ihretwillen selbst die Gefahr ihres Missbrauchs auf uns nehmen.
Es lässt sich ja nicht verkennen: wer über den Gebrauch, den
er von seiner Zeit macht, frei entscheidet, der kann von ihr
auch einen schlechten oder verkehrten Gebrauch machen; wer
sich seinen Weg selbst sucht , der kann leichter einen falschen
Weg einschlagen, als derjenige, dem er mit allen Einzelheiten
voTgezeichnet ist. Aber nur der erstere wird sich die Fähigkeit
erwerben, in einer noch nicht vermessenen und beschriebenen
Gegend sich selbst zurechtzufinden. Handelte es sich beim
TJniversitätsunterricht nur um die Aneignung eines bestimmten,
genau zu bezeichnenden Wissens, so würde eine schulmässige Art
des Studirens die meisten sicherer und schneller zum Ziel führen ;
liegt dagegen seine Aufgabe in der wissenschaftlichen Bil-
dung der Studirenden, so darf ihnen für die Verfolgung dieses
Zweckes die Freiheit nicht versagt werden, ohne die keine selb-
ständige Entwicklung und Uebung der geistigen Kräfte möglich ist.
Jede Freiheit hat aber ihr Mass in sich selbst' und in dem
Zweck, dem sie dienen soll; und es ist nicht eine Verletzung,
sondern ein Schutz der Freiheit, wenn sie innerhalb dieser ihrer
natürlichen Grenzen festgehalten, an die Bedingungen erinnert
wird, von denen es abhängt, ob sie wohlthätig oder schädlich
wirken wird. So wenig die Lehrfreiheit dadurch beeinträchtigt
wird, dass man zur Lehrthätigkeit niemand zulässt, der sich
nicht über seine Befähigung dazu ausweist, ebensowenig wird es
die Studienfreiheit dadurch, dass die Universitäten nur denen
offen stehen, welche für ihren Untenicht genügend vorbereitet
sind ; und wie die Lehrer gerade im Interesse der wissenschaftUchen
Freiheit wünschen müssen, dass solches, was sich mit Gesetz und
lieber akademisches Lehren und Lernen. 105
Sitte nicht verträgt, sich nicht unter dem Schilde der Wissen-
jschaft verbergen ki^uie, so vnid es auch den Studirenden, welchen
es mit ihrer wissenschaftlichen Arbeit ernst ist, nur erwünscht
sein können, wenn darauf gedrungen wird, dass die Zeit, welche
für die Studien bestimmt ist, auch wirklich diesem Zweck ge-
widmet werde. Je vollständiger es der Staat den Einzelnen
^Iberlässt, in welcher Weise sie die Mittel zu ihrer wissen*
«chaftliehen Ausbildung benutzen wollen, welche die Universität
ihnen darbietet, um so weniger kann er auf das Becht verzichten,
ehe sie in einen öffentlichen Beruf eintreten, den Nachweis der
wissenschaftlichen Bildung von ihnen zu verlangen, welche sie
sich auf der Universität erwerben sollten; und es würde nicht
blos dem öffentlichen Interesse entsprechen, sondern die Mehr-
zahl unserer Studirenden würde selbst später dankbar dafür sein,
wenn ihnen diese Anforderung noch etwas früher, als diess gegen-
wärtig der Fall zu sein pflegt, in ihrem vollen Ernst entgegen-
träte; wenn eine Bestimmung, die zur Zeit nur für Ein Be-
rufefach besteht, die sich aber hier entschieden bewährt hat,
auf alle Fächer ausgedehnt würde, in denen Staatsprüfungen
stattfinden: wenn jeder schon während seiner Studienzeit in
einer Prüfung zu zeigen hätte, er habe sich der Grundlagen
seiner Wissenschaft soweit bemächtigt, wie diess der Fall sein
muss, wenn ein erfolgreiches weiteres Fortschreiten in derselben
möglich sein soll. Das würde sich aber freilich bei dieser Ein-
richtung, wenn man mit ihr einen ernstlichen Versuch machte,
bald herausstellen, dass die Zeit, auf welche die meisten ihr
Universitätsstudium, bald freiwillig bald unfreiwillig, beschränken,
nur bei ungewöhnlichem Fleiss und Talent ausreicht, um sich
eine gründliche wissenschaftliche Bildung in dem Umfang zu er-
werben, in dem sie jeder von der Universität mitbringen sollte.
Noch wirksamer lässt sich jedoch ohne Zweifel auf das
gleiche Ziel durch die fleissige Benützung und die weitere Ent-
wicklung einer Einrichtung hinarbeiten, welche auch abgesehen
davon als eines von den wesentlichsten Hülfsmitteln eines fixicht-
baren Studiums zu betrachten ist, an welcher es auch unsem
Universitäten nie ganz gefehlt hat, imd welche namentlich in
\QQ Ueber akademisches Lehren und Lernen.
der neueren Zeit an denselben mit unverkennbarem Erfolge
gepflegt worden ist : die Verbindung wissenschaftlicher Uebungen
mit dem akroamatischen Vortrag der Lehrer. Die methodische
Mittheilung des Wissens und der wissenschaftlichen GedaDken
kann allerdings, je umfassender jenes Wissen, je systematischer
diese Gedanken sind um so mehr, nur in der Form des zusammen-
hängenden Vortrags erfolgen; und es war eine seltsame Ver-
kennung des Sachverhalts, wenn man da und dort den Vor-
schlag gemacht hat, diese aus der Natur des höheren Unterrichte
hervorgegangene, bei einer grösseren Zahl von Schülern allein
anwendbare, und desshalb auch seit Jahrtausenden, seit Plato und
Aristoteles, allgemein übliche Form der wissenschaftlichen Mit-
theilung durch ein katechetisches Verfahren zu ersetzen. Allein
der Mittheilung von der einen Seite muss, wie ich bereits aus-
geführt habe, die Selbstthätigkeit von der andern, die eigene
wissenschaftliche Arbeit der Zuhörer entgegenkommen; und zu
dieser anzuregen und sie zu leiten ist der Zweck aller jener
Uebungen, welche nicht Mos für die praktische Verwerthung
des Wissens, sondern auch filr die wissenschaftliche Ausbildung
als solche unentbehrlich sind. Das Bedürfhiss solcher Uebungen
machte sich am stärksten im naturwissenschaftlichen und medi-
cinischen Unterricht fühlbar, und auf diesem Gebiet wird dem-
selben auf unsem Universitäten durch zahlreiche für diesen
Zweck errichtete Anstalten in reichem Mass entsprochen. Nur
zögernd imd in beschränkterem Umfang folgten die übrigen
Fächer diesem Voi^gang, imd so vieles auch neuerdings in dieser
Beziehung auf allen Gebieten durch Errichtung von wissenschaft-
lichen Seminarien und Gesellschaften geschehen ist, so fehlt doch
noch viel daran, dass dieselben so allgemein benützt würden
imd benützt werden könnten, wie diess hinsichtlich der medid-
nischen imd naturwissenschaftlichen Fächer geschieht. Sie werden
ja, wie wir hoflfen, mit der Zeit zu immer fruchtbarerer Wirk-
samkeit gelangen; aber es wird immerhin zu erwägen sein, ob
sie sich nicht mit dem Ganzen unseres Universitätsunterrichts
in eine noch festere Verbindung bringen Hessen, ob nicht in
allen Fächern ebenso, wie in den obengenannten, den älteren
Ueber akademisches Lehren imd Lernen. 107
•
Lehrern, deren Zeit und Kraft von so vielen Seiten her in An-
spruch genommen ist, jüngere Männer zur Seite gestellt werden
könnten, welche sich ganz der Studienleitung zu widmen hätten,
und ob nicht zugleich mit dem Universitätsstudium auch eine
erfolgreiche längere Betheiligung an wissenschailichen Uebungen
in allen Fächern zu einer Bedingung für die Zulassung zu den
öffentlichen Prüfungen gemacht werden sollte.
Wie man aber auch über diese und ähnliche Fragen ur-
theilen, welche Verbesserungen und Ergänzungen unseres wissen-
schaftlichen Unterrichts und der ihm gewidmeten Anstalten man
im einzelnen vorschlagen mag: die Anerkennung wird man
ihnen bei unbefangener Erwägung nicht versagen können, dass
sie im grossen und ganzen auf einer gesunden Grundlage be-
nihen, von fruchtbaren und folgerichtig durchgeführten Gedanken
getragen, aus den Bedürfnissen unserer Zeit und der Denkart
unseres Volkes hervorgegangen sind. Alle menschlichen Ein-
richtungen sind ja vervollkommnungsfähig; und wären sie noch
so vortrefflich, so darf man schon desshalb die bessernde Hand
nie von ihnen abziehen, weil aus den wechselnden Verhältnissen
und Zuständen immer neue Aufgaben erwachsen. Aber diese
Veränderungen werden ihren Kern imd Bestand um so weniger
antasten, je berechtigter die Ziele sind, denen sie dienen, je
unverrückter sie diese Ziele in den wesentlichen Beziehimgen
im Auge behalten, und je mehr sie sich zugleich im besondem
die Freiheit der Bewegung bewahren, welche sie in den Stand
setzt, sich ohne Verläugnung ihres Grundcharakters dem Fort-
schritt der Zeit und den aus ihm entspringenden Bedürfiiissen
anzupassen. Unsere Universitäten haben diese Eigenschaften
bis jetzt bewährt; und so gross auch im Lauf der Jahrhunderte
die Veränderungen waren, welche das wissenschaftliche wie das
gesammte Kulturleben erfuhr, so haben sie sich doch, seinem
Gange bald folgend bald ihn führend, ihre Bedeutung für das-
selbe unvermindert erhalten. Hoffen wir, dass ihnen diess auch
in Zukunft gelingen, dass sie auch femer, wie bisher, im Mittel-
punkt* unseres geistigen Lebens, an der Spitze des wissenschaft-
lichen Fortschritts stehen werden.
VI.
Ueber die Bedeutung der Sprache und des Sprach-
Unterrichts für das geistige Leben.
(Deutsche Kundschau 1884 Märzheft.)
1.
Unter den Vorzügen, welche den Menschen vor den übrigen
lebenden Wesen auszeichnen, ist von jeher die Sprache als einer
der werthvoUsten anerkannt worden. In der hebräischen Ueber-
lieferung ist es der Mensch, der den Thieren ihre Namen gibt
und dadurch beweist, dass er ihnen zum Herrn gesetzt ist. Bei
den Griechen soll Pythagoras für den grössten Weisen den-
jenigen erklärt haben , der die Spr Jfche und die Namen der
Dinge erfand^); und einer von den jüngeren Philosophen, der
Stoiker Kleanthes ^), redet Zeus an: „Dir ja sind wir entstammt,
und begabt mit dem Bilde der Töne, Wir von allem allein, was
lebt und webt auf der Erde" ; er sieht also in der Sprache einen
unmittelbaren Beweis für die göttliche Abkunft des Menschen*
Eines wurde dabei freilich schon frühe als sehr störend empfunden :
die Verschiedenheit der Sprachen, durch welche den Menschen
die gegenseitige Verständigung, also gerade das, worin der Zweck
und Nutzen der Sprache besteht, so sehr ei*schwert wird. Die
hebräische Sage lässt bekanntlich diese Verschiedenheit der
Sprachen erst im Laufe der Zeit eintreten : die Gottheit verhängt
sie, um den titanischen Uebermuth des Thurmbaus zu strafen
und für die Zukunft unmöglich zu machen. Umgekehrt stellte
die zoroastrische Religion, wie wir aus PJutarch®) wissen, der
Menschheit ein goldenes Zeitalter in Aussicht, zu dessen
Segnungen auch das gehören sollte, dass alle Völker in
Ueber die Bedeotang der Sprache und des Sprachunterrichts etc. 109
demselben Eine Sprache reden. Bis man aber freilich in weiteren
Kreisen begann, durch Erlernung fremder Sprachen sich auch
schon für diese Welt etwas von jenem Segen des goldenen Zeit-
alters zu sichern, dauerte es ziemlich lange. Führte auch Handel
und Erleg die verschiedensprachigen Völker schon frühe zu-
sammen, so scheint doch der Verkehr, der sich hieraus ent-
wickelte, in der Regel durch Dollmetscher vermittelt worden
zu sein. Davon, dass die Sprache eines fremden Volkes erlernt
worden wäre, um sich mit seiner Kultur und seinen Geistes-
erzeugnissen bekannt zu machen, ist uns aus der ganzen Z!eit
vor Alexander , mit Ausnahme des Scythen Anacharsis , kein
Beispiel bekannt; und man wird daraus immerhin schliessen
dürfen, dass deren auch nicht viele vorkamen. Und gerade dem
ersten Kulturvolk des Alterthums, dem griechischen, fehlte es
gänzlich an dem Interesse für das Studium fremder Sprachen,
das in unserer Bildung einen so breiten Raum einnimmt. Wenn
auch einzelne Gelehrte aussergriechische Länder für wissenschaft-
liehe Zwecke besuchten, wie diess von Herodot, Demokrit und
Plato bekannt ist, so hören wir doch von keinem derselben,
dass er sich die Sprache dieser Länder zum Gegenstand seiner
Forschung gewählt oder sie auch nur als Hülfsmittel für seine
sonstigen Zwecke sich angeeignet habe. Jener selbstgenügsame
Bildungsstolz, welcher die Griechen auf die „Barbaren" so tief
herabsehen liess, erstreckte sich auch auf ihre Sprache. Schon
das Wort „Barbaros", mit dem alle Nichtgriechen benannt wurden,
bezeichnet ursprünglich einen solchen, dessen Rede in unverständ-
lichen Lauten besteht : den Hellenen erschien ihre eigene Sprache
als die einzige wahrhaft menschliche. Sogar ein Freigeist wie
Epikur. bezweifelt nicht, dass die Götter sich der griechischen
Sprache bedienen*); und vor und nach ihm ist es bei den
Philosophen ganz gebräuchlich, sich für ihre Ansichten auf die
Etymologie (und nicht selten auf eine ganz unglaubliche Etymologie)
der griechischen Wörter zu berufen, als ob diese die natürlichen
und einzig möglichen Namen der Dinge wären; so einsichtsvoll
auch schon Plato ^) davor gewarnt hatte, dass man die oft so
zufällige sprachliche Bezeichnung mit dem Begriff der Sache
110 lieber die Bedeutung der Sprache und des Sprachunterrichts
verwechsle. Selbst in den Jahrhunderten nach Alexander dem
Grossen, als die Hellenen mit den Völkern des Ostens, und seit
der römischen Eroberung auch mit denen des Westens, in die
eingreifendste Verbindung gekommen waren, trat in dieser Be-
ziehung kaum eine Veränderung ein. Die Herrschaft der
griechischen Sprache reichte so weit, als die der macedonischen
Waffen und der griechischen Bildung; die Griechen konnten
sich ähnlich wie die Franzosen im vorigen Jahrhundert die Er-
lernung fremder Sprachen ersparen , denn wer von den Aus-
ländem irgend auf Bildung Anspruch machte, mit dem konnten
sie sich in ihrer eigenen verständigen. So fehlt es auch, ab-
gesehen von der alexandrinischen Uebersetzung der alt-
testamentlichen Schriften, die nicht von Griechen, sondern von
hellenisirten Juden ausgieng, fast gänzlich an Spuren von einer
TJebertragung fremder Werke in's Griechische. Vollends der
Gedanke, fremde Sprachen zu einem regelmässigen Gegenstand
des Jugendunterrichts zu machen, war den Griechen durchaus
fremd. Dieser Gedanke konnte überhaupt nur da auftreten,
wo sich einem Volke der Verkehr mit fremden Völkern oder
die Benützung ihrer Literatur als ein so wesentliches Be-
dür&iss darstellte, dass bedeutenden Theilen desselben die
Kenntniss ihrer Sprachen unentbehrlich erschien. So gieng es
in Rom seit dem zweiten punischen Krieg: man lernte griechisch,
weil man die griechischen Schriftwerke lesen, die Schulen der
griechischen Redner und Philosophen besuchen, für Reisen in
die östlichen Länder und für Verhandlungen mit den griechisch
redenden Völkern sich die Kenntniss ihrer Sprache erwerben
wollte. Aehnlich verhielt es sich im Mittelalter bei den Abend-
ländem : das Latein war die allgemeine Kirchen- und Gelehrten-
sprache, die einzige, in welcher der wissenschaftliche Unterricht
auf allen Gebieten ertheilt wurde ; die Kenntniss dieser Sprache
war daher jedem imentbehrlich , der sich eine gelehrte Bildung
verschaffen wollte. Als mm vollends durch die grosse humanistische
Bewegung des fünfzehnten und sechzehnten Jahrhunderts mit der
Begeisterung für die Wissenschaft und die Kunst der klassischen
Völker auch die für ihre Sprachen in die weitesten Kreise getragen
für das geistige Leben. 111
wurde, und als gleichzeitig der Protestantismus durch seinen
Grundsatz von der alleinigen Auktorität der h. Schrift den
Theologen die Kenntniss der griechischen und hebräischen
Sprache zur Nothwendigkeit machte, die im Mittelalter selbst
den hervorragendsten Gelehrten des Abendlandes mit seltenen
Ausnahmen ganz fremd geblieben waren, kam das System zur
Herrschaft, welches die lateinische und griechische Philologie
zur gemeinsamen und fast zur einzigen Grundlage des höheren
wissenschaftlichen Unterrichts erhob. Eine Reaktion gegen die
Einseitigkeit dieses Unterrichtssystems hatte sich längst vorbereitet
und auch thatsächlich vielfache Milderungen derselben bewirkt;
aber erst in den letzten Jahrzehenden ffthrte der grossartige
Aufschwung der Naturvrissenschaften und die ausserordentliche
Bedeutung, welche dieselben durch ihre technische Verwerthung
für das praktische Leben erhielten, zum entschiedeneren Hervor-
treten der Gegensätze, die sich bis dahin mehr thatsächlich als
grundsätzlich bekämpft hatten. Seit die Realschulen den
Gymnasien, die technischen Hochschulen den Universitäten zur
Seite getreten sind, ist die Frage zur Erörterung gestellt : worauf
denn eigentlich der Werth des Sprachunterrichts beruhe, was er
für die geistige Bildung leiste, in welchem Umfang und unter
welchen Bedingungen er sich dazu eigne, den Studien, welche
auf unsem höchsten wissenschaftlichen Unterrichtsanstalten be-
trieben werden, zur Vorbereitimg zu dienen. Nun sollte man
freilich glauben, diese Frage müsse sofort zu der weiteren hin-
drängen: worin denn überhaupt die Bedeutung der Sprache für
den Menschen besteht, was sie für sein intellektuelles und sein
Gemüthsleben leistet, und diese wieder zu der Frage nach dem
Wesen der Sprache als solchem; denn nur wenn man sich
hierüber gründlich orientirt hat, wird man sich auch über die
Wirkung, die sich von dem Sprachunterricht erwarten lässt, ein
allseitig begründetes, über vereinzelte Wahrnehmungen und Er-
fahrungen hinausgehendes Urtheil bilden können. Aber so
lebhaft auch zur Zeit über den Werth des philologischen
Unterrichts, über die Berechtigung der ihm gegenwärtig noch
eingeräumten Stellung, über die Möglichkeit, ihn durch andere
112 Ueber die Bedeutung der Sprache und des Sprachunterrichts
Unterrichtsfächer zu ersetzen, über die Nothwendigkeit, ihn zu
ergänzen, verhandelt wird, so hat sich doch gerade jenen grund-
legenden Fragen das allgemeine Interesse bis jetzt nicht in dem
Masse zugewendet, dass es überflüssig erschiene, die Aufmerk-
samkeit auf sie zu lenken und ihre Bedeutung für die praktischen
Aufgaben zu beleuchten, von deren richtiger Lösimg für die
künftige Gestaltung unseres - Unterrichtswesens und für den Er-
trag, den es unserem Volke bringen wird, so viel abhängt
2.
Alle Rede ist eine Daxstellung dessen, was in dem Innern
des Redenden vorgeht. Wer mit anderen redet, der will diesen
dadurch seine Wahrnehmungen, Gedanken, Gefühle und Absichten
mittheilen, ihnen eine Vorstellung derselben verschaffen ; wer in
ausgesprochenen oder unausgesprochenen Worten mit sich selbst
redet, der bringt vermittelst dieser Worte das, was in ihm vor-
geht, sich selbst zum Bewusstsein, verschafft sich selbst eine
Vorstellung von demselben. Auch wenn wir äussere Gegenstande
mit Worten schildern, bildet den nächsten und unmittelbaren
Inhalt dieser Schilderung nicht der äussere Gegenstand als solcher,
sondern die Vorstellung, die wir uns von ihm machen : wir wollen
durch dieselbe diejenigen, zu denen wir reden, veranlassen, sich
von jenem Gegenstand eine der unsrigen entsprechende Vor-
stellung zu bilden, unsere Vorstellung nachzubilden. Unsere
Worte sind nur der Ausdruck eines Geschehens, dessen wirklicher
Ort unser Bewusstsein, unser Geist ist.
Wie ist es aber möglich, etwas geistiges, eine Bewusstseins-
erscheinung, mit Worten auszudrücken, und wie ist es möglich,
diese Worte zu verstehen, durch die Laute, die in unser Ohr
eindringen, zur Erzeugung gewisser Vorstellungen veranlasst, ja
genöthigt zu werden ? Die nächste, in der Folge allerdings noch
genauer zu bestimmende Antwort auf diese Frage liegt in der
Bemerkung, dass das Verhältniss des Worts zu der Vorstellung,
die es ausdrückt, seinem allgemeinen Charakter nach kein anderes
ist, als das des Zeichens zum Bezeichneten. Wie der
Glockenschlag in uns die Vorstellung hervorruft, dass eine Stunde
iur das geistige Leben. 113
verstrichen sei, oder eine menschliGhe Fusspur die Vorstellung,
dass hier ein Mensch gegangen sei, so rufen die Worte in uns
diejenigen Vorstellungen hervor, die ¥rir mit ihnen zu ver-
knüpfen uns gewöhnt haben, sie sind uns ein Zeichen jener
Vorstellungen, diese ihrerseits sind das, was durch sie bezeichnet
wird. Das Bezeichnete ist aber immer etwas anderes, als das
Zeichen, und diese Verschiedenheit kann so weit gehen, dass sich
beide gar nicht direkt vergleichen lassen. Das Bild eines Menschen
erinnert an ihn durch seine Aehnlichkeit ; aber auch sein Namens-
zug ist ein Zeichen, das an ihn erinnert, wiewohl zwischen beiden
keinerlei Aehnlichkeit stattfindet. Die ältesten phönicischen Buch-
staben waren bildliche Darstellungen von Dingen, deren Namen
mit den Lauten anfiengen, die sie bezeichnen sollten; unsere
heutigen, die von jenen abstammen, können niemand mehr auf
diese Weise an einen Laut, erinnern. Das Bild eines Löwen
stellt dieses Thier dar; aber es ist auch Symbol eines allge-
meinen Begriffs, der Tapferkeit oder der Stärke, und als Wappen-
tliier die Bezeichnung eines Staats oder Fürstenhauses. Was
den Zusammenhang zwischen dem Zeichen und dem Bezeichneten
vermittelt, ist die Phantasie, und das Gesetz, dem diese hiebei
folgt, ist lediglich das der Ideenassociation. Je fester zwei Vor-
stellungen bei ihrem fiüheren Vorkommen sich miteinander ver-
knüpft haben, imi so regelmässiger wird jede derselben auch in
der Folge die andere hervorrufen, um so mehr wird daher,
wenn die eine von ihnen eine sinnliche Vorstellung ist , der ihr
entsprechende Gegenstand sich dazu eignen, an den Gegenstand
der andern zu erinnern, als Zeichen für ihn zu dienen. Ob aber
zwei Vorstellungen, und wie fest sie sich mit einander verknüpfen,
diess hängt von den verschiedensten Umständen ab. Es gibt
Vorstellungen, die jedermann mit einander verknüpft, weil jeder-
mann die ihnen entsprechenden Gegenstände mit einander ver-
bunden zu sehen gewohnt ist, von denen daher die eine als
natürliches Zeichen für die andere dienen kann; aber weit die
meisten Vorstellungsverknüpfungen, und daher auch die meisten
Verknüpfungen von Zeichen und Bezeichnetem, haben nur für
diejenigen Gültigkeit, denen sie sich unter bestimmten thatsächlich
Zeller, Vorträge und Abhandl. III. 8
114 üeber die Bedeutung der Sprache und des Sprachunterrichts
gegebenen Verhältnissen durch Gewöhnung, Unterweisung oder
Verabredung eingeprägt haben. Das Bild der Sonne wird jeden
als natürliches Zeichen an den Tag, das des Mondes an die
Nacht erinnern, mit der Vorstellung des Feuers verknüpft sich
bei jedem die der Wärme, mit der des Eises die 'der Kälte;
aber dass das Kreuz den Christen, der Halbmond den Türken
als ihr Symbol dient, dass ein Buchstabe oder ein Zahlzeichen
gerade diesen Laut und diese Zahl bedeutet, und so fort, weiss
niemand, dem man es nicht gesagt hat. Weit die meisten von
den Zeichen, deren wir uns bedienen, sind künstliche und con-
ventionelle, und diess gilt, wie wir finden werden, ganz besonders
auch von der Sprache ; aber wenn sich die Menschen über solche
conventioneile Zeichen und ihre Bedeutung verständigen konnten,
so setzt diess voraus, dass ihnen vorher schon durch ihre Natur
und die allgemeinen Entwicklungsbedingungen derselben die
Möglichkeit gegeben war, ihre Vorstellungen und Gefühle sich
gegenseitig mitzutheilen : die künstliche Symbolik ist nur unter
der Bedingung einer natürlichen, eines natürlichen und allgemein
erkennbaren Zusammenhangs zwischen gewissen inneren Vor-
gängen und gewissen äusseren Zeichen dieser Vorgänge möglich.
Solche Zeichen sind nun nicht Mos die Laute, aus denen
die Sprache sich zusammensetzt, sondern alle für andere wahr-
nehmbaren Wirkungen psychischer Vorgänge auf unsem körper-
lichen Organismus. Alle jene Erscheinungen, in denen unsere
Gemüthsbewegungen sich äussern, das Lachen, das Weinen, das
Erröthen, das Erbleichen, der frohe oder schmerzliche, freund-
liche oder zornige Ausdruck des Gesichts und der Augen, die
Geberden, mit denen. Kinder und Naturvölker ihre Reden zu
begleiten pflegen, die Körperstellungen, Bewegungen und Eni-
pfindungslaute, welche der Schmerz und die Freude, das Wider-
streben und das Verlangen unabsichtlich hervorrufen, die Hebung
oder Senkung, Verstärkung oder Abschwächung der Stimme,
der Rhythmus der Rede, der Aufschrei und das Verstummen —
diese und die weiteren analogen Erscheinungen sind zunächst
zwar unwillkürliche Wirkungen innerer Vorgänge, die unmittel-
bar aus ihnen selbst, nicht aus der Absicht heiTorgehen, sie
för das geistige Leben. 115
andern zur Anschauung zu bringen; aber weil die andern gleich-
artige Vorgänge innerlich erleben und diese in gleicher Weise
äussern, werden sie durch die Wahrnehmung der fremden Ge-
fiihlsäusserungen zur Nachbildung der inneren Vorgänge angeregt,
die ihnen zu Grunde liegen, und durch die Nachbildung der
fremden Seelenzustände werden ihnen die Erscheinungen, in
denen diese sich aussprechen, verständlich, sie werden ihnen zu
einem Zeichen jener Zustände. Auch die absichtliche Gedanken-
mitiheilung ist aber nicht auf die Wortsprache beschränkt. Die
Geberdensprache kann als Verständigungsmittel zwischen solchen,
die verschiedene Sprachen reden, die Lautsprache bis zu einem
gewissen Grad ersetzen, und das Beispiel des Taubstummen-
unterrichts beweist, dass selbst ein so .zusammengesetztes System
von Vorstellungszeichen, wie das unserer Wortsprache, nicht
unbedingt an dieses Bezeichnungsmittel gebunden ist. Denken
wir uns Personen, die völlig taub zur Welt kamen, so muss ihnen,
da sie nie einen Ton gehört haben, auch jede Vorstellung von
Tönen ebenso fehlen, wie dem Blindgeborenen die Farbenvor-
stellung fehlt, und dass dem so ist, bestätigen ihre eigenen
Aussagen. Für sie sind daher die Fingerstellungen, mittelst
deren sie sich unterhalten, und die Buchstaben, deren Verständ-
niss man ihnen beibringt, nicht wie für uns Repräsentanten ge-
wisser Laute, sie werden nicht durch Vermittlung der Worte,
sondern unmittelbar auf die Vorstellungen bezogen, zu deren
Bezeichnung sie dienen : was für uns eine bestimmte Verbindung
hörbarer Zeichen leistet, das leistet für sie eine Verbindung
sichtbarer Zeichen; eine Gruppe von Handbewegungen oder
Schriftzügen ruft in ihnen ebenso immittelbar, wie in dem
Hörenden eine Lautgruppe, gewisse Vorstellungen hervor. Auch
wenn der Taubgeborene sprechen lernt, besteht doch dieses
Sprechen für seine eigene Empfindung, da er selbst seine Worte
nicht hört, nicht in einer Erzeugung von Tönen, sondern in
dem Hervorbringen gewisser Bewegungen der Sprachorgane;
das Zeichen für eine Vorstellung, welches für uns eine Lautreihe,
ein Wort ist, ist für ihn eine Reihe von Bewegungen der Sprach-
werkzeuge, und ob er das gesagt hat, was er sagen wollte,
8*
116 Ueber die Bedeutung der Sprache und des Sprachunterrichts
erfährt er nicht durch den Ton seiner Stimme, der für ihn nicht
vorhanden ist, sondern lediglich durch seine Bewegungsgefühle.
Ist er femer im Stande, anderen das, was sie sagen, an den
Lippen abzulesen — und einzelne Taubstumme haben darin eine
solche Fertigkeit erlangt , dass sie leise geführte Gespräche zu
belauschen im Stande sind, während die Vollsinnigen nichts
davon vernehmen — so beruht doch sein Verständniss der fremden
Rede nicht darauf, dass er aus den .Lippenbewegungen auf die
ihnen entsprechenden Laute schliesst, sondern darauf, dass er
aus denselben auf die Bewegungsgefühle schliesst, die für ihn
die Stelle der Töne vertreten. Es ist diess freilich immer
ein kümmerlicher Ersatz für die Lautsprache, und dieser Ersatz
selbst wäre schwerlich jemals gefunden worden, wenn nicht in
der Wortsprache schon ein ausgebildetes System von Sprach-
zeichen vorhanden gewesen wäre, das den Darstellungsmitteln
der Taubstummen anzupassen mit einem bewimderungswürdigen
Aufwand von Scharfsinn, Hingebung und Geduld gelungen ist.
Aber so unvollkommen diese Art der Vorstellungsbezeichnung
und Mittheilung sein mag, so dient ihr thatsächliches Vorkommen
doch immer zur Berichtigung der Vorstellung, welche dem an die
Wortsprache gewöhnten so natürlich ist, als ob diese überhaupt
die einzige Form sei, in welcher der Mensch seine Gedanken
andern und sich selbst darstellen könne.
Selbst darüber könnte man sich beim ersten Blick wundem,
dass sie eine um so vieles vollkommenere Darstellungsform ist,
als alle andern. Von den Gegenständen, durch deren Wahr-
nehmung unsere Vorstellung von der Welt entsteht, werden uns
weit die meisten nicht durch das Gehör, sondem durch andere
Sinne, und an erster Stelle durch den Gesichtssinn bekannt. Nur
die Gesichts- und Tastempfindungen (die Bewegungsgefühle unter
diese mit eingeschlossen) verknüpfen sich uns zu Raumgebilden,
nur durch sie bekommen wir die Vorstellung von Dingen, die
einen Raum einnehmen und sich räumlich ausser uns befinden,
und von allen den Eigenschaften, durch welche das Bild dieser
Dinge seine nähere Bestimmung erhält, ihrem Gewicht, ihrer
Temperatur, ihrer Gestalt, ihrer Farbe, ihren Bewegungen, ihren
fiir das geistige Leben. 117
Aggregatzuständeii u. s. w. Wie ist es nun möglich — könnte
man fragen — das in Tönen darzustellen, was gar nicht Gegen-
stand des Gehörs ist, und wie kann dieses Darstellungsmittel im
Vergleich mit andern alle die Vorzüge besitzen, welche jeder-
mann der menschlichen Sprache einräumt? Dieses Bedenken
ist so wenig grundlos, dass wir ihm sogar in vieler Beziehung
einfiach Recht geben müssen. Es ist wirklich nicht möglich, das,
was Gegenstand des Gesichts- oder Tastsinns ist, durch Worte
direkt darzustellen; jede solche Dai-stellung hat vielmehr für
den, der sie hört oder sieht, nur die Bedeutung einer Anleitung,
durch die seine Phantasie in den Stand gesetzt werden soll,
sich ein Bild dessen zu entwerfen, auf das sie sich bezieht.
Die beste und vollständigste Beschreibung gewährt uns daher
nie eine so genaue und klare Vorstellung von einem körperlichen
Objekt, wie eine gute Abbildung, ein Modell oder die Vorzeigung
eines Exemplars der gleichen Gattung; und die Wissenschaft,
welche sich mit den allgemeinen Grundformen des Räumlichen
beschäftigt, die Geometrie, käme ohne Zeichnung nicht von der
Stelle. Daraus folgt aber nur, dass für die Wortsprache der
nächste und unmittelbarste Gegenstand ihrer Darstellung über-
haupt nicht die Welt ist, welche sich im Räume vor uns aus-
dehnt, dass sich daher auch ihr Werth und ihre Bedeutung nicht
einfach an der Vollständigkeit und Genauigkeit des Bildes messen
lässt, das sie uns von der Aussenwelt liefert, sondern hiefür
noch andere Gesichtspunkte massgebend sind. Es bedarf diess
aber einer eingehenderen Erläuterung.
3.
«
Was die Wortsprache von jeder anderen Art der Gedanken-
mittheilung unterscheidet, ist zunächst dieses, dass sie sich für
diesen Zweck ausschliesslich der durch die menschliche Stimme
hervorzubringenden Laute bedient. Diese Laute lassen sich nun
nicht blos zum Sprechen, sondern auch zum Singen verwenden,
und dieses beides ist nicht absolut zu trennen; denn wie der
Gesang der Worte als seiner Unterlage bedarf, so hat an dem
Ausdruck der Rede das musikalische Element, das im Gesang
118 Ueber die Bedeutung der Sprache und des Sprachunterrichts
für sich zur Darstellung kommt, einen erheblichen Antheil.
Aber doch wird die Stimme in beiden auf verschiedene Weise
und für verschiedene Zwecke gebraucht. Der Gesang besteht
in einer rhythmischen Vorbindung von Tönen verschiedener
Höhe, die Sprache in einer Verbindung von Lauten verschiedenen
Klanges; die Richtigkeit des ersten ist dadurch bedingt, dass
jeder Ton während des ihm zugewiesenen Zeittheils in seiner
Höhe gehalten und dadurch von den vorhergehenden und folgen-
den klar unterschieden wird, die der anderen dadurch, dass jeder
von den Lauten, aus denen die Rede sich zusammensetzt, den
Klang hat, durch den er sich von den übrigen unterscheidet,
dass bestimmt artikulirte Laute verbunden werden. Dieses
beides fällt aber so wenig zusammen, dass man der gleichen
Melodie die verschiedensten, auch ganz verschiedenen Sprachen
angehörigen Worte unterlegen, den gleichen Text nach ver-
schiedenen Weisen singen kann. Rede und Gesang dienen aber
auch verschiedenen Zwecken. Der Gesang ist, wie die Musik
überhaupt, der Ausdruck gewisser Gefühle, Stimmungen und
Gemüthsbewegungen ; und was diesen Ausdruck hervorruft, das
ist ui^prünglich nicht die Absicht, jene Gefühle anderen Menschen
zur Kenntniss zu bringen ; die ersten Anfänge des Gesangs giengen
vielmehr, wie wir annehmen müssen, ebenso wie andere Gefühls-
äusserungen, das Lachen, das Weinen, das Springen und Tanzen
u. s. f., unmittelbar und ungesucht aus den entsprechenden Ge-
fühlserregungen als solchen hervor. Auch heute noch brauchen
ja die, welche Lust zum Gesang haben, keine andere Zuhörer-
schaft als sich selbst. Im Gegensatz hiezu kann die Sprache
von Anfang an nur aus demselben Motiv entsprungen sein, das
fortwährend ihren Gebrauch veranlasst, dem Bedürfhiss, sich
andern mitzutheilen. Denn wenn es auch manchen Leuten, und
nicht nur den Kindern, schwer wird, in andern als gesprochenen
Worten zu denken, so ist diess doch nur darin begründet, dass
sie für diejenigen Vorstellungen, welche über die unmittelbare
Anschauung hinausgehen, nicht blos die vorgestellten, sondern
auch die sinnlich vernommenen Lautzeichen nicht zu entbehren
wissen, in und mit denen ihnen jene Vorstellungen überliefert
für das geistige Leben. 119
worden sind. Denken »wir uns dagegen die Menschen in dem
Zustand, welcher der Bildung einer artikulirten Lautsprache
vorangieng, so kann ihr Bewusstsein neben der Wahrnehmung
gegenwärtiger Objekte noch keinen weiteren Inhalt gehabt hal)en,
als eine sehr beschränkte Zahl von Erinnerungen, die ihnen als
Anschauungen, als Bilder vorschwebten, und zu deren Auftreten
es nicht nöthig war, sie an bestimmte Zeichen zu binden. Erst
aus dem Triebe, das Selbsterlebte anderen mitzutheilen, sie auf
eine Erscheinung aufmerksam zu machen, in einer Gefahr zu
Hülfe zu rufen oder vor ihr zu warnen, ihnen Wohlwollen oder
Missfallen zu bezeugen, sie zu bitten oder zu bedrohen, entstand
das Bedürfiiiss von Zeichen für diese Mittheilimg. Die blossen
Empfindungslaute, das Ah ! Ach ! ! u. s. w., sind allerdings ebenso
wie das Lachen oder die Thränen eine Folge der entsprechenden
Gefühlszustände , die aus denselben ohne weiteren Zweck ver-
möge, des unmittelbaren Zusammenhangs zwischen Seelen- und
Kervenleben hervorgeht ; die Sprache dagegen beginnt als solche
erst mit dem Versuche, sich anderen Menschen durch Laute
verständlich zu machen; so wichtig sie auch (wie wir finden
werden) im Verfolge für den Redenden selbst als die Trägerin
seiner Gedanken wird. Dieser Versuch setzt aber immer vor-
aus, dass der Redende schon irgend ein Bild, irgend eine Vor-
stellung von dem habe, was er den andern mittheilen will; und
ebenso sind (wie schon früher angedeutet wurde) zunächst nur
Vorstellungen dasjenige, was man auf diese Art mittheilen,
zu dessen Erzeugung man die andern durch die sprachliche Be-
zeichnung veranlassen kann. Denn meine Worte können dem,
an den ich sie richte, meine Meinung doch nur dann kundgeben,
wenn er diese Worte versteht ; und das Verstehen dieser Worte
besteht eben darin, dass sie in dem Hörenden die gleichen
Vorstellungen hervorrufen, wie die, zu deren Bezeichnung sie
dem Redenden dienen sollten. Den nächsten Inhalt des Ge-
sprochenen bilden daher immer die Vorstellungen des Sprechen-
den; sie allein sind das, was die Worte unmittelbar bedeuten.
Mittelbar bringen sie allerdings alles zum Ausdruck, was Gegen-
stand der Vorstellung werden kann: sie dienen uns zur Be-
120 lieber die Bedeutung der Sprache und des Sprachunterrichts
Schreibung äusserer Erscheinungen und innerer Zustände, zur
Aeusserung unseres Willens und unserer Gefühle ; aber sie leisten
diess immer nur dadurch, dass sie in andern diejenigen Vorstel-
lungen erwecken, als deren Zeichen sie von uns gebraucht werden.
Fragen wir nun, in welcher Weise und in welchem Umfang
es möglich war, Vorstellungen durch Worte zu bezeichnen, so
zeigt sich sofort, dass diess nur bei dem kleinsten Theile der-
selben auf dem Wege der einfachen Nachahmung geschehen
konnte. Diejenigen Vorstellungen, welche der Gehörsinn ver-
mittelt, die Tonempfindungen, lassen sich allerdings in andern
durch eine Nachahmung der Laute, Lautgruppen und Geräusche
hervorrufen, durch die sie ursprünglich in uns selbst erzeugt
wurden. Alle Sprachen, die wir kennen, haben eine Anzahl von
Wörtern, deren Wurzeln nichts anderes sind, als eine Wieder-
holung der von ihnen bezeichneten Töne; das Deutsche z. B.
in Zeitwörtern wie plätschern, knarren, schrillen, ächzen, krähen,
bellen, blöken, meckern, quaken, brüllen u. s. w. Aber doch
ist die Zahl dieser „onomatopoetischen", auf einfacher Nach-
ahmung der Töne beruhenden Wortwurzeln eine verhältnissmässig
geringe. Schon etwas verwickelter wird die sprachliche Bezeich-
nung, wenn sie sich nicht auf die Töne, die der Sprechende
nachahmt, als solche, sondern auf den Gegenstand bezieht, von
dem man diese Töne zu hören gewohnt ist; wie wenn der Kukuk
durch Nachahmung seines Rufs bezeichnet wird, oder wenn sich
die Kinder zur Benennung eines Thiers der Laute bedienen,
die dieses Thier ausstösst. Hier ist bereits zwischen das Zeichen
und das Bezeichnete ein weiteres Zwischenglied eingeschoben:
das Wort Kukuk erinnert zunächst an den Kukuksruf, und erst
dieser an den Vogel, von dem man ihn vernimmt; Wörter wie
kratzen, kritzeln, schlürfen bezeichnen gewisse Handlungen durch
Nachahmung der damit verbundenen Töne. Auch für diese Art
von Namenbildung finden sich Beispiele in allen Sprachen; aber
ihr Gebiet ist gleichfalls der Natur der Sache nach nur ein be-
schränktes. Eine dritte Klasse von Wurzeln, aus denen Wörter
gebildet werden konnten, ergab sich aus den Empfindungslauten,
in denen wir schon oben einen unwillkürlichen Ausdruck gewisser
für das geistige Leben. 121
Gefühle erkannt haben; die von ihnen abgeleiteten Wörter
konnten nicht blos zur Bezeichnung der inneren Zustände ge-
braucht werden, die sich in jenen Lauten äussern, sondern auch
zur Bezeichnung von Gegenständen oder von Eigenschaften
und Wirkungen derselben, die zu solchen Aeusserungen Anlass
gaben. Bis aber aus diesen ersten Anfängen einer lautlichen
Bezeichnung eine etwas entwickeltere Sprache hervorgieng, waren
so viele weitere Schritte nöthig, dass es schwer ist, auch nur
die wichtigsten derselben aufzuzählen. In demselben Masse, wie
die Weltkenntniss sich erweiterte und das Denken sich entwickelte,
wuchs auch das Bedürfiiiss nach sprachlichen Bezeichnungen, nicht
allein für die einzelnen Vorstellungen als solche, sondern auch
flir die Beziehungen, in denen die Vorstellungen unter einander
stehen. Jede neu gewonnene Anschauung eines äusseren oder
inneren Vorgangs, jede Wahrnehmung, jeder Begriff, jedes Er-
innerungs- oder Phantasiebild enthielt die Aufforderung, Worte
dafür zu suchen, sobald diese Vorstellungen lebhaft und dauernd
genug waren, um die Lust zur Mittheilung an andere zu er-
wecken; für jede von den zahllosen Beziehungen, welche bald
unsere Phantasie bald unser Denken zwischen unsem Vor-
stellungen und zwischen den durch sie bezeichneten Gegenständen
herstellt, für die mannigfaltigen und verwickelten Verhältnisse,
die sich aus der räumlichen und zeitlichen Verbindung und
Trennung der Dinge, aus ihrer Aehnlichkeit und ihren Unter-
schieden, ihrem Wirken und ihrem Leiden ergeben, in denen
die Vorstellungen sich verknüpfen, sich bedingen und sich wider-
streiten, für die verschiedenen Stellungen, die wir selbst zu dem
einnehmen, womit unsere Vorstellung sich beschäftigt, für das
Behaupten, das Fragen, das Begründen, das Bezweifeln, das
Wünschen, das Verabscheuen, das Bitten, das Befehlen u. s. w.
war der sprachliche Ausdruck zu schaffen. Die Lösung dieser
Aufgaben ist von den verschiedenen Sprachen nicht allein auf
sehr verschiedenen Wegen versucht worden, sondern sie ist ihnen
auch in äusserst ungleichem Masse gelungen ; und je vollständiger
eine Sprache ihrer Bestimmung entspricht, um so gewisser ist
es, dass sie die Gestalt, in der sie sich uns zeigt, nur durch
122 Ueber die Bedeutung der Sprache und des Sprachunterrichts
eine langwierige Entwicklung und Umbildung derjenigen ge-
wonnen haben kann, die sie bei ihrem ersten Hervortreten
hatte. Der Lautgruppen, die auf den eben besprochenen
Wegen als Zeichen gewisser Vorgänge und Dinge gebildet
wurden, konnten es ebenso, wie der durch sie bezeichneten
Gegenstände, der Natur der Sache nach anfangs nur wenige sein;
und wirklich zeigt es sich auch, dass selbst ein so reicher Wort-
vorrath, wie ihn beispielsweise die griechische oder die deutsche
Sprache besitzt, sich auf eine verhältnissmässig kleine Zahl von
Wurzeln zurückfuhren lässt, und dass auch diese immer noch
abnimmt, je mehr uns die Sprachvergleichung in den Stand setzt,
den gemeinsamen Quellen ganzer Sprachstämme näher zu treten.
Um aus diesen einfachen und anscheinend dürftigen Elementen
die Bezeichnungen für alle Theile einer Vorstellungs- und Be-
griflfswelt zu gewinnen, die sich allmählich, aber unaufhaltsam,
in's ungemessene erweiterte, mussten dieselben der eingreifendsten
Bearbeitung unterzogen werden. Zur Bezeichnung zusammen-
gesetzterer Vorstellungen wurden die Wörter, die für ihre ein-
zelnen Bestandtheile gebildet waren , bald äusserlicher , durch
blosse Aneinanderreihung, bald organischer, zu neuen Wort-
gebilden verbunden. Die näheren Modifikationen einer Vor-
stellung oder eines Begriffs wurden durch Aenderung der Be-
tonung oder einzelner Laute, durch Vor- und Endsilben ausge-
drückt. Das fruchtbarste Hülfsmittel für die lexikalische Fort-
bildung der Sprache waren aber jene mit der Bedeutung der
Wörter vorgenommenen Aenderungen, von denen uns jedes nach
vrissenschaftlichen Grundsätzen abgefasste Wörterbuch Beispiele
in Menge darbietet. Wörter, die zur Bezeichnung gewisser Er-
scheinungen dienten, wurden auf andere übertragen, die mit
jenen bald eine nähere, bald eine entferntere Aehnlichkeit zeigten;
es wurden z. B. innere Vorgänge mit Namen bezeichnet, die
sich ursprünglich auf äussere, geistige Wesen mit solchen, die
sich auf körperliche bezogen ; und indem dieses Verfahren wieder-
holt angewendet wurde, und Aehnlichkeiten der verschiedensten
Art dabei den Ausschlag gaben, konnte es geschehen, dass ein und
dasselbe Wort viele und oft weit auseinandergehende Bedeutungen
für das geistige Leben. 123
erhielt. Was anfangs nur auf eine bestimmte Klasse von Er-
scheinungen gieng, wurde in der Folge in allgemeinerem Sinn
gebraucht; dann aber auch wieder ein allgemeinerer Ausdruck
auf ein engeres Gebiet beschränkt. Der Name eines Dings
wurde von irgend einer Eigenschaft entlehnt, die an ihm in's
Auge fiel; der gleiche Name aber oft auch auf andere Dinge
übertragen, die mit jenem bald in derselben, bald in ganz
anderen Eigenschaften zusammentrafen. Das verschiedenartigste
erhielt nicht selten die gleiche, nahe verwandtes verschiedene
Benennungen. Um femer die Gesichtspunkte, nach denen unsere
Vorstellungen sich gliedern, den Unterschied der Dinge, Eigen-
schaften, Thätigkeiten u. s. w. sprachlich erkennbar zu machen,
wurden für Hauptwörter, Eigenschaftswörter, Zeitwörter u. s. w.
eigene Formen gebildet; zur Bezeichnung der Geschlechter, der
Modifikationen, die ein Ding durch seine Beziehung zu andern
erleidet, der Zeitverhältnisse, des Wirkens und Leidens, des
Unterschieds zwischen einfachen und bedingten Aussagen, Be-
hauptungen, Wünschen und Befehlen wurden Mittel gefunden,
wie sie in allen höher entwickelten Sprachen die Beugungsformen
der Haupt- und Eigenschaftswörter, die Umwandlungen der
Zeitwörter bieten. Es wurde endlich der logische Zusammen-
hang der Vorstellungen, die Beziehung, die unser Denken zwischen
ihnen herstellt, durch die Bildung von Sätzen und die Ver-
knüpfung der einfachen Sätze zu zusammengesetzten zum Aus-
druck gebracht, und als ein Hülfsmittel hieflir wurden den
Haupt-, Eigenschafts- und Zeitwörtern die der Satzbildung als
solcher dienenden Sprachtheile beigefügt.
Vergegenwärtigt man sich nun diese Aufgaben auch nur in
so allgemeinen Andeutimgen, wie sie hier allein gegeben werden
konnten, so wird man sich bald überzeugen, dass eine so ge-
lungene Lösimg derselben, wie sie uns in einer ganzen Reihe
von Sprachen, zum Theil schon aus fernen Jahrtausenden,
vorhegt, nur das Werk einer Entwicklung sein konnte, deren
Dauer wir nicht einmal annähernd bestimmen können, weil uns
alle gesicherten Anhaltspunkte dafür fehlen. Die Sprache ist
dem Menschen nicht angeboren ; wäre sie dieses jemals gewesen.
124 Ueber die Bedeutung der Sprache und des Sprachunterrichts
SO müsste sie es auch noch sein; aber wie könnte überhaupt
das angeboren sein, dem die Spuren der Arbeit, aus der es
hervorgieng, so deutlich eingeprägt sind? Sie ist aber auch
kein blosses Naturerzeugniss in dem Sinn, als ob sie sich aus
dem Bau der menschlichen Sprachwerkzeuge als organische
Keaktion gegen gewisse äussere Einwirkungen mit derselben
Nothwendigkeit ergeben hätte, wie das Gezwitscher der Vögel
und andere thierische Laute. Wie sie vielmehr das werth-
voUste Werkzeug des menschlichen Geistes ist, so ist sie auch
sein Werk. Aber kein Einzelner und kein Volk und kein Jahr-
hundert hat dieses Werk geschaffen, sondern ungezählte Ge-
schlechter von Menschen haben an ihm gearbeitet, jedes in seiner
Weise und nach seinem Vermögen. Sie haben diess nicht mit
Absicht imd Bewusstsein gethan: die absichtliche Bearbeitung
der Sprache beginnt erst mit ihrer dichterischen, rednerischen,
wissenschaftlichen Verwendung, das Nachdenken über ihr Wesen
und ihre Gesetze erst mit der Sprachforschung. Aber gerade
desshalb , weil die ursprüngliche Bildung der Sprache eine un-
bewusste That des menschlichen Geistes war, weil sie nicht aus
Ueberlegung , sondern aus einem unmittelbaren Drang und Be-
dürfniss hervorgieng, erfolgte sie auch mit jener instinktiven
Sicherheit, mit jener durch keine individuellen Einfälle und
Seitensprünge gestörten Folgerichtigkeit, welche uns die Sprachen
der Völker nicht als das Werk menschlicher Kunst, sondern als
ein organisches Naturgebilde erscheinen lässt. Sie sind diess
auch, richtig verstanden; aber sie sind es nur, sofern sie aus
der geistigen Natur der Menschen hervorgegangen sind. Die
Sprache ist dem Gedanken nicht übergeworfen, wie ein Kleid,
sondern mit ihm verwachsen, wie der Leib mit der Seele; wo
eine neue Vorstellung gebildet oder eine neue Beziehung der
Vorstellungen gefunden wurde, da entstand auch das Bedürfniss,
sie im sprachlichen Ausdruck festzuhalten und sie dadurch nicht
allein andern zugänglich, sondern auch ihrem Urheber selbst
klar zu machen. Wie wir annehmen müssen, dass die Orga-
nismen, welche unsere Erde gegenwärtig bevölkern, sich in
Zeiträumen von unabsehlicher Dauer Schritt für Schritt aus
für das geistige Leben. 125
einfacheren Formen entwickelt haben, so werden wir uns auch
die Entstehung unserer Sprachen als einen Entwicklungsprocess
vorzustellen haben, der in langen Zeiträumen durch unbestimm-
bar viele Vermittlungen sich vollzog. Aber welches auch der
Weg war, den diese Entwicklung in jedem einzelnen Fall ein-
schlug , und welche Umstände bestimmend auf sie einwirkten :
daran müssen wir immer festhalten, dass es nur die eigene
Thätigkeit des menschlichen Geistes gewesen sein kann, durch
die er sich in der Sprache die hörbaren Zeichen seiner Vor-
stellungswelt schuf. Denn die Selbstthätigkeit ist das Wesen
des Geistes; von aussen her lässt sich nichts in ihn hineintragen^
sondern es können ihm nur die Anregungen, die Reize zugeführt
werden, auf die er in seiner Art und den Gesetzen seiner Natur
gemäss antwortet. Wie daher seine Vorstellungen nur von ihm
selbst erzeugt werden können, so konnten auch die sinnlichen
Zeichen derselben, zu deren Bildung sein Organismus ihn be-
fähigt, nur von ihm- ausgewählt, auf die Vorstellungen, an die
sie erinnern sollen, bezogen und denselben angepasst, es konnte
jenes ganze kunstvolle System von Lautzeichen, w^elches die
menschliche Sprache darstellt, nur von ihm in's Leben gerufen
werden. Papageien können die Worte nachsprechen, die sie
hören, ihre Stimm Werkzeuge würden sie mithin an der Erfindung
einer Sprache nicht hindern ; aber um wirklich eine zu erfinden,
müssten sie ein menschliches Gehirn und ein menschliches
Denken besitzen.
4.
Erst wenn man sich die Bedingungen klar gemacht hat,
unter denen die Sprache überhaupt entstehen konnte, wird man
auch vollständig begreifen, was sie für die Menschen ist und
leistet. Sie ist nicht blos das brauchbarste, durch kein anderes
irgendwie zu ersetzende Mittel für die Verständigung der Menschen
unter einander und für jene Ueberlieferung von Vorstellungen,
auf der alle Bildung und aller geschichtliche Fortschritt beruht ;
sondern sie ist auch für jeden Einzelnen ein ihm unentbehrliches
Mittel der Selbstverständigung ; und sie ist, auch abgesehen von
dem Vorstellungsinhalt, für dessen Mittheilung sie im gegebenen
126 Ueber die Bedeutung der Sprache und des Sprachunterrichts
Falle verwendet wird, schon unmittelbar an sich selbst, durch
ihre blosse Form, ihre grammatische und lexikalische Eigen-
thtimjichkeit , von wesentlichem Einfluss auf den Geist und
Charakter der Völker. In der ersten von diesen Beziehungen
liegt die Unentbehrlichkeit der Sprache jedem vor Augen, und
es ist kaum nöthig, sich ausdrücklich darüber zu besinnen, was
aus dem menschlichen Verkehr würde, wenn alle auf solche
Verständigungsmittel beschränkt wären, wie sie etwa Stumme
ohne einen von Redenden ertheilten Unterricht auffinden könnten;
was aus der Entwicklung der Menschheit, wenn die geistige
Errungenschaft dei* früheren Geschlechter, ihre Anschauungen,
Gedanken und Kenntnisse, nicht durch Rede und Schrift zu den
nachfolgenden fortgepflanzt und auf diesem Weg stetig an-
wachsende Schätze des Wissens und der Bildung gesammelt
werden könnten. Weniger greifbar ist die Bedeutung, welche
die Sprache für die Sprechenden selbst unmittelbar, und auch
abgesehen von dem Zweck der Mittheilung -an andere hat, und
gerade weil sie nicht so ganz auf der Oberfläche liegt, wird sie
nicht selten auch von solchen übersehen, die an ihrem Benif,
über den Werth des Sprachunterrichts zu urtheilen und abzu-
urtheilen, nicht den geringsten Zweifel zu hegen scheinen.
Alle Worte sind, wie gesagt, Zeichen für Vorstellungen.
Daraus folgt mit Nothwendigkeit , dass es Vorstellungen geben
muss, die ihrer sprachlichen Bezeichnimg. vorangehen; und es
wird auch niemand behaupten wollen, dass die Thiere, oder die
Kinder, ehe sie sprechen können, oder Taubstumme, die keinen
Sprachunterricht erhalten haben, unfähig seien, sich irgend welche
Vorstellungen zu bilden. Aber der Umfang der Vorstellungen,
die so unabhängig vom Wort sind, ist ein verhältnissmässig be-
schränkter. Die Bilder einzelner Dinge, einzelner Vorgänge,
die sich ausser uns oder in uns vollziehen, werden uns ursprüng-
lich unmittelbar durch die äussere und innere Wahrnehmung
geliefert. Auch in der Erinnerung lassen sich solche Einzel-
anschauungen festhalten, ohne an Worte gebunden zu sein; und
auch nachdem sie sich mit gewissen sprachlichen Bezeichnungen
verknüpft haben, ist doch diese Verknüpfung bei ihnen keine so
für das geistige Leben. 127
dauerhafte, wie- zwischen den allgemeinen Begriffen und ihrer
Bezeichnung: wir erinnern uns an Personen, Gegenstände und
OertMchkeiten, die uns vorgekommen sind, auch wenn wir ihre
Naraen nicht kennen, und die Eigennamen werden gerade dess-
halb leichter vergessen als die Appellativbezeichnungen, weil
wir von den Dingen oder Personen , auf die sie sich beziehen,
eine innere Anschauung haben, die sich erhalten kann, wenn
auch das Wort, welches diese Anschauung in unserer Erinnerung
hervorzurufen bestimmt war, unserem Gedächtniss entfallen ist.
Aber selbst für diese Klasse von Vorstellungen sind die Worte,
durch die sie bezeichnet werden, nicht blos ein Mittel, durch
das wir sie anderen mittheilen» Diese Worte sind vielmehr das
Band, welches die verschiedenen zu Einem Bilde verknüpften
Anschauungen für unsere Erinnerung zusammenhält, und es uns
dadurch erleichtert, die durch sie bezeichneten Gegenstände "in
ihrer Eigenthümlichkeit und ihrem Unterschied von allen andern
uns zu vergegenwärtigen. Wie viel dieses Htilfsmittel zur Dauer-
haftigkeit, Zuverlässigkeit und Bestimmtheit unserer Erinnerungen
beiträgt, davon kann man sich leicht überzeugen, wenn man den
Versuch macht, eine grössere Anzahl gleichartiger Anschauungen
in das Gedächtniss zurückzurufen; wer z. B. ein Antikencabinet
oder eine Gemäldegallerie gesehen hat und seine Erinnerung
daran nach einiger Zeit wieder aufzufrischen versucht, der wird
finden, dass diejenigen Stücke, deren Urheber und Gegenstand
ihm genannt wurden , sich ihm durchschnittlich viel fester ein-
geprägt haben als solche, von denen er diess nicht erfuhr.
Der Inhalt unseres Bewusstseins besteht indessen seinem
ganz überwiegenden Theile nach nicht aus blossen Wahr-
nehmungen und Erinnerungen an wahrgenommenes, sondern aus
solchen Vorstellungen, die wir uns aus unsem inneren imd
äusseren Wahrnehmungen erst durch eine weitere geistige Be-
arbeitung derselben gebildet haben; und diese Bearbeitung des
Wahrgenommenen ist es, auf der jede höhere Geistesthätigkeit
beruht. Gerade für sie hat aber auch die Sprache eine viel
grössere Bedeutung, als für diejenige Vorstellungsthätigkeit, welche
sich auf die Wahrnehmung und ihre gedächtnissmässige Wieder-
128 üeber die Bedeutung der Sprache und des Sprachunterrichts
holung beschränkt. Wenn unsere Phantasie aus den Stoffen,
die sie der Wahrnehmung verdankt, in freier Selbstthätigkeit
neue Bilder erzeugt, so lässt sich zwar ein Theil dieser Gebilde —
diejenigen, welche den Gegenstand der bildenden Kunst oder
der Musik als solcher ausmachen — auch ohne Worte zur Dar-
stellung bringen ; die meisten dagegen finden nur im gesprochenen
oder geschriebenen Worte den Leib, dessen sie bedürfen. Mögen
dem Dichter seine Anschauungen noch so reich aus dem Innern
hervorquellen: ihre künstlerische Gestaltung und Verknüpfung
erhalten sie nur im Wort; sie lassen sich nicht allein auf keinem
anderen Wege mittheilen, sondern sie werden ihrem Urheber
selbst erst dadurch, dass er sie in Worte fasst, gegenständlich,
werden erst dadurch aus einem bunten Gewühle sich gegen-
seitig verdrängender und in einander verfliessender Bilder zu
deutlich umrissenen und klar unterschiedenen Gestalten und
lassen sich nur in dieser Form dauernd festhalten. Was aber
die dichtende Phantasie für das Leben der Menschheit zu be-
deuten hat, wie die Einzelnen und die Völker ihr ganzes höheres
Bewusstsein , ihre religiöse , sittliche und Naturanschauung ur-
sprünglich in der Form der Dichtung besitzen, und wie wenig
diese selbst durch die höchste Verstandesbildung jemals ersetzt
werden kann, braucht hier eben nur angedeutet zu werden.
Noch unentbehrlicher ist aber die Sprache, wie für die Mit-
theilung so auch schon für die ursprüngliche Erzeugung der
Gedanken. Phantasiebilder können als innere Anschauungen
vorhanden sein, so gewiss sie auch zu ihrer Ausgestaltung der
Worte bedürfen; denken können wir (sofern es sich um einbe-
wusstes Denken handelt) überhaupt nur in Worten. Sie sind
für uns das einzige ausreichende Mittel, um die allgemeinen Be-
griffe, die logischen Beziehungen unserer Vorstellungen, den
Causalzusammenhang der Dinge und die mannigfaltigen Modi-
ficationen desselben, kurz alles das zu bezeichnen, was den eigen-
thümlichen Gegenstand des Denkens im Unterschied von der
Wahrnehmung und der Phantasiethätigkeit bildet. Erst mit
dieser Bezeichnung erhalten aber unsere Gedanken diejenige
Deutlichkeit und Bestimmtheit, durch die sie in unser Bewusstsein
für das geistige Leben. 129
erhoben werden; ehe der richtige Ausdruck für sie gefunden
ist, sind sie in uns nur als ein Ahnen und Suchen, die Gestalt
des Gedankens, der bewussten Erkenntniss, nehmen sie erst mit
dem Wort an. Dadurch, dass wir mit bestimmten Worten regel-
mässig bestimmte Vorstellungen verknüpfen, kommt erst Klar-
heit und Ordnung in unsere Gedanken, die Vorstellungsgruppe,
die unter ein Wort zusanmiengefasst wird, tritt bei jedem Aus-
sprechen und Hören dieses Wortes in der gleichen Weise wie
früher in uns auf und gewinnt ebendamit für uns ein gesondertes
Dasein : sie wird uns zu einem eigenen, von allen andern unter-
schiedenen Begriff. Und das gleiche gilt von den verschiedenen
Arten der Gedankenverknüpfung und der aus ihnen hervor-
gehenden Vorstellungen über die Zusammenhänge und Ver-
hältnisse der Dinge. Sie sondern und befestigen sich in unserem
Bewusstsein erst dadurch, sie werden uns selbst erst dadurch
Mar, dass sie ihren sprachlichen Ausdruck erhalten; denn nur
(lieser setzt uns in den Stand, unsere Gedanken regelmässig
unter gleichen Umständen in der gleichen Weise zu verknüpfen,
für den Verlauf unseres Denkens die Stetigkeit und Gleich-
föiTiiigkeit zu gewinnen, ohne die überhaupt kein geordnetes und
zusammenhängendes Denken möglich ist. Die Entwicklung der
Sprache und die des Denkens fielen daher nothwendig ursprüng-
lich zusammen : die Menschheit lernte denken, indem sie sprechen
lernte, wie wir diess an den Kindern noch täglich sehen können ;
nur dass das , was bei diesen ein rasch erlerntes ist , für das
Menschengeschlecht ein selbstgeschaifenes war, das als solches
zu seiner schrittweisen Entstehung einer unbestimmbar langen
Zeit bedurfte.
Dieser Process vollzog sich nun nicht überall in der gleichen
Weise und gleich schnell: die Sprachen der Menschen sind so
mannigfaltig, als die Völker und die Zeiten, denen sie angehören.
Ob alle diese, jetzt so weit auseinandergehenden Sprachen von
einer und derselben Ursprache, die wir uns dann freilich noch
äusserst einfach und unausgebildet denken müssten , oder von
einigen wenigen Urformen und von welchen, sie herstammen, ist
eine Frage, die ihre Beantwortung nur zugleich mit der
Zell er, Vorträge und Abhandl. III. 9
130 Ueber die Bedeutung der Sprache und des Sprachunterrichts
allgemeineren finden könnte, ob die menschliche Gattung ursprüng-
lich nur an einem oder an mehreren Punkten der Erde entstanden
ist. Denn die Sprache ist dem Menschen so unentbehrlich, dass
wir uns Wesen, die diesen Namen verdienen, nicht ohne einen
Anfang derselben denken können, und wenn man annimmt, der
menschliche Organismus sei durch allmähliche Umbildung eines
thierischen entstanden, müssten mit den ersten Schritten, welche
unsere Vorfahren über die Thierheit hinausführten, auch die
ersten Versuche einer Sprachbildung begonnen haben. Wie es
sich nun damit verhält, haben wir hier nicht zu untersuchen.
Um so wichtiger ist für unsere Aufgabe die Bemerkung, dass
sich die Sprachen nicht blos durch die Wörter, Wortformen
und Wortverbindungen, deren sie sich zur Darstellung der Ge-
danken bedienen , sondern noch viel tiefer und durchgreifender
durch den Charakter der geistigen Thätigkeit, aus der sie ent-
sprungen sind , nicht blos durch die äussere , sondern noch ur-
sprünglicher durch die „innere Sprachform" 'unterscheiden. Eine
lautliche Verschiedenheit der Sprachen würde sich allerdings
schon daraus ergeben, dass die menschlichen Sprachorgane, wenn
sie auch im allgemeinen gleichartig gebaut sind, doch in ihrer
näheren Beschaffenheit Unterschiede zeigen, die sich unter dem
Einfluss des Klima's, der Umgebungen, der Vererbung, der Ge-
wöhnung weiter entwickeln; dass daher die Laute und Laut-
verbindungen, deren man sich zur Bezeichnung gewisser Gegen-
stände bedient, nicht bei allen die gleichen sein können. Aber
wenn sich der Unterschied der Sprachen darauf beschränkte, so
hätte er für das geistige Leben keine grosse Bedeutung. Man
hätte an ihnen verschiedene Bezeichnungsweisen, aber das, was
damit bezeichnet würde, und das Verhältniss der Bezeichnung
zum Bezeichneten wäre dasselbe; ob man sich zum Ausdruck
seiner Gedanken der einen oder der anderen Sprache bedient,
wäre so gleichgültig, als ob man ein Buch mit lateinischen oder
mit deutschen Lettern drucken lässt. Man müsste daher auch
alles gleich gut in jeder beliebigen Sprache darstellen, jede
Kede und Schrift ohne Nachtheil für den Sinn aus jeder Sprache
in jede wörtlich übertragen können. Allein thatsächlich ist das
für das geistige Leben. 131
Verhältniss der Sprachen zu einander und zu dem in ihnen dar-
zustellenden Inhalt ein ganz anderes. Wo es sich um fest be-
stimmte Gegenstände oder Begriffe handelt, macht freilich die
sprachliche Bezeichnung für den Sinn nichts aus : ob man einer
Pflanze ihren deutschen oder ihren lateinischen Namen gibt,
„Würfel" oder „Kubus", „Sauerstoff" oder „Oxygen", „Baro-
meter" oder „Wetterglas" sagt, ein deutsches oder ein franzö-
sisches Zahlwort gebraucht, den Helden des homerischen Gedichts
Odysseus oder Ulysses nennt u. s. w., ist desshalb gleichgültig,
weil bei den verschieden lautenden Wörtern jeder, der sie über-
haupt versteht, doch genau dasselbe denkt. Aber schon von den
einzelnen Ausdrücken, aus denen der Wortvorrath unserer
Sprachen sich zusammensetzt, sind die wenigsten so eindeutig,
dass sie ohne weiteres durch solche aus einer anderen Sprache
ersetzt werden könnten ; der grössere Theil dagegen ist zu eigen-
artig gebildet, um in einer solchen ein Aequivalent zu haben,
das ihm genau und vollkommen entspräche. Der Gegenstand
oder der Vorgang, auf den ein Wort sich bezieht, wird durch
dasselbe nur nach einer bestimmten Seite, oder mit Rücksicht
auf einen bestimmten Eindruck, den man von ihm erhalten hat,
bezeichnet; eine andere Sprache bezeichnet den gleichen Gegen-
stand nach einer anderen Eigenschaft, stellt ihn unter einen
anderen Gesichtspunkt. Die Ausdrücke für allgemeine Begriffe
. sind in einer Sprache nicht durchaus von denselben Anschauungen
abstrahirt und in derselben Weise gebildet, wie in der andern ;
mögen sie sich daher auch verwandt sein, so decken sie sich
doch nicht so genau, dass die einen einfach an die Stelle der
andern treten könnten. Wenn die Bedeutung eines Wortes sich
erweitert und bereichert, die Bezeichnung, die erst einer be-
stimmten Vorstellung galt, auf immer weitere übertragen, und
so schliesslich eine ganze Gruppe in einander spielender Vor-
stellungen an ein Wort geknüpft wird, so geschieht diess doch
in jeder Sprache, die sich selbständig entwickelt, auf ihre eigene
Art, je nach dem Geist eines Volkes, der Richtung seiner Phan-
tasie und seines Denkens, dem Umfang und Charakter der An-
schauungen, über die es zu verfugen hat. Jede Sprache hat
132 Ueber die Bedeutung der Sprache und des Sprachunterrichts
daher nothwendig eine Menge von Ausdrücken, für die sich keine
durchaus gleichbedeutenden in anderen Sprachen finden, und je
genauer man in das Wesen einer Sprache eindringt, um so mehr
erweitert sich die Zahl dieser eigenartigen Ausdrücke, uni so
immöglicher erscheint es daher, etwas Wort für Wort aus einer
Sprache in eine andere zu tibersetzen ; sondern gerade wenn man
den Sinn der Worte und Sätze getreu wiedergeben, den Ein-
druck, den sie in der Ursprache hervorbringen, durch die üeber-
setzung annähernd gleichfalls erreichen will, muss man nicht
selten ganze Sätze umschmelzen und in eine neue Form giessen.
Es gilt diess namentlich von solchen Ausdrücken, Redensarten
und Wendungen, die sich auf das geistige Leben beziehen. Denn
diese sind nicht blos alle metaphorisch, von äusseren Dingen
und Vorgängen entlehnt , und daher in verschiedenen Sprachen
nach verschiedenen Analogieen und Gesichtspunkten gebildet;
sondern auch das, was sie bezeichnen, die inneren Vorgänge und
die Auffassung dieser Vorgänge, die Gemüthszustände, die sitt-
lichen Eigenschaften und Begriffe, haben sich bei verschiedenen
Völkern sehr verschiedenartig gestaltet. Man nehme nur z. B. Aus-
drücke, wie die griechische „Sophrosyne" oder das deutsche „Ge-
müth", und sehe sich in anderen Sprachennach gleichbedeutenden
um ; man vergleiche den deutschen Geist mit dem französischen
Esprit, die sich lexikalisch so ähnlich sehen und sidi doch
unterscheiden, wie Rheinwein und Champagner; man gebe das
griechische „Logos" durch ein Wort wieder, das ebenso, wie jenes,
die Begriffe der Rede und der Vernunft und der vernünftigen
Gründe und der Rechnung und des berechenbaren Verhältnisses
und welche sonst noch in ungetrennter Verschmelzung bezeichnet,
und man wird in dieselbe Verlegenheit gerathen, wie Faust, da
er jenes Wort in sein geliebtes Deutsch übertragen will; man
suche für einen Begriff, der uns so geläufig ist, wie der der Per-
sönlichkeit, im Lateinischen oder im Griechischen eine adäquate
Bezeichnung, und man wird bei keinem von den alten Schrift-
stellern eine finden. Und das gleiche zeigt sich in zahllosen
Fällen selbst bei Sprachen, die sich so nahe verwandt sind, wie
die eben genannten. Nicht weniger charakteristisch, als ihr
für das geistige Leben. 133
Wortvorrath und die Bedeutung der einzelnen Wörter, ist aber
für jede Sprache auch ihr grammatischer und syntaktischer Bau.
Denn in ihm gerade zeigt es sich, in welchem Umfang, in welcher
Form und wie deutlich einem Volke die logischen Beziehungen
der Gedanken und die in ihnen sich aussprechenden Beziehungen
der Dinge während des Zeitraums, in dem seine Sprache sich
gebildet hat, zum Bewusstsein gekommen sind. Wie die Sprache
überhaupt das Werk des Geistes ist, der sich zu ihrem Aufbau
der organischen Laute zwar als seines Stoffes bedient, der aber
diesen Stoff nach seiner Weise, seinem Bedtirfiiiss und Ver-
mögen verwendet, so ist auch jede einzelne Sprache der Nieder-
schlag einer Bewegung von unabsehbarer Dauer, deren Gang
und Ergebniss durch die geistigen Kräfte der Völker und ihre
Entwicklung bestimmt wurde, ein Kunstwerk, das ein bestimmter
Volksgeist in seinem unbewussten Wirken aus zahllosen Bei-
trägen der Einzelnen geschaffen hat. Jede ist daher auch ein
Bild, aus dem uns das Wesen und Werden dieses Geistes ent-
gegentritt ; und eben darauf, dass die Sprachen diess sind, beruht
es, dass der Werth und die Wirkung des Sprachunterrichts für
das geistige Leben weit über das unmittelbare Bedürfoiss, dem
die Sprache zunächst dient, hinausreicht.
5.
Um sich die Kenntniss einer Sprache zu erwerben, gibt es
drei Wege: die blosse Nachahmung und Uebung, den gramma-
tischen Unterricht, die wissenschaftliche Forschung. Auf jedem
von diesen Wegen wird eine eigene Art von Sprachkenntniss ge-
wonnen; die vollkommenste da, wo es möglich ist, alle drei in
der richtigen Weise zu verbinden. Mit der wissenschaftlichen
Sprachforschung haben wir es nun hier nicht zu thun; von den
beiden anderen Methoden geht die erste der zweiten nothwendig
Toran. Denn seine Muttersprache erlernt jeder nur praktisch
durch fortgesetzte Nachahmung dessen, was er von andern ge-
hört hat. Nachdem die Kinder ihre Sprachwerkzeuge durch
das Hervorbringen verschiedenartiger, anfangs unartikulirter
Laute bis zu einem gewissen Grad eingeübt und in ihre Gewalt
134 lieber die Bedeutung der Sprache und des Sprachunterrichts
bekommen haben, fangen sie an einzelne Wörter und Silben,
zuerst natürlich die, die ihnen am leichtesten werden, nachzu-
sprechen, und zugleich lernen sie den Sinn derselben verstehen.
Das heisst: mit diesen Wörtern verknüpft sich ihnen das Bild
der Personen und Dinge, die man ihnen beim Aussprechen der-
selben gezeigt hat, mit der Zeit so fest, dass dieselben, wenn
sie von ihnen vernommen werden, jenes Bild in ihrer Erinnerung
hervorrufen, und dass ebenso umgekehrt die Anschauung der
durch die Wörter bezeichneten Gegenstände das Bild dieser
Wörter hervorruft. Durch fortgesetzte Wiederholung dieses Ver-
fahrens erweitert sich allmählich der Umfang dessen, was das
Kind in dieser Weise bezeichnen lernt, sein Vorrath an Wörtern
und an bestimmten, durch Wörter befestigten Vorstellungen;
und neben den Dingen gewinnt es ziemlich bald auch für ge-
wisse Vorgänge, Empfindungen und Eigenschaften der Dinge,
und ebendamit auch für die einfachsten Verbindungen von Vor-
stellungen einen sprachlichen Ausdruck. Länger dauert es schon,
bis es die durch Declination und Conjugation entstandenen Wort-
formen sich aneignet, ihre Bedeutung versteht und mit Hülfe
derselben Sätze bilden lernt; eines zusammengesetzteren Satz-
baus sind viele Sprachen überhaupt nicht fähig, und auch wo er
sich findet, ist er immer das Werk einer kunstmässigen, dich-
terischen oder rednerischen Behandlung der Sprache.
In der gleichen Weise, wie die Kinder ihre Muttersprache
erlernen, lernen sie auch andere Sprachen, die sie bei Personen
aus ihrer Umgebung hören, nicht Mos wenn man sie dazu an-
hält, sondern bisweilen auch von selbst aus blossem Nachahmungs-
trieb. Dasselbe kommt aber auch bei Erwachsenen vor, wenn sie
längere Zeit in die Nothwendigkeit versetzt sind, sich mit andern
zu verständigen, deren Sprache ihnen fremd ist, wie diess Aus-
wanderern, Reisenden, Gefangenen nicht selten begegnet : sie mer-
ken sich zunächst die Bedeutung einzelner Ausdrücke und Redens-
arten, sprechen diese nach und erhalten dadurch, in Verbindung
mit den allgemein verständlichen, an keine Wortsprache gebun-
denen, Empfindungslauten und Geberden, das Mittel, sich auch die
übrigen Theile des fremden Idioms nach und nach anzueignen.
für das geistige Leben. 135
Will man sich nun klar machen, welchen Einfluss die Er-
lernung einer Sprache, wenn sie auf diese Weise zu Stande
kommt, auf die eigene Bildung des Lernenden (nicht blos auf
seinen Verkehr mit andern) ausübt, so kann man allerdings die
Bedeutung, die dem ersten Sprechenlemen, der Aneignung einer
Muttersprache, zukommt, kaum überschätzen. Durch sie erhält
der Mensch nicht allein das unentbehrliche Mittel für die Ver-
ständigung mit Seinesgleichen, sondern es werden ihm auch in
und mit ihr die Vorstellungen und Vorstellungsverkntipfungen,
die Begriffe und Denkformen, die Naturanschauung und die
Auffassung des menschlichen Lebens überliefert, welche sich in
ihr verkörpert, die Sprache als ihr hörbares Abbild geschaffen
haben. Indem er sich in die Sprache seines Volkes einlebt,
lebt er sich auch in seine Vorstellungs- , Gefühls- und Begriffs-
welt ein. Diese Welt trägt aber ein ganz bestimmtes nationales
Gepräge, sie ist aus dem geistigen Leben dieses Volkes hen^or-
gegangen. Die Muttersprache ist daher das erste und eines der
festesten von den Banden, durch welche der Einzelne mit dem
Leben seines Volkes verknüpft ist, der erste von den Kanälen,
durch welche der Geist dieses Volkes in ihn einströmt und
sich seiner bemächtigt, imd es gibt eben desshalb kaum etwas,
das eine Nationalität so im Innersten verletzte und in ihrem
Bestände gefährdete, wie die Unterdrückung ihrer nationalen
Sprache. Selbst die Volkssprache der engeren Heimath, die
Mundart, hat ihren eigenthümlichen Werth. Sie ist natur-
wüchsiger und origineller, als die Schriftsprache ; diese ist immer
ein Kunsterzeugniss, und wenn auch ein bestimmter Dialekt ihre
Grundlage bildet, muss sie doch, um von allen anerkannt und
gebraucht werden zu können, von der Eigenartigkeit dieser
Grundlage manches aufgeben, und von den übrigen Mundarten
der gleichen Sprache manches aufnehmen. So unentbehrlich
aber eine solche über den einzelnen Dialekten stehende gemein-
same Sprache für ein Volk ist , und so gewiss jeder hinter der
Bildung seiner Nation zurückbleibt, der sie nicht mündlich und
schriftlich zu handhaben weiss, so vieles entgeht doch dem,
welcher in keinem Dialekt heimisch ist; und wenn sich z. B.
136 Ueber die Bedeutung der Sprache und des Sprachunterrichts
unsere deutschen Dialekte jemals auch für den Gebrauch der
unteren Volksklassen und des täglichen Lebens vollständig ver-
lieren könnten, so würde ebendamit auch f&r unsere Schriftsprache
eine Quelle fortwährender Erfrischung und Verjüngung versiegen,
aus welcher die ersten Meister derselben immer wieder geschöpft
haben.
Eine andere Frage ist es, ob man wohl thut, wenn .man
die Kinder neben ihrer Muttersprache gleichzeitig noch eine
zweite erlernen lässt. Es gibt freilich Umstände, unter denen
sich diess von selbst macht. In Grenzprovinzen und Landes-
theilen von stark gemischter Bevölkerung, wo jedermann zwei
Sprachen zu beherrschen pflegt, hören die Kinder beide von
Klein auf so häufig, dass sich ihr Nachahmungs- und Mittheilungs-
trieb auf beide zugleich richtet; und ebenso verhält es sich in
solchen Familien, in denen wegen der verschiedenen Nationalität
der Eltern oder aus anderweitigen Gründen der häusliche Ver-
kehr ein doppelsprachiger ist. Auch wird niemand die Vortheile
verkennen, die eine so frühzeitige Aneignimg zweier Sprachen
gewährt. Wem . sie gelingt , der ist nicht allein für den Ver-
kehr mit Angehörigen der frei;aden Nation von Hause aus mit dem
Hülfemittel versehen , das ein anderer sich erst später mit Mühe
erwerben muss ; sondern die frühe Gewöhnung, in zwei Sprachen
zu denken, wird auch jener Leichtigkeit, sich in neuen Ver-
hältnissen zurechtzufinden, zugutekommen, die auch wirklich
in verhältnissmässig höherem Grade vorhanden zu sein pflegt,
wo verschiedene Sprachgebiete sich berühren. Allein diese
Vortheile werden in der Regel mit erheblichen Nachtheilen er-
kauft werden. Das Erlernen seiner Muttersprache fordert von
dem Kind für mehrere Jahre einen solchen Aufwand an geistiger
Thätigkeit, dass es immer eine Ausnahme und ein Beweis be-
sonderer sprachlicher Begabung sein wird, wenn es ohne Schaden
für diese nächste Aufgabe gleichzeitig noch eine zweite Sprache
zu erlernen vennag. Das gewöhnliche kann nur das sein, was
sich thatsächlich bei allen zweisprachigen Bevölkerungen findet,
so weit nicht in der Folge durch einen methodischen Sprach-
unterricht Abhülfe geschafft wird : es erzeugt sich entweder jene
J
für das geistige Leben. 137
widerwärtige, für ein gesundes Sprachgefühl unerträgliche Sprach-
mengerei, wie sie z. B. bei Deutschamerikanern der minder
gebildeten Klassen und oft auch noch höher hinauf üblich ist;
oder es geht, wie es an der westlichen Grenze des deutschen
Sprachgebiets, in manchen Theilen der Schweiz, im Elsass und
im vlämischen Belgien, gegangen ist : die Muttersprache wird nur
als Dialekt gesprochen, die fremde gilt als die Sprache der
Gebildeten, und die Masse derer, welche sich zu diesen zählen,
entfremdet sich so dem Geistesleben und der Literatur ihres
Volkes, ohne doch darum die des fremden in ihrer Eigenart sich
lebendig aneignen zu können, oder von ihm als eberjibtirtig anerkannt
zu werden. Man gibt das Bürgerrecht in der eigenen geistigen
Heimath auf, um sich dafür in der Fremde von den Brocken
zu nähren, die man mit beleidigender Herablassung zugeworfen
bekommt. Damit hängt aber noch ein zweites und wichtigeres
zusammen: der Einfluss der Sprache auf die menschliche Ge-
sammtbildung. In und mit der Sprache seines Volkes zieht
auch der Geist desselben in den des Einzelnen ein : seine Weltvor-
stellung, seine ethischen, religiösen, ästhetischen Anschauungen,
seine Denk- und Empfindungsweise, so weit diese in der Sprache
ihren Ausdruck gefunden haben. Wird nun das Kind, während
es eben durch Erlernung und Einübung seiner Muttei-sprache
diese Einwirkung des nationalen Geistes in sich aufnehmen soll,
gleichzeitig unter den Einfluss einer fremden Sprache und der
in ihr zum Ausdruck gelangten Anschauungen gestellt, so kann
die Folge keine andere sein, als Unsicherheit und Verwiming,
und es wird ihm in hohem Grad erschwert werden, für sich
selbst mit der Zeit die Geschlossenheit des Charakters, die
Eigenartigkeit seines Geistes- und Gemüthslebens zu gewinnen,
deren zuverlässigste Grundlage gerade das bildet, was allen
Gliedern eines Volkes als ein gemeinsam anerkanntes feststeht
und von Anfang an in ihr Fleisch und Blut übergeht. Wenn
CS daher die Verhältnisse eines zweisprachigen Landes oder
Hauses mit sich bringen , dass die Kinder schon in den ersten
Lebensjahren neben ihrer Muttersprache auch mit einer zweiten
bis zu einem gewissen Grade bekannt werden, so sollte man
138 Ueber die Bedeutung der Sprache und des Sprachunterrichts
doch, statt diese bequeme Gelegenheit zur Erlernung der fremden
Sprache möglichst auszunützen, sie vielmehr nach Kräften auf
die alltäglichen Dinge beschränken, alle erziehende und bildende
Unterhaltung dagegen so lange ausschliesslich in der Mutter-
sprache führen, bis das Kind in dieser so fest und in seiner
intellektuellen Entwicklung so weit fortgeschritten ist, dass ihm
ein regelmässiger Unterricht in der fremden Sprache ohne
Schaden ertheilt werden kann. Ganz verkehrt ist es vollends,
die Störung der natürlichen Geistesentwicklung dadurch aus-
drücklich herbeizuführen, dass man dem Kinde, noch ehe es
seiner Muttersprache einigermassen Hen* ist, von wälschen Er-
zieherinnen und Kindermädchen die fremde beibringen lässt.
Das beste dabei ist noch dieses , dass die Kinder das , was sie
von der Bonne gelernt haben, in kürzester Zeit wieder zu ver-
gessen pflegen, wenn nicht durch fortgesetzten Sprachunterricht
für seine Erhaltung gesorgt wird; lässt man aber diesen er-
theilen, so ist es viel zweckmässiger, erst dann mit ihm zu be-
ginnen, wenn die natürliche Vorbedingung dafür, der Besitz der
Muttersprache, gesichert ist.
Es sei mir erlaubt, hier anzuführen, was einer unserer ein-
sichtsvollsten Pädagogen, der früh verstorbene TheodorWaitz,
schon vor mehr als dreissig Jahren über diesen Gegenstand be-
merkt hat. Das Kind, verlangt er in einem sehr lesenswerthen
Abschnitt seiner Pädagogik (2. Aufl. S. 257), solle keine fremde
Sprache früher erlernen, als es sich die Muttersprache nicht
allein gedächtnissmässig, sondern auch gemüthlich angeeignet
habe. „Abgesehen nämlich von der Ueberlastung des Gedächt-
nisses, welche offenbar durch die gleichzeitige Aneignung zweier
Sprachen dem kleinen Kinde zugemuthet wird, ist es überhaupt
eine oberflächliche Ansicht, die der Gemüthsbildung sehr ge-
fährlich werden kann, wenn man die Sprache nur als eine Summe
von äusseren Zeichen betrachtet, auf deren Verständniss und
fertigen Gebrauch es allein ankomme. Dann wäre es freilich
gleichgültig, welche Sprache das Kind zuerst, welche zuletzt er-
lernte und ob eine oder mehrere zugleich. Ist dagegen die
Sprache erst das Mittel , die eigenen inneren Zustände allmählich
för das geistige Leben. 139
abzuklären und zu verdeutlichen, zwingt sie dem Gemüthsleben
einen bestimmten nationalen Typus auf, ertheilt sie der Auffassung
des gesammten Lebens sowohl nach der religiösen und sittlichen
als nach der ästhetischen und geselligen Seite hin eine be-
stimmte Färbung, die mit ihr und durch sie in das Gemüth des
Kindes eingeht, so kann es keine gleichgültige Sache sein, ob
das Gemüthsleben des Kindes zuerst in einer Sprache voll-
kommen heimisch werde, oder ob man es trotz des Wider-
strebens der Natur sogleich in zwei verschiedene hineinpresse,
Dass im letzteren Falle theils mannigfaltige Schwankungen in
der Begriffsbildung, theils Zwitterbildungen der Gefühle eintreten
werden, welche insbesondere die Consolidirung des Charakters
erschweren, liegt am Tage. Zum Glück bekommt in der Praxis
nach kurzer Zeit die eine Sprache beim Kinde doch das Ueber-
ge wicht über die andere, das Kind behält nicht zwei Mutter-
sprachen, sondern wirft die eine als lästige Fessel bei Seite:
die Natur hilft sich selbst und sucht wenigstens theilweise wieder
gut zu machen, was Menschenwitz verdorben hat."
6.
Wenn die Muttersprache lediglich durch Nachahmung und
Uebung erlernt wird, und wenn auch andere Sprachen auf diesem
Weg erlernt werden können, so handelt es sich bei dem metho-
dischen Sprachunterricht, wie er auf unsem höheren Lehr-
anstalten ertheilt wird, an erster Stelle nicht um die Uebung
im Sprechen, welche vielmehr bei den todten Sprachen gar nicht
oder nur ganz nebenher in's Auge gefasst wird, sondern um das
wissenschaftliche Verständniss der Sprache als solcher, so weit
dieses den Altersstufen zugänglich ist, denen dieser Unterricht
ertheilt wird. Der Schüler soll durch denselben nicht blos in
den Stand gesetzt werden, die Worte, die er vernimmt, auf die
Vorstellungen zu beziehen, als deren Zeichen sie nun einmal
gelten, und seine eigenen Vorstellungen in diese ihm überlieferten
Formen zu kleiden; er soll vielmehr den Weg, auf dem das
System der sprachlichen Bezeichnung zu Stande kommt, mit
Bewusstsein zurücklegen, er soll es verstehen lernen, wie die
140 Ueber die Bedeutung der Sprache und des Spracjiunterrichts
Sprache aus ihren Elementen nach festen Regeln sich aufbaut,
er soll in den Stand gesetzt werden, diese Regeln mit Sicherheit
anzuwenden, nicht allein richtig zu schreiben und zu sprechen,
sondern auch zu wissen, warum er sich so ausdrückt und nicht
anders. Dazu ist aber eine doppelte Bearbeitung des Sprachstoffes
nöthig, eine analytische und eine synthetische. Der Schüler
soll die verschiedenen Bedeutungen der Wörter, die unter Einem
Ausdruck zusammengefassten und dadurch mit einander schein-
bar verschmolzenen Begriffe unterscheiden, er soll aber auch
ihre Herkunft aus derselben Grundbedeutung kennen lernen, die
Verknüpfung der Vorstellungen, * durch welche sich die eine Be-
deutung der anderen angereiht hat, in allen ihren uns oft auf-
fallenden Uebergängen und Sprüngen innerlich nachbilden lernen.
Er soll dazu angeleitet werden, die Redetheile, die im thatsäch-
lichen Gebrauch der Sprache mit einander verknüpft und nur
in dieser Verknüpfung gegeben sind , auseinanderzulegen, jeden
für sich nach seinem eigenthümlichen Charakter zu betrachten,
die Geschlechtsunterschiede, die Zeichen der Steigerung und Ver-
kleinerung, die aus der Declination und Gonjugation sich er-
gebenden Wortformen in ihrer Bedeutung zu verstehen, die
Sätze in ihre einfachsten Bestandtheile zu zerlegen und aus
ihnen regelrecht zusammenzusetzen. Die Sprache soll, mit Einem
Wort, durch diesen methodischen Unterricht aus etwas unbe-
wusstem in ein bewusstes, aus einer gewohnheitsmässigen Fertig-
keit in eine Kunst, ein von bestimmten Regeln geleitetes Ver-
fahren verwandelt werden.
Es ist nun leicht zu sehen, welchen Werth diese methodische
Einführung in die Technik der Sprache schon für den praktischen
Zweck ihres richtigen Gebrauchs hat Mehr darf man allerdings
in dieser Beziehung nicht von ihr erwarten, als der theoretische
Unterricht überhaupt für die Praxis zu leisten vermag. Die
Grammatik schafft so wenig einen grossen Stilisten, als die
Aesthetik einen grossen Künstler. Weder die natürliche Be-
gabung noch die Uebung kann durch die blosse Kenntniss der
Regeln ersetzt werden. Aber beide bedürfen dieser Kenntniss
zur Leitung und Sicherung ihres Verfahrens. Sprechen lenit
für das geistige Leben. 141
man freilich nicht erst in der Schule, aber richtig zu sprechen
und zu schreiben wird denen ineist sehr schwer, die nie einen
regelrechten Sprachunterricht genossen haben; und auch das
ausgesprochenste stilistische Talent ist vor Verstössen nicht ge-
schützt, wenn nicht die Einsicht in den Bau und die Gesetze
der Sprache das Sprachgefühl läutert und befestigt und mit
Sicherheit unterscheiden lehrt, was in einer Sprache gewagt
werden kann, und was ihrer Natur widerstreitet. Wichtiger
aber, als dieser praktische Nutzen des wissenschaftlichen Sprach-
unterrichts, ist für uns sein Einfluss auf die allgemeine, formale
Ausbildung des Verstandes. Das Wort ist der Leib des Ge-
dankens, die Sprache das ursprünglichste, unentbehrlichste, voll-
kommenste Werkzeug des denkenden Geistes. Indem der Mensch
sprechen lernt, lernt er denken ; indem er die Sprache anaJysirt,
ihre Gesetze sich klar macht und sie mit deutlichem Bewusst-
sein anwendet, lernt er seine Begriffe unterscheiden und ver-
knüpfen, er erhält ein Bild von den verschiedenartigen Beziehungen,
in die sie zu einander treten können, von dem vielgestaltigen
Verhältniss der Gedanken, das in den Formen der Satzbildung
sich ausprägt. Die Grammatik ist die erste Schule der Logik;
und ist auch das Logische hier noch an seinen sprachlichen Aus-
druck gebunden, wird man sich auch der Denkformen nur in
dem Masse bewusst, wie sie in den Sprachfonnen zur Darstellung
gelangen, so hat doch auch schon diese erste Orientirung über
seine eigene Thätigkeit auf die Ausbildung des denkenden Geistes
einen Einfluss, dessen durchgreifende Bedeutung freilich nur
solchen ganz verständlich sein kann, die eben selbst eine philo-
logische Bildung erhalten haben; auch von ihjien aber nicht
selten gerade desshalb unterschätzt wird, weil ihnen durch die-
selbe vieles so in Fleisch und Blut übergegangen, zu einer für
sie so selbstverständlichen Voraussetzimg geworden ist, dass sie
gar nicht mehr fragen , wem sie es zu verdanken haben. Wer
es sich deutlich machen will, wie werthvoU und unentbehrlich
diese Schulung des Denkens ist, der sehe auf solche, denen sie
fehlt, und er wird leicht bemerken können, welche Mühe es
z. B. die Knaben anfangs kostet, bis sie auch nur die einfachsten
142 Ueber die Bedeatuog der Sprache und des Sprachunterrichts
logischen Unterschiede und Beziehungen, wie die von Subjekt
und Prädikat, Subjekt und Objekt, adverbialer und adjektivischer
Bestimmung, sich Mar genug gemacht haben, um sie mit voller
Sicherheit zu handhaben, wie lang es vollends dauert, bis sie
etwas feinere und verwickeitere syntaktische R^eln begreifen;
wie auch unter den Erwachsenen Leute, denen es weder an
technischem Geschick noch an praktischem Verstand fehlt, nicht
selten durch auffallende grammatische Unbehülflichkeiten und
Fehler beweisen, wie sehr ihren Gedanken die elementarste lo-
gische Disciplin abgeht; wie selbst in einem so aufgeweckten,
klugen und redegewandten Volk, wie die Griechen, noch zur
2ieit des Plato und Aristoteles die Mehrzahl der Gebildeten durch
Sophismen in Verlegenheit gesetzt werden konnte, die so voll-
ständig auf falscher Construction oder auf Verwechslung gleich-
lautender Wortformen beruhen, dass man sie heutzutage keinem
leidlich geschulten Tertianer für etwas anderes als schlechte
Scherae verkaufen könnte. Man hat nun nicht selten geglaubt,
dieser formal bildende Einfluss des Sprachunterrichts Hesse sich
auch durch irgend ein anderes Fach erreichen, das die Ver-
standeskräfte in Anspruch nimmt und übt; und man hat hiefiir
insbesondere die Mathematik vorgeschlagen, deren Vorzug vor
dem humanistischen Unterricht nicht blos auf der Strenge und
Sicherheit ihres Verfahrens, sondern namentlich auch darauf be-
ruhen soll, dass sie als das unentbehrliche Hülfemittel des tech-
nischen und naturwissenschaftlichen Wissens einen unvergleichlich
höheren praktischen Werth habe, als das Studium der Sprachen,
namentlich derjenigen, die nur noch in Schriften fortleben. Und
wenn es sich nur darum handelte, eine Ergänzung des philo-
logischen Unterrichts durch den mathematischen zu verlangen,
so würde niemand widersprechen. Die Nothwendigkeit einer
solchen ist heutzutage thatsächlich wie grundsätzlich so allgemein
anerkannt, dass darüber kein Streit ist. Meint man dagegen,
der philologische Unterricht liesse sich als allgemein wissen-
schaftliches Bildungsmittel durch den mathematischen ersetzen,
so liefert man damit nur den Beweis, dass man keinen klaren
Begriff von dem hat, was der eine und der andere leisten kann
für das geistige Leben. 143
und leisten soll. Die Mathematik ist ja ein unschätzbares Werk-
zeug für die wissenschaftliche Erforschung und die technische
Beherrschung der Natur, und der Unterricht in derselben ge-
wöhnt an eine Genauigkeit der Begriffe und eine Sicherheit der
Beweisführung, die sich in keiner anderen Wissenschaft so, wie
hier, findet. Aber er gewöhnt daran eben nur für das Gebiet,
welches allein so exakter Bestimmung und Messung fällig ist,
das der Zahlen, der Raumgrössen und der Bewegung. Um von
der Mathematik auch für die Behandlung solcher Gegenstände,
auf welche das mathematische Verfahren nicht umnittelbar an-
wendbar ist. Strenge des Verfahrens und Schärfe der Begriffe
zu lernen, dazu gehört schon eine Uebung und Selbständigkeit
des Denkens, welche sich von jungen Leuten selbst dann nicht
erwarten lässt, wenn ihnen der mathematische Unterricht in
einem höheren und weniger auf die nächsten Aufgaben be-
schränkten Sinn ertheilt wird, als diess leider nur zu oft der
Fall ist; wenn er nicht blos auf die gedächtnissmässige Mit-
theilung von Kenntnissen und die gewohnheitsmässige Einübung
bestimmter Methoden, sondern auch auf die Erzeugung der Ein-
sicht in ihre Gründe ausgeht. Anders verhält es sich in dieser
Beziehung mit dem Sprachunterricht. Da die Sprache das all-
gemeine Werkzeug des Denkens überhaupt ist, lernt man durch
denselben die Denkthätigkeit nicht blos auf ein bestimmtes und
ziemlich eng begrenztes Gebiet methodisch anwenden, sondern
man lernt in und mit den Elementen der Sprache auch die der
Denkthätigkeit kennen, alle Denkoperationen, welche in der
Sprache ziuai Ausdruck kommen, welches auch der Gegenstand
sei, mit dem sie es zu thun haben, nach festen Regeln mit
Sicherheit vollziehen. Die Mathematik zieht, als ein Muster
deduktiver Wissenschaft, aus gewissen Voraussetzungen die Fol-
gerungen, die sich nach allen Seiten hin aus ihnen ergeben;
aber diese Voraussetzungen beziehen sich nur auf die einfachsten
und allgemeinsten Bedingungen des zeitlich - räumlichen Daseins.
Die Sprachkunde nöthigt ihren Schüler, alle die verschiedenartigen
Begriffe, welche in die Worte gelegt sind, aus ihrer Umhüllung
herauszuschälen und allen ihren Verbindungen nachzugehen; sie
144 Ueber die Bedeutung der Sprache und des Sprachunterrichts
leistet ihm diesen Dienst namentlich auch hinsichtlich derjenigen
Begriffe, welche sich auf unser inneres Leben beziehen und von
den Thatsachen desselben abstrahirt sind, der sittlichen, religiösen,
logischen, psychologischen und ästhetischen. Gerade diese Be-
griffe sind es aber, deren Aufklärung die Erziehung des Menschen
zur Humanität, das, was wir Geistesbildung nennen, zwar freilich
für sich allein nicht hervorbringen wird, aber doch vom höchsten
Werth für sie ist, weil sie den Menschen als solchen, in der
ihm eigenthümlichen geistigen Thätigkeit angeht; und es ist
schon insofern nicht ohne Grund, wenn man diejenigen Studien,
deren allgemeine Grundlage die Philologie ist, die humanistischen
nennt. Diese Bezeichnung ist aber auch desshalb berechtigt, weil
uns die Sprachkunde nicht allein den Zutritt zu den Urkunden
öffnet, auf denen unsere Kenntniss vergangener Zeiten und ent-
legener Völker, die Verknüpfung unseres Geisteslebens mit dem
ihrigen, das geschichtliche Selbstbewusstsein der Menschheit be-
ruht, sondern weil auch das Erlernen einer Sprache, zweckmässig
geleitet, unmittelbar durch sich selbst zur Kenntniss ihrer Literatur
und Poesie, und eben damit zur Kenntniss eines äusserst werth-
voUen Ausschnitts aus dem unermesslichen Gebiete der mensch-
lichen Kultur hinführt. Haben daher hervorragende akademische
Vertreter der Naturwissenschaften und der Mathematik auf
Grund vieljähriger Erfahrung sogar hinsichtlich dieser Fächer
erklärt, von ihren Schülern seien diejenigen,, welche eine gründ-
lichere philologische Vorbildung besitzen, im Durchschnitt den
andern, selbst wenn diese mehr mathematische und physikalische
Kenntnisse zur Universität mitbringen, doch an Selbständigkeit
des Denkens überlegen und den schwierigeren Aufgaben der
späteren Semester besser gewachsen ®) , so wird noch mehr von
den Geisteswissenschaften und den Gegenständen, womit sie es
zu thun haben, behauptet werden müssen, dass eine fruchtbare
Beschäftigung mit denselben nur erschwert werden würde, wenn
auf unseren Gymnasien das gegenwärtig bestehende Verhältniss des
philologischen Unterrichts zum mathematischen umgekehrt würde.
Es könnte nun beim ersten Anblick vielleicht als das zweck-
mässigste erscheinen, dass zur allgemeinen Grundlage für diesen
für das geistige Leben. 145
Sprachunterricht die Muttersprache der Schüler gewählt werde,
da sich ihnen die grammatischen Regeln in dieser am leichtesten
an einem Stoff, den sie schon kennen, zur Anschauung bringen
und Beispiele derselben von ihnen selbst finden lassen. In der
Wirklichkeit verhält es sich aber doch nicht so. Und zwar zu-
nächst schon desshalb, weil die Kinder gerade fllr die Grammatik
der Muttersprache das geringste Interesse zu haben pflegen.
Für den wissenschaftlichen Sprachforscher hat diese allerdings
einen eigenthümlichen Reiz; dem Knaben dagegen leuchtet es
nicht ebenso ein, wesshalb er auf diesem mühseligen Weg er-
lernen solle, was er in der Hauptsache schon zu wissen glaubt.
Wenn man ihn in einer fremden Sprache unterrichtet, so be-
greift er , dass er dadurch befähigt werden soll, diese Sprache
zu sprechen oder die in ihr verfassten Schriften zu lesen; er
sieht sich durch jeden Fortschritt in derselben diesem Ziel
näher gebracht, empfindet ihn als eine Vermehrung seines
Könnens. Dieses selbst jedoch hat seine tieferen, in der Natur
der Sache liegenden Gründe. Der Werth eines methodischen,
grammatischen Sprachunterrichts für die Ausbildung des Ver-
standes beruht, wie wir gesehen haben, wesentlich darauf, dass
der Schüler durch denselben dazu gebracht wird, die geistigen
Thätigkeiten , deren Ausdruck und Erzeugniss die Sprache ist,
mit Bewusstsein, unter Vergegenwärtigung der für sie geltenden
Regeln, mit deutlicher Unterscheidung ihrer einzelnen Elemente,
zu vollziehen. Dazu ist er aber in ganz anderer Weise ge-
nöthigt, wenn die Kenntniss der Sprachformen und Regeln ihn
erst in den Stand setzt, eine Sprache zu verstehen und zu ge-
brauchen, als wenn diese Kenntniss blos nachträglich zu einer
auf anderem Weg erworbenen Fertigkeit im Gebrauch derselben
hinzukommt. Wie wir femer von jedem Gegenstand nur da-
durch eine deutliche Vorstellung erhalten, dass wir ihn mit
andern vergleichen und uns vergegenwärtigen, was er mit ihnen
gemein hat und wodurch er sich von ihnen unterscheidet, so
gilt diess auch von der Sprache. Der Bau und die Eigenthümlich-
keit unserer eigenen Sprache wird uns nur durch die Ver-
gleichimg mit anderen deutlich; und sie ist es auch allein,
Zell er, Vorträge und Abhandl. III. 10
146 lieber die Bedeutung der Sprache und des Sprachunterrichts
durch welche wir die allgemeinen , in jeder Sprache irgendwie
zum Ausdruck kommenden Gedanken und Gedankenbeziehungen
von den Wörtern, Wortfonnen und Wortverbindungen unter-
scheiden lernen, mit denen sie in einer bestimmten Sprache für
den, der nur diese gewohnheitsmässig erlernt hat, ununterscheid-
bar verschmolzen sind. Nur durch sie wird uns die Grammatik
zu einer Schule der Logik. Die methodische Erlernung einer
fremden Sprache leistet daher selbst für das grammatische Ver-
ständniss der Muttersprache mehr, als sich durch den Unterricht
in der letztem ohne den gleichzeitigen in einer fremden erreichen
lässt; und für den Zweck der allgemeinen Verstandesbildung
ist sie desshalb ungleich geeigneter, weil sie den SchtUer in weit
höherem Grad, als jener, dazu nöthigt, von den Worten auf die
Degriflfe, von der blossen Gewohnheit auf die Regeln zurückzugehen.
„Doch dem mag immer so sein," sagt man; „aber wenn auch
eine oder ein paar fremde Sprachen gelernt werden müssen,
warum wählt man dazu gerade solche, mit denen die meisten
in ihrem späteren Leben so gut wie nichts anfangen können,
die sie daher sofort nach dem Abgang von der Schule möghchst
rasch wieder vergessen?. Warum nicht statt des Lateinischen
Französisch, statt des Griechischen Englisch, was die Schüler
später ja doch lernen müssen, oder wenigstens diese neueren
Sprachen an erster Stelle, das Latein erst an zweiter, und das
Griechische fakultativ für solche, die diese Liebhaberei haben?
Die wenigsten von unseren jungen Leuten wollen ja die alte
Philologie zu ihrem Lebensberuf machen, und wenn erst das
neue Unterrichtssystem eingeführt ist, wird es deren noch viel
weniger geben; wozu nun alle andern mit den Vocabeln und
grammatikalischen Regeln von Sprachen belasten, die schon
längst niemand mehi* spricht und ausser einigen Specialfiichem
auch niemand mehr schreibt?"
Die meisten von denen, welche so reden, (und es sind deren
ja heutzutage nicht wenige und laut genug lassen sie sich gleich-
falls vernehmen) scheinen nun freilich in ihrem Theil an dem
„alten philologischen Kram", den sie von der Schule mitgebracht
haben, nicht so schwer zu tragen, dass sie eine besondere
für das geistige Leben. 147
Veranlassung hätten, sich über diese Bürde zu beklagen; und
wenn uns ein ausgezeichneter Naturforscher "^j unlängst -den
Kath gab, den „mittelalterlichen Standpunkt" der humanistischen
Gymnasien endlich einmal zu verlassen, war diess gleichfalls
keine glücklich gewählte Bezeichnung. Gerade die klassische
Philologie lag das ganze Mittelalter hindurch vollkommen brach,
ihre Wiederbelebung versetzte der mittelalterlichen Bildungsfonu
einen tödtlichen Stoss, sie hat der Wissenschaft unserer Zeit,
mit Einschluss der Naturwissenschaft, den Boden bereitet, und
nicht die Anhänger des Alten, sondern die Reformatoren und
Humanisten des 16. Jahrhunderts waren es, die sie pflegten
und empfahlen; vollends den Begründern der heutigen Alter-
thumswissenschaft und des heutigen philologischen Unterrichts
auf Gymnasien und Universitäten kann man alles andere eher
vorwerfen, als eine Vorliebe für mittelalterliche Anschauungen.
Mit diesen hat daher das Unterrichtssystem unserer humanistischen
Lehranstalten nichts zu schaffen. Damit ist nun allerdings noch
nicht bevriesen, dass es den Bedürfiiissen unserer Zeit in jeder
Beziehung entspricht. Und wenn es beim Jugendunterricht nur
darauf ankäme, den Schülern möglichst rasch eine Anzahl von
Kenntnissen und Fertigkeiten beizubringen, die sie im Geschäfts-
und Verkehrsleben unmittelbar verwerthen können, so möchte
man vielleicht das Bedauern darüber theilen, dass unsere Jungen
einen so grossen Theil ihrer Zeit auf das Erlernen von Sprachen
verwenden, von welchen die wenigsten von ihnen jemals einen
praktischen Gebrauch machen werden. Anders stellt sich die
Sache, wenn man die wesentliche Aufgabe der Gymnasien darin
sucht, das sie ihre Zöglinge nicht blos mit den Kenntnissen,
sondern auch mit der Geistesbildung ausrüsten, deren sie für
die höheren wissenschaftlichen Studien und für diejenigen Be-
rufsarten bedürfen, auf welche sie sich dereinst durch solche
Studien vorbereiten sollen. Um diesem Zweck zu ent-
sprechen, müsste der Unterricht in den neueren Sprachen nach
derselben Methode ertheilt werden, die sich hinsichtlich der
alten bewährt hat. Man dürfte sich nicht damit begnügen,
dass man die Schüler in den Stand setzt, die fremde Sprache
10*
148 Ueber die Bedeutung der Sprache und des Sprachunterrichts
mündlich und schriftlich gewandt und richtig zu gebrauchen;
sondern wenn der allgemein bildende Einfluss des Sprachstudiums
zu seinem Recht kommen sollte, müsste man sie in das gramma-
tische und lexikalische Verständniss derselben ebenso tief ein-
führen, wie man diess jetzt beim Unterricht in den alten
Sprachen sich zum Ziel setzt. Dann würde man aber wohl
bald finden , dass die Zeiterspamiss, welche man sich von der
Zurücksetzung der letzteren gegen die lebenden Sprachen ver-
spricht, gar nicht so gross wäre, wie man sich diess wohl vor-
stellt. Wer mit der lateinischen und griechischen Grammatik
vertraut ist, der wird sich in derjenigen der romanischen und
germanischen Sprachen mit geringer Mühe zurechtfinden; wer
Deutsch und Latein kann, der wird den Wortvorrath derselben
seinem Gedächtniss ungleich schneller und fester einprägen, als
ein anderer, weil ihm die meisten Wurzeln und ihre Bedeutungen
schon bekannt sind. Ein erheblicher Theil der Zeit, welche
den alten Sprachen gewidmet wird, kommt daher auch dem
Unterricht in den neueren zugute : die klassische Philologie legt
den Grund für die moderne, und das Latein insbesondere ist für
einen wissenschaftlichen Betrieb der letzteren so unentbehriich,
dass es ganz unbegreiflich ist, wie Männer vom Fach es für
zulässig halten konnten, den Unterricht in den neueren Sprachen,
selbst an höheren Lehranstalten, in die Hand von Leuten zu
legen, von denen keinerlei Nachweis dafür verlangt wird, dass
sie sich, mit einer Sprache ausreichend bekannt gemacht haben,
von der alle romanischen direkt abstammen, die englische mittel-
bar den bedeutendsten Einfluss erfahren hat.
Die entscheidenden Gründe gegen den Vorschlag, das Stu-
dium der alten Sprachen durch das der neueren zu ersetzen,
liegen aber darin, dass jenes für die formale Bildung mehr
leistet als dieses, und dass es allein uns die lebendige Kenntniss
einer Kultur ermöglicht, von der sich die unsrige in gerader
Linie herleitet und an der sie sich immer neu zu erfrischen
hat. Die lateinische Grammatik ist durch ihre Strenge und
Folgerichtigkeit ein eben so vorzügliches Werkzeug für die all-
gemeine Schulung des Denkens, wie es das römische Recht für
für das geistige Leben. 149
die Schulung des juristischen Denkens ist ; und sie lässt sich in
dieser Beziehung durch die einer beliebigen neueren Sprache so
wenig ersetzen, als sich die Pandekten durch den Code Napoleon
ersetzen lassen. Die griechische Sprache vereinigt mit der durch-
gebildeten Elarheit ihres logisch - grammatischen Auf baus einen
Eeichihum, eine Beweglichkeit, eine Fähigkeit, sich jedem Be-
dtirfoiss des sprachlichen Ausdrucks anzupassen, eine Fülle und
Durchsichtigkeit der Satzbildung, einen Wohllaut, womit sie
ebenso einzig dasteht, wie die griechische Kunst mit ihrer
Klassidtät. Alle die Geistesthätigkeiten und Kräfte, welche die
Sprachschöpfung in Anspruch nimmt und das Sprachstudiimi aus-
bildet, werden von ihr gleichmässig angeregt; die klarste Auf-
fassung der uns umgebenden Welt, die feinste Beobachtung des
menschlichen Lebens spiegelt sich in ihr ab, und sie ist ebenso
reich an den Mitteln zur scharfen Bezeichnung von Gedanken-
verbindungen und BegrifTen, wie an Ausdrücken für ästhetische
Anschauungen, sittliche Eigenschaften und Verhältnisse, innere
Vorgänge und Gemüthszustände. Und gerade der Umstand,
welcher in den Augen unserer pädagogischen Utilitarier den
hauptsächlichsten Vorwurf gegen das Erlernen der alten Sprachen
begründet, dass es nämlich keinen unmittelbar praktischen Zweck
habe, — gerade dieser Umstand gibt ihm einen besonderen
Werth für den Zweck der allgemeinen Bildung. Der Unterricht
in den neueren Sprachen, so weit er auf der Schule ertheilt
wird, findet seinen natürlichen Abschluss doch immer darin, dass
man sie sprechen und schreiben lernt, und dieses praktische
Ziel wird demi Lernenden fast ausnahmslos , in der Regel aber
auch dem Lehrer, als das vorschweben, worauf der ganze Unter-
richt zu beziehen, an dessen möglichst vollkommener Erreichung
sein Werth zu messen ist. Ebendesshalb aber wird bei demselben
gerade dem, was der allgemeinen Verstandesbildung vorzugsweise
zugute kommt, dem Logischen, Grammatischen und Etymo-
logischen, nicht die gleiche Aufmerksamkeit geschenkt werden,
wie da, wo nicht der Gebrauch sondern das Verständniss der
Sprache der Zweck ist, für den man sie erlernt; man wird weit
eher geneigt sein, sich damit zu begnügen, dass man weiss, wie
150 üeber die Bedeutung der Sprache und des Sprachuntemchts
man es zu machen hat, wenn man auch nicht weiss, warum es
so zu machen ist. Nun lernt man freilich auch die alten Sprachen
nicht blos, um sie zu kennen, sondern imi vermittelst dieser
Kenntniss die alten Schriftsteller zu lesen ; und nur dieser Zweck
ihrer Erlernung ist den Knaben selbst verständlich, was dieselbe
sonst leistet, würde man ihnen umsonst begreiflich zu machen
versuchen; man thut indessen woW daran, wenn man diess gar
nicht versucht , sondern sie ihre Geisteskräfte an einer Arbeit
üben lässt, deren nächste Aufgabe sie begreifen, während die
tiefere einer allgemeinen Geistesgymnastik ihnen noch zu ferne
liegt. Demselben Zweck dient aber für sein Gebiet auch der
Unterricht in den neueren Sprachen, nur dass er damit den
weiteren, sie reden und schreiben zu lernen, verbindet; und
insofern könnte es scheinen, es sei in dieser Beziehung zwischen
beiden kein wesentlicher Unterschied. Allein diejenigen unter
den neueren Sprachen, um die es sich für uns beim Schulunter-
richt allein handeln kann, stehen alle dem Deutschen weit näher,
als das Griechische und Lateinische. Sie nöthigen daher den
Schüler nicht in dem gleichen Grade, wie diese, das, was er
aus der fremden Sprache in die eigene oder aus dieser in jene
übertragen soll, durch grammatische und logische Analyse sich
deutlich zu machen, sie legen es ihm weit näher, sich mit dem
mechanischeren Verfahren zu begnügen, das in einer blossen
Vertauschung der einzelnen Worte mit solchen der anderen
Sprache besteht. Für den Zweck einer grundlegenden all-
gemeinen Sprach- und Denkbildung eignen sie sich daher gerade
desswegen besser, als die lebenden Sprachen, weil sie mehr Ab-
straktion von dem gewohnten, eine bestimmtere Anknüpfung
des einzelnen an die allgemeinen Regeln, eine angestrengtere
Denkthätigkeit verlangen. n
Ebenso werthvoll ist aber die Kenntniss dieser Sprachen für
jeden, der sich eine höhere wissenschaftliche Bildung erwerben
will, auch desshalb, weil sie allein uns das volle Verständniss des
klassischen Alterthums möglich macht. So selbstgenügsam auch
manche in dem Bewusstsein, wie wir es jetzt so herrlich weit ge-
bracht, auf die dürftige Naturkenntniss , die unvollkommenen
für das geistige I'eben. 151
wissenschaftlichen Methoden, die verkehrten und beschränkten
Vorstellimgen der Alten herabsehen, so fest sie überzeugt sind,
dass es sich nicht verlohne, sich jahrelang mit der Erklärung von
Schriften zu quälen, aus denen wir ja doch nichts mehr lernen
können, so wenig lassen sich trotz alledem die zwei Thatsachen
aus der Welt schaffen, dass das Geistesleben der Alten zu dem
unsrigen den Grund gelegt hat, und dass es auch an sich selbst
Bildimgselemente enthält, deren Werth ein so hoher ist, dass ihre
Vernachlässigung auf unsem ganzen Kulturzustand verhängnissvoll
zurückwirken müsste. Um die heutige Wissenschaft und Bildung
wirklich zu verstehen, ihre Aufgaben und Leistungen richtig zu
würdigen, muss man sie auch bis zu ihrem Ursprung zu ver-
folgen im Stande sein; und wenn sich dieses Bedürfniss nicht
auf allen Gebieten gleich stark geltend macht, darf sich doch
keines seiner Anerkennung gänzlich entziehen. Schon ihre
Terminologie hat die heutige Wissenschaft grossentheils von den
Griechen übernommen oder aus griechischen Wurzeln gebildet,
und es ist ungemein schwierig und zeitraubend, sie solchen be-
greiflich zu machen, denen die Sprache fremd ist, aus der sie
herstammt. Aber auch unsere wissenschaftlichen Begriffe, unsere
ethischen und ästhetischen Anschauungen, unsere Kunstformen
stehen mit denen des klassischen Alterthums in einem so engen
Zusammenhang, dass vieles darin dem unverständlich bleiben
niuss, der mit jenem unbekannt ist. Noch wichtiger aber ist
es, dass wenigstens der Theil unserer Nation, den eine höhere
wissenschaftliche Ausbildung in den Stand setzen soll, ihre Führung
zu übernehmen, — und daftlr vorzubereiten ist die Aufeabe unserer
Gymnasien und Universitäten — dass dieser Theil unserer Nation
in den Geist des klassischen Alterthums tief genug eindringe,
um die unerschöpflichen Schätze benützen und für unser Volks-
leben fruchtbar machen zu können, welche die Künstler, die
Dichter, die Redner, die Geschichtschreiber, die Philosophen
Griechenlands und Roms uns hinterlassen haben, um insbesondere
das Geistesleben eines Volkes, dessen Bildung so einzig und in
ihrer Art unerreicht dasteht, wie die des hellenischen, — eines
Volkes, das mit dem gesundesten Realismus die Gabe verband.
152 lieber die Bedeutung der Sprache und des Sprachunterrichts'
alles in der Welt zu durchgeistigen und mit dem Hauche der
Schönheit zu beleben, — durch eigene Anschauung, nicht Mos aus
zweiter und dritter Hand in sich aufzunehmen. Dass diess aber
nur in sehr unvollkommener Weise möglich ist, wenn man die
Sprache dieses Volkes nicht kennt, braucht nach allem früher
erörterten hier nicht noch einmal ausführlich bewiesen zu werden.
Köpfe von hervorragender Begabung wissen freilich bisweilen
auch bei fragmentarischer und durch Uebersetzungen vermittelter
Kenntniss einer fremden Literatur in den Geist, aus dem sie
hervorgieng, wenn er dem ihrigen wahlverwandt ist, mit über-
raschender Leichtigkeit einzudringen. Allein daraus folgt nicht,
dass ihnen diess bei umfassenderer und selbständigerer Kenntniss
derselben nicht noch besser gelungen wäre; namentlich aber
nicht, dass man das, was ein- oder zweimal in seltenen Fällen
geschehen ist, zur allgemeinen Regel machen darf. Ein Schiller
war allerdings in der griechischen Sprache nicht sehr bewandert^),
und er ist dennoch mit hellenischem Geiste getränkt. Aber er
selbst hat jenen Mangel seiner Jugendbildung lebhaft beklagt;
und wenn er die Götter Griechenlands und die Braut von
Messina gedichtet hat, ohne viel Griechisch zu können, so hat
er auch im Taucher die Wunder des Meeres und im Teil die
Gebirgsnatur der Schweiz mit lebendigster Anschaulichkeit ge-
schildert, ohne das Meer oder das Hochgebirge jemals gesehen
zu haben. So wenig man aus dem letzteren Beispiel schliessen
kann, dass es unnöthig ist, die Welt mit eigenen Augen zu
sehen, eben so wenig kann man mit dem andern beweisen, dass
für den, dem es um klassische Bildung zu thun ist, die Kennt-
niss der griechischen Sprache entbehrlich sei. Werden femer
auch viele nach dem Abgang von der Schule die Beschäftigung
mit den griechischen, manche auch die mit den lateinischen
Schriftstellern aufgeben , so findet man doch nicht allein unter
den Philologen, von denen sich diess von selbst versteht, den
Historikern und den Theologen, sondern auch unter unsem
Naturforschem, Mathematikern, Juristen und Aerzten nicht wenige
Männer, die sich das Interesse für die alte Literatur dauernd
bewahrt haben, und die nicht blos ihren Tacitus oder Horaz,
für das geistige Leben. 153
sondern auch ihren Homer und Sophokles, ihren Herodot, Thuq-
dides und Demosthenes , vieDeicht auch Plata oder Aristoteles
im Original zur Hand nehmen. Und auch die, welche diess
nicht thun , werden doch , wenn sie ihre Gymnasialstudien mit
einigem Eifer betrieben haben, durch dieselben in den Stand
gesetzt sein, theils die alten Schriftsteller selbst in Uebersetzimgen
theils die neueren Werke, die auf ihren Schultern ruhen oder
die sich mit dem klassischen Älterthum beschäftigen, und ebenso
die Denkmäler der alten Kunst in ganz anderer Weise zu ver-
stehen und zu gemessen, als sie diess ohne jene Schule vermöchten.
Allein die Gymnasien sind überhaupt nicht dazu da, dass
die jungen Leute in ihnen nur das lernen, wovon sie später ihr
Lebenlang Gebrauch machen werden. Wenn dieses ihr einziger
Zweck wäre, mtissten sie sich in unbestimmt viele Vorschulen
für einzelne Specialfächer auflösen. Die Algebra und die Stereo-
metrie wird auch von den wenigsten nach ihrer Schulzeit noch
getrieben ; man hält es aber desshalb doch nicht für imnütz, sie
auf der Schule zu lehren. Und ebenso verhält es sich mit allen
Gymnasialfächem ohne Ausnahme: je höher sich der Unterricht
in denselben über die ersten Anfangsgründe erhebt, um so mehr
wird darin vorkommen, was die Mehrzahl der Schüler in ihrem
, späteren Leben anzuwenden keine besondere Veranlassxmg hat,
was daher die meisten liegen lassen und in seinen Einzelheiten
mit der Zeit vergessen. Auch die neueren Sprachen machen
davon keine Ausnahme. Der Prediger auf dem Lande braucht
die todten Sprachen, in denen die biblischen Schriften verfasst
sind, für seinen Beruf viel nöthiger, als lebende Fremdsprachen,
die in seiner Gemeinde niemand versteht. Selbst in kleineren
Städten, wenn sie nicht gerade in einer Grenzprovinz liegen,
wird der Beamte, der Rechtsanwalt, der Prediger, der Arzt in
der Regel ohne sie auskommen. Soll man sie aber desshalb aus
dem Lehrplan unserer Gymnasien streichen? Man müsste es
thun, wenn die Gymnasien nur das zu lehren hätten, was die
sämmtlichen Schüler für ihre späteren Berüfefächer nöthig haben.
Allein ihre Aufgabe ist eine andere und höhere. Sie sollen zu
deqenigen allgemeinen Bildung hinführen, welche von aller
154 Ueber die Bedeutung der Sprache und des Sprachunterrichts
wissenschaMichen Berufsbildung als ihre gemeinsame Grundlage
vorausgesetzt wird; und gerade die Gleichartigkeit dieser Vor-
bildung für alle die verschiedenen Fächer, in welche die Wissen-
schaft unserer Tage auseinandergeht, ist eine von den werfh-
voDsten Bürgschaften für die Einheit des geistigen Lebens in
unserem Volke. Für den erfolgreichen Betrieb der Universi-
tätsstudien selbst ist sie so unentbehrlich, dass nur die äusserste
Oberflächlichkeit auf den Einfall kommen konnte, die Universi-
tätsvorlesungen Hessen sich so einrichten, dass sie für alle die
jungen Leute, von denen sie besucht werden, gleich gut passen,
wenn auch der Vorbereitungsunterricht, den diese erhalten haben,
auf ganz verschiedenartige Zwecke berechnet, nach verschiedenen
imd imvereinbaren Gesichtspunkten organisirt gewesen sei: man
könne z. B. die beschreibenden Naturwissenschaften so be-
handeln, dass diejenigen, denen ihre Terminologie sprachlich
verständlich ist, und die, denen sie diess nicht ist, gleich viel
davon haben; man könne über die Geschichte der alten Philo-
sophie, oder die Einwirkung der griechischen Kxmst und Literatur
auf die neuere, Vorträge halten, die Zuhörern, welche kein grie-
chisches Wort kennen, keinen griechischen Dichter oder Prosaiker
gelesen, von griechischer Geschichte, Mythologie u. s. w. nichts
oder so gut wie nichts gehört haben, ebenso viel bieten und
ihrem Bedürihiss ebenso entsprechen, wie dem Bedürfhiss der-
jenigen, die man in allen diesen Dingen viele Jahre lang unter-
richtet hat®). Aber gerade die Jugendbildung wird von vielen
mit dem blossen Lernen verwechselt. Sie haben sich nicht
klar gemacht, dass es sich bei jener nicht darum handelt, sich
eine Anzahl bestimmter Kenntnisse und Fertigkeiten für Zeit-
lebens einzuprägen, dass ihre Aufgabe vielmehr die ist, die
Geisteskräfte möglichst allseitig zu üben und zu entwickeln, den
Sinn imd das Verständniss für alles das zu wecken, was dem
Leben des Menschen einen Werth gibt und es ihm erleichtert,
sich in der Welt zurechtzufinden, dass für sie weit mehr darauf
ankommt, wie gelernt wird, als was gelernt wird. Auch das
letztere ist freilich nicht gleichgültig. Aber der Masstab, nach
dem der Werth des Lernstoffes beurtheilt sein will, ist nicht der
für das geistige Leben. 155
handwerksmässige des Nutzens für bestimmte praktische Zwecke,
sondern der des Einflusses auf die Bildung des Geistes, imd
Charakters. Nicht mit den Gegenständen hat sich die Jugend
auf unseren Gelehrtenschulen zu beschäftigen, welche einem
jeden in seinem späteren Lebensberuf am häufigsten vorkommen
werden, sondern mit denen, welche an sich selbst den höchsten
Werth haben, dem Geist imd Gemüth die gesundeste, kräftigste,
dem jugendlichen Alter am besten zusagende Nahrung gewähren ;
und an diesem Masstabe gemessen wird die Eenntniss des
klassischen Alterthmns und die Grundlage derselben, die der alten
Sprachen, die Stelle, welche sie gegenwärtig im Jugendimterricht
einnimmt, auch femei» zum Segen für das geistige Leben unseres
Volkes behaupten.
Anmerkungen.
1) Nach Cicero Tuscul. I, 25, 62 u. a. vgl. meine Philosophie d. Gr.
1, 440, 1.
2) In dem Hymnus bei Stobaus Ekl. I, 80, wo ich V. 4, im wesent-
lichen mit Meineke, lese: ix aov yäg y€v6fjita&\ rjxov fil/jitj^ia Xa/ovreg
fjlOVVOi 11. s. w. '
3) De Iside et Osiride c. 47.
4) Vgl. Phil. d. Gr. IH, a, 435 f.
5) Im Kratylus ; vgl. Phil. d. Gr. II, a, 530 f. 3. Aufl.
6) Vgl. Hofmann die Frage der Theilung der philosophischen Facultat.
2. Aufl. (BerL 1881) S. 82 f. und die dort abgedruckten Gutachten der Berliner
philosophischen Facultat von 1869 u. 1880 S. 42. 51 f.
7) Preyee deutsche Rundschau November 1883, S. 257.
8) Aber doch war er derselben nicht so unkundig, wie man oft meint: in
der Karlsakademie hatte er 1773, in seinem vierzehnten Jahr, den ersten
Preis im Griechischen erhalten.
9) Vgl. hiezu.S. 96 f..
VII.
üeber das Kantische Moralprincip und den Gegensatz
fonnaler und materialer Moralprincipien.
(Gelesen in der Akademie der Wissenschaften zu Berlin den 11. und 18.
December 1879.)
Wenn wir auch Kant's bedeutendste wissenschaftliche That
in seiner Kritik des Erkenntnissvermögens zu suchen haben,
sieht er selbst doch die positive Hauptaufgabe seiner Philosophie
in jener Eeform der Ethik , durch die er auch wirklich auf die
Denkweise seiner Zeit noch durchgreifender eingewirkt hat, als
durch jene. Diese Reform der Ethik geht aber nach seiner
eigenen Erklärung von der Ueberzeugung aus, dass die Sitt-
lichkeit und die Sittenlehre sich nichts auf ein materiales, sondern
nur auf ein formales Princip gründen könne. Alle seine Vor-
gänger legten ihr, wie Kant sagt^), materiale Principien zu
Grunde, d. h. sie suchten den Bestimmungsgrund xmseres Willens
imd den Masstab für die Richtigkeit unserer Handlungen in dem
Erfolg, der durch sie erreicht werden soll; und da nun die
Vorstellimg dieses Erfolges nur dadurch als Motiv auf uns
wirken kann, dass sie unser Interesse erregt, so machten sie
das Interesse, das der begehrte Gegenstand für uns hat, seine
Wirkung auf unser Gefühl , die Lust, die er uns gewährt, zum
Beweggrund unseres Handelns. Sie alle hatten daher eudämoni-
stische Principien, solche, die von dem Streben nach Lust, also
von dem Gesichtspunkt der Selbstliebe ausgehen; nur dass bei
dieser Lust in der Regel an eine dauernde Lust, an die Glück-
seligkeit, gedacht wird. In welchem Verhältniss aber ein Gegen-
stand zu unserem Gefühl stehen, ob er für uns mit Lust oder
mit Unlust verbunden oder uns gleichgültig sein werde, diess
lieber das Kantische Moralprincip und den Gegensatz etc. 157
lässt sich nicht a priori^ sondern nur empirisch erkennen; alle
materiale Moralprincipien sind daher empirische Principien imd
ermangehi als solche der Allgemeinheit, die wir von einem
praktischen , für alle Vemunftwesen gleich sehr gültigen Gesetz
verlangen müssen. Da endlich ihnen zufolge das sittliche WoDen
und Handeln nur ein Mittel für unsere Glückseligkeit, also für
einen ausser ihm liegenden, von ihm selbst verschiedenen Zweck
sein soll, so leiden sie alle an einer Heteronomie, welche der
Natur eines Sittengesetzes widerspricht: der Wille gibt sich nicht
selbst ein Gesetz, sondern er empfängt es von dem Objekt, das
Gute soll nicht um seiner selbst, sondern lun eines anderen willen
gethan werden, das Sittengesetz nicht unbedingt, sondern nur xmter
der Bedingung gelten, dass durch seine Befolgung ein bestimmter
Erfolg erreicht werde. Diesen Mängeln und Misständen lässt sich
nach Kant nur dadurch begegnen, dass aus der Fassung des
Moralprincips und den ihr entsprechenden Beweggründen jede
Rücksicht auf die Materie unseres Handelns, auf den durch
dasselbe zu erreichenden Erfolg, ausgeschlossen, xmd lediglich
die Form unseres Willens als solche zum Masstab seines sitt-
lichen Werthes gemacht wird. Das Sittengesetz gilt für alle
Vemunftwesen unbedingt; ein sittlicher Wille ist nur da, wo
ihm unbedingt, um seiner selbst, nicht mn eines anderen willen,
aus Achtung vor dem Sittengesetz, gehorcht wird; und somit,
schliesst Kant, nur da, wo ihm ' lediglich um seiner gesetz-
gebenden Form willen gehorcht wird. Und da nun die unbe-
dingte Geltung eines Gesetzes in seiner Allgemeingültigkeit sich
bethätigt, so betrachtet Kant eben diese als das unterscheidende
Merkmal des sittlichen Handelns und drückt demnach den
wesentlichen Inhalt des Sittengesetzes in der Forderung aus:
so zu handeln, dass die Maxime unseres Willens sich zum Princip
einer allgemeinen Gesetzgebung eigne.
Mit dem erkenntnisstheoretischen Theil seines Systems scheint
diese Ableitung und Fassung des Moralprincips zunächst nur
durch den Gedanken^ des Gegensatzes zusammenzuhängen, in
dem nach Kant die theoretische und die praktische Vernunft
stehen. In unserem Erkennen sind wir auf die Erscheinungswelt
158 Ueber das Kantische Moralprincip und den Gegensatz
beschränkt, denn das empirisch gegebene kann von uns nur
unter den Formen unseres Vorstellens, daher nur als Erscheinung,
nicht nach seinem Ansich, aufgefasst werden, andererseits aber
besteht das apriorische in unseren Vorstellungen ausschliesslich
in Vorstellungs formen; diese können aber ihren Inhalt nm*
durch die Erfahrung erhalten, über dasjenige dagegen, was über
die Erfahrung hinausgeht, geben sie keinen Aufschluss und
lassen sich darauf nicht anwenden , da sie eben nur die Art
und Weise bezeichnen, in der wir das Gegebene zur Einheit
des Bewusstseins zusammenfassen. Ueber die Erscheinung hin-
auszukommen und das Ansich der Dinge zu cfrkennen, wäre
uns nur dann möglich, wenn uns entweder in unserem apriorischen
Erkennen ausser den Vorstellungs formen auch ein bestimmter
Vorstellungs in halt gegeben wäre, wenn wir jenes Vermögen
einer intellektuellen Anschauung besässen, das uns versagt ist;
oder wenn andemtheils die Erfahrung uns das Gegebene anders,
als in den subjektiven VorsteDungsfdrmen, zeigen könnte. Nur
unser freies Wollen ist es, das als ein Ausfluss unserer intelli-
gibeln Natur ims mit der übersinnlichen Welt in Verbindung
setzt: nicht um sie zu erkennen, denn diess ist nach Kant un-
möglich, sondern um unabhängig von sinnlichen Antrieben zu
wollen und zu handeln. Es scheint so zwischen den beiden
Hauptiheilen des Kantischen Systems grundsätzlich nur das Ver-
hältniss eines durchgreifenden Gegensatzes stattzufinden.
Kant verwickelt sich nun freilich mit diesen Bestinunungen
in einen Widerspruch, der seinem System schon oft entgegen-
gehalten worden ist. Alles vernünftige Handeln setzt eine
Kenntniss der Zwecke und der Beweggründe voraus, um derent-
willen gehandelt wird. Sollen wir aus andern als sinnlichen
Beweggründen handeln, so müssen wir auch von anderem, als
den sinnlichen Erscheinungen, etwas wissen; es ist daher nicht
richtig, dass wir in unserem Erkennen auf die Erscheinungs-
und Sinnenwelt beschränkt sind. Und Kant leitet ja auch
wirklich aus der praktischen Vernunft jene Ueberzeugungen ab,
die er zwar als Sache des Glaubens, als praktische Postulate
bezeichnet , die sich aber ihrer wissenschaftlichen Form nach
formaler und materialer Moralprincipien. 159
von theoretischen Sätzen nicht unterscheiden, da sie aus den
Thatsaehen des sittlichen Bewusstseins durch beweiskräftige
Schlüsse gewonnen sein wollen: den Glauben an Gott, Freiheit
und Unsterblichkeit. Es lässt sich nicht verkennen, dass damit
die Metaphysik, welche aus dem Gebiete der reinen Vernunft
ausgewiesen worden war, durch die Hinterthüre der praktischen
Vernunft sich wieder einischleicht, und dass das entgegengesetzte
Verhalten des Denkens und des Wollens zur übersinnlichen
Welt, welches Kant annimmt, auf einer unhaltbaren Trennung
des zusanunengehörigen beruht. Wenn uns unser Denken nicht
über die Sinnenwelt hinausführte, so könnte sich auch unser
Wille nichts Uebersinnliches zum Ziel setzen; wenn wir um-
gekehrt mit unserem Wollen nicht in die Schranken der
Sinnenwelt gebannt sind, so können wir es auch mit unserem
Denken nicht unbedingt sein, da der Wille, welcher sich auf das
Uebersinnliche richtet, den Gedanken des letzteren nothwendig
in sich schliesst, dieser Gedanke daher durch die 'blosse Analyse
dessen, was uns in der inneren Anschauung gegeben ist, gefunden
und zu einer vielleicht nur unvollkommenen aber doch immer
gesicherten Erkenntniss erhoben werden kann.
Kant's praktische Philosophie steht indessen mit seiner
Erkenntnisstheorie nicht blos in dem gegensätzlichen Verhältniss,
das freilich jedem sofort in die Augen fällt ; sondern beide sind
auch, wie sich diess bei einem so originellen und folgerichtigen
Denker, wie Kant, zum voraus nicht anders erwarten lässt, durch
positive Beziehungen mit einander verknüpft; jede von beiden ist
in ihrer Eigenthümlichkeit durch die andere bedingt und durch
beide ziehen sich dieselben leitenden Gedanken hindurch.
Zunächst nämlich ist schon das nicht zufällig, dass derselbe
Philosoph, welcher die Fähigkeit unserer Vernunft im theore-
tischen Gebiete so gering anschlägt, im praktischen das aller-
höchste von ihr erwartet und verlangt. Je vollständiger er die
Hoffiiung aufgegeben hat, dass es dem menschlichen Denken je-
mals gelingen könne, durch die Hülle der Erscheinung zum
Wesen der Dinge vorzudringen, um so stärker ist in ihm der
Drang , diess- auf anderem Weg zu erreichen , die Fesseln der
160 Ueber das Kantische Moralprincip und den Gegensatz
Sinnlichkeit, in die unser Erkennen unabänderlich gebannt ist,
durch die Kraft eines Willens, der sich von allen sinnlichen
Triebfedern befreit hat, zu sprengen, und den Menschen so
wenigstens in dem, was von ihm selbst abhängt, in seiner Ge-
sinnung und dem aus ihr entspringenden Handeln, zum Glied
einer höheren Welt zu erheben. Wir finden so bei Kant das
gleiche, was uns da und dort in der Geschichte der Philosophie
begegnet: dass sich das philosophische Interesse den ethischen
Fragen um so hoffiiungsvoUer und mit um so nachhaltigerem
Erfolge zuwendet, je geringer sein Zutrauen zu der Leistungs-
fähigkeit der spekulativen Vernunft ist. Wie einst Sokrates,
hierin wie in anderem Kant's griechisches Vorbild, die ganze Kraft
seines Geistes gerade desshalb auf die sittlichen Aufgaben des
Menschen concentrirte , weil ihm die Probleme der Physik un-
lösbar erschienen, so zog Kant die gleiche Folgerung aus seiner
Ueberzeugung von der Unmöglichkeit einer Metaphysik. Das
Uebersinnliche ist uns ausser uns, als ein gegenständliches, nicht
gegeben ; um so dringender ist für uns die Aufgabe, es in uns
selbst aufzusuchen und zur lebendigen Kraft zu entwickeln, um
so ausschliesslicher sind wir darauf angewiesen, es praktisch,
mit unserem Willen, zu ergreifen. Andererseits verleiht aber
auch nur die Ueberzeugung, dass diess wirklich möglich sei,
dem Philosophen die Kaltblütigkeit, mit der er die gefährlichsten
kritischen Operationen vornimmt: wüsste er nicht alle die
Glaubensartikel, deren der Mensch flir sein praktisches Verhalten
bedarf, von einer anderen Seite her gesichert, so würde es ihm
schwerlich ebenso leicht werden, die Unhaltbarkeit der Gründe
aufzuzeigen, auf welche die frühere Metaphysik sie gestützt
hatte. Und wie so von den beiden Haupttheüen des Kantischen
Systems jeder den andern zu seiner Ergänzung voraussetzt, so
gehen auch beide von der gleichen Ansicht über den Werth
der auf das Uebersinnliche gerichteten Geistesthätigkeit aus.
Kant spricht der theoretischen Vernunft jede Befähigung zu einer
wahren Erkenntniss des Wirklichen ab, weil sie uns nicht über
die sinnliche Erscheinung hinausführt; er preist die praktische
Vernunft, weil sie diess leistet^). Bei dem einen wie bei dem
formaler und materialer Moralprincipien. 161
andern von diesen Urtheilen setzt er voraus, dass der Werth
unserer geistigen Thätigkeit davon abhänge, ob sie uns das Be-
wusstsein dessen verschafft, was der Erscheinung als ihr Wesen
zu Grunde liegt, des Uebersinnlichen , InteDigibeln. Von der
theoretischen Vernunft wird diess verneint, von der praktischen
wird es bejaht, aber der Masstab, nach dem ihr Werth bestimmt
wird, ist in- beiden Fällen der gleiche.
Um so natürlicher werden wir es nun finden, wenn die
Principien der Kantischen Ethik auch ihrem Inhalt nach denen
der Erkenntnisstheorie entsprechen. Ihr Grundbegriff ist der
Begriff der sittlichen Selbstbestimmung, der Freiheit. Der
menschliche Wille ist frei, d. h. er ist fähig, sich unabhängig
von allen ihm von aussen kommenden Antrieben seine Zwecke
selbst zu setzen, er unterliegt keinen zwingenden Naturgesetzen ;
und weil er frei ist, entspricht seiner Natur nur dasjenige Handeln,
in dem er sich als frei bethätigt, sich nicht durch das ihm
Gegebene, durch die Naturtriebe und die äusseren Beize be-
stimmen lässt, sondern sich nach intelligibeln Gesetzen seiner
Vernunft selbst bestimmt, nicht die Heteronomie, sondern nur
die sittliche Autonomie. Das gleiche Gesetz gilt aber auch für
unser Denken. Wie es die Autonomie ist, welche das sittliche
Wollen vom sinnlichen Begehren unterscheidet, so ist es die
Spontaneität, welche das unterscheidende Merkmal des Verstandes
gegen die Sinnlichkeit ausmacht. Vermittelst der Sinnlichkeit
werden uns Gegenstände gegeben; sie ist die Beceptivität, ver-
flöge der wir Vorstellungen durch die Art erhalten, wie wir
von Gegenständen afficirt werden. Die Verstandeserkenntniss
dagegen ist eine Erkenntniss durch Begriffe, und alle Begriffe
8Xtinden sich auf die Spontaneität des Denkens^). Wie daher
die oberste Anforderung an den Willen die sittliche Autonomie
ist, so ist das höchste wissenschaftliche Ideal Kant's eine
Wissenschaft aus reinen Begriffen, also eine solche, die lediglich
aus der Spontaneität des denkenden Geistes, ohne Beihülfe der
Erfahrung, hervorgegangen wäre. Wenn es eine Metaphysik,
^iiie Erkenntniss des Uebersinnlichen gibt, so muss diese, wie
die Prolegomenen schon in ihrem ersten Paragraphen ausführen,
Zell er, Vorträge und Abhandl. EI. 11
162 üeber das Kantische Mon^^nncip und den Gegensatz
nicht aus der ErfEthrong gesdiöpft, sondern eine Erkenntmss
a priori^ eine reine philosophische Erkenntniss sein; und eben-
desshalb mrd die Frage über die Möglichkeit einer Metaphysik
auf die Vorfrage zurückgeführt, ob synthetische Urtheile a priori
möglich seien. Darauf antwortet unser Philosoph nun aller-
dings: sie seien nur möglich in Beziehung auf G^enstande
einer möglichen Erfahrung, aber nicht in Beziehung auf das, was
über jede Erfahrung hinausli^, also nur in Beziehung auf Er-
scheinungen, nicht auf das Ding an sich ; und er bestreitet dess-
halb die Möglichkeit der Wissenschaft, welche das Ansich der
Dinge zu ihrem eigenthOmlichen G^enstand hat, der Meta-
physik. Aber diess thut der Thatsache keinen Eintrag, dass es
nach E^t's Voraussetzung im Grebiete des Denkens wie in dem
des Wollens nur die geistige Spontaneität ist, welche uns über
die Erscheinung erheben kann; dass dag^en die Sinnlichkeit,
mag sie nun durch Anschauungen unserem Denken oder durch
Antriebe unserem Willen seinen Inhalt geben, unsem Blick von
dem Wahren und Wesenhaften ablenkt, uns von dem Aeusser-
lichen. Empirischen, abhängig macht. Und wiewohl unsere
Spontaneität im Erkennen an die Sinnlichkeit gebunden ist,
während sie im Handeln diese so weit zurückzudrängen vermag,
dass sie das Ideal einer von ihr durchaus unabhängigen Selbst-
bestimmung, einer vollkommenen sittlichen Autonomie, zwar nie
wirklich erreicht, aber ihm wenigstens immer näher kommt, so
zeigt sich doch selbst in jener Sphäre ihre Macht nicht gering.
Aller Vorstellimgsstoff ist uns zwar nach Kant in der Empfindung
gegeben, in der wir uns der Einwirkung der Dinge gegenüber nur
receptiv verhalten; aber jede Form, die dieser StoflF in imserenVor-
stellimgen annimmt, stammt aus uns selbst, aus der Thätigkeit, mit
der vrir das Gegebene nach apriorischen Vorstellungsgesetzen zur
Einheit des Bewusstseins zusammenfassen ; und diess gilt streng
genommen auch von den Formen der Anschauung, wiewohl Kant
selbst diese zur Sinnlichkeit, also zur Receptivität, rechnet. Die
gleiche Selbstthätigkeit, welche hier an das Gegebene gebunden
und dadurch beschränkt erscheint, stellt sich uns im sittlichen
Wollen und Handeln in ihrer reinen Gestalt dar.
formaler und materialer Moralprincipien. 1Q3
Aber wie diese geistige Selbstthätigkeit als Princip unserer
Vorstellungen nur die Form derselben aus sich erzeugt, so wiird
sie sich auch als praktisches Princip nur auf die Form unserer
Handlungen beziehen können. Verstehen wir nämlich imter der
Form derselben die allgemeine Regel, nach der wir uns bei
unseren Zweckbestimmungen richten, unter ihrem Inhalt die be-
stimmten Zwecke, die durch unser Handeln erreicht werden
sollen , so liegt am Tage , dass die letzteren , gerade nach den
Voraussetzungen der Kantischen Erkenntnisstheorie , nur auf
Grund der Erfahrung festgesteDt werden können. Bestehen sie
in einer Einwirkung auf die Aussenwelt, so ist uns ja diese nur
durch Vermittelung unserer Sinne, also nur empirisch, gegeben;
betreffen sie unsere eigenen inneren Zustände, so wissen wir
auch von ihnen nur durch die innere Erfahrung, die Beobachtung
der psychischen Vorgänge. Unabhängig von der Erfahrung kann
ein praktisches Princip nur dann sein, wenn es nicht in einer Be-
stimmung über dasjenige besteht, was durch unser Handeln er-
reicht werden soll und als Folge aus ihm hervorgeht, sondern in
einer Bestimmung über das, was ihm als sein subjektiver Grund
vorangeht, über die allgemeine Richtung, die Form unseres
Willens als solche, und abgesehen von jedem bestimmten Zweck
unseres Handelns. Das Moralprincip muss aber unabhängig von der
Erfahrung sein : denn die Erfahrung zeigt uns nur Erscheinungen,
wir sind in ihr auf die Sinnenwelt beschränkt, das sittliche
Handeln dagegen soll uns zum Uebersinnlichen erheben; und
den Sätzen, welche aus der Erfahrung abgeleitet sind, fehlt es
nothwendig an der Unbedingtheit und Allgemeingültigkeit, die
wir von einem Moralprincip verlangen müssen. Kann aber
dieses kein empirisches Princip sein, so kann es auch kein
materiales, sondern nur ein formales Princip sein: diese für
Kant's Ethik massgebende Bestimmung entspricht den Voraus-
setzungen seiner Erkenntnisstheorie in jeder Beziehung und ist
durch dieselben geradezu gefordert.
Nichtsdestoweniger geräth Kant durch diese Bestimmung in
grosse Schwierigkeiten. Wenn aus dem praktischen Princip
jede Beziehung auf einen bestimmten Zweck und Erfolg unserer
11*
164 Ueber das Kantische Moralprincip iind den Gegensatz
Handlungen entfernt wird, so bleibt nur der Gedanke eines ge-
setzmässigen Handelns überhaupt übrig: jenes Princip fuhrt sich
auf die Forderung zurück, dass das Sittengesetz als solches und
nichts anderes unsere Handlungen bestimme ; und sofern sich
diese Forderung an unser Inneres, unsem Willen und unsere
Gesinnung wendet , auf den Grundsatz , dass sie auch keinen
andern Beweggnmd haben, dass sie nicht allein dem Gesetz
entsprechen, sondern auch aus der Achtung vor dem Gesetz,
dem Gefühle der Pflicht, als ihrem einzigen Motiv entspringen
sollen. Fragen wir aber, welche Handlungen dem Sitten-
gesetz entsprechen, welche Zwecke zu verfolgen unsere Pflicht
ist, so zeigt sich nur das äusserliche, und zunächst gleich-
falls blos formale Merkmal, dass es solche sein müssen, deren
Verfolgung von allen Vemunftwesen in gleicher Weise verlangt
werden kann. Was durch ein unbedingt gebietendes Gesetz,
einen kategorischen Imperativ, gefordert ist, das muss von allen,
denen dieses Gesetz gilt, gleichsehr gefordert werden; was um-
gekehrt von allen gefordert werden kann, das kann für sie nicht
blos unter gewissen, nur für einen Theil derselben zutreffenden
Bedingungen, sondern es muss unbedingt nothwendig sein. Die
Unbedingtheit der sittlichen Anforderung und die Allgemeingültig-
keit derselben lassen sich nicht von einander trennen, jede von
beiden setzt die andere voraus ; und es ist insofern ganz richtig,
wenn es Kant als ein Merkmal alles dem Sittengesetz ent-
sprechenden Handelns betrachtet, dass der Beweggrund desselben
als Princip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne. Nur
ist die Sache damit nicht erledigt. Eine pflichtmässige Hand-
lung ist nur diejenige , deren Motiv sich zum Princip einer all-
gemeinen Gesetzgebung eignet. Aber woran erkennen wir, ob
und wie weit diess bei Handlungen einer bestimmten Art der
Fall ist? Auf diese Frage gibt uns Kant's Moralprincip keine
Antwort, und es kann uns gerade desshalb keine geben, weil es
ein blos formales Princip ist, jede Rücksicht auf den Zweck und
Erfolg unserer Handlungen zum voraus ablehnt. Es bleibt daher
nur übrig, hierüber die Erfahrung zu Rathe zu ziehen, zu
untersuchen, was herauskommen würde, wenn alle Menschen
formaler und materialer Moralprincipien. 165
ihr Verhalten nach diesem oder jenem Grundsatz eimichteten.
Und Kant verfährt wirklich nicht anders, wenn es sich dämm
handelt, eine bestimmte sittliche Vorschrift aus seinem Moral-
princip abzuleiten. Jedes vernünftige Wesen, sagt er*), müsse
sich in Ansehung aller Gesetze, denen es immer unterworfen
sein möge, zugleich als allgemein gesetzgebend ansehen können.
Nun sei auf solche Weise eine Welt vernünftiger Wesen als ein
Reich der Zwecke möglich, und zwar durch die eigene Gesetz-
gebung aller Personen als Glieder desselben. Demnach- müsse
jedes vernünftige Wesen so handeln, als ob es durch seine
Maximen jederzeit ein gesetzgebendes Glied im allgemeinen
Reiche der Zwecke wäre. Und anderswo^) gibt er die Regel:
„Frage dich selbst, ob die Handlung, die du vorhast, wenn sie
nach einem Gesetze der Natur, von der du selbst ein Theil
wärest, geschehen sollte, du sie wohl als durch deinen Willen
möglich ansehen könntest?" indem er beiftlgt: nach dieser Regel
beurtheile in der That jedermann den moralischen Charakter
der Handlungen; man sage: „wie, wenn ein jeder... sich er-
laubte zu betrügen , . . . oder anderer Noth mit völliger Gleich-
gültigkeit ansähe, und du gehörtest mit zu einer solchen Ord-
nung der Dinge, würdest du darin wohl mit Einstimmung deines
Willens sein?" Was heisst diess aber anders, als dass man den
Werth und die Zulässigkeit der Handlungen nach den Folgen be-
urtheilt, welche diese bestimmte Handlungsweise, wenn sie all-
gemein üblich würde, für den Zustand der menschlichen Ge-
sellschaft haben müsste ? Welches aber diese Folgen sein würden,
und ob sie sich in ein Reich der Zwecke einfligen oder ihm
widersprechen würden, diess lässt sich natürlich nur nach GiUnden,
welche die Erfahrung uns an die Hand gibt, entscheiden. Wir
erhalten somit auf diesem Wege für die sittliche Schätzung dei'
Handlungen einen empirischen Masstab, sie werden nach ihren
Folgen, also nach einem materialen Princip, beurtheilt, und dieses
besteht näher in der Glückseligkeit; wenn auch immerhin nicht in der
des Einzelnen, sondern in der des Ganzen, dem Wohle der mensch-
lichen Gesellschaft. Wie verträgt sich diess mit der so bestimmten
und wiederholten Erklärung Kant's, dass die Moral kein materiales.
166 Ueber das Kantische Moralpiincip und den Gegensatz
sondern ein rein formales, kein empirisches, sondern ein aprio-
risches Princip haben müsse, dass die Folgen unserer Hand-
lungen, der Einfluss derselben auf die menschliche Glückseligkeit,
bei ihrer sittlichen Beiutheilung nicht in Betracht konmien, keine
moralische Triebfeder sein dürfen? Man könnte vielleicht in
Kant's Sinn antworten : beides sei nicht unvereinbar ; die Rück-
sicht auf die Folgen, welche eine bestimmte Handlungsweise,
zur allgemeinen Regel geworden, nach sich ziehen würde, solle
nach Kant nicht der Bestimmungsgrund unseres Willens,
sondern nur das Merkmal sein, an dem wir erkennen, ob.
diese Handlung dem Charakter eines unbedingten imd daher
allgemeingültigen Gesetzes entspreche oder nicht; wir sollen
uns also zwar nicht dessh^lb des Betrugs, Diebstahls u. s. w.
enthalten, weil das Wohl der menschlichen Gesellschaft durch
solche Handlungen geschädigt würde, aber wir sollen aus den
Nachtheilen, die sie der Gesellschaft zufügen, ersehen, dass sie
der Anforderung des Sittengesetzes widersprechen. Allein diese
Vertheidigung würde nicht ausreichen. Denn gesetzt auch, wir
Hessen uns die eben besprochene Unterscheidung gefallen, wir
erklärten die Achtung vor dem Sittengesetz und seiner unbe-
dingt verpflichtenden Auktorität für das allein zulässige Motiv
unseres Handelns, die Gemeinnützigkeit einer Handlung dagegen,
diess, dass sie dem Zwecke der allgemeinen Glückseligkeit dient,
für ein blosses Anzeichen ihrer Uebereinstimmung mit dem
Sittengesetz, so entstände doch sofort die weitere Frage, mit
welchem Recht wir unter den Voraussetzungen der Kantischen
Ethik in der Gemeinnützigkeit ein Merkmal der Pflichtmässigkeit
sehen. Hienge die letztere nur von der Form des Gesetzes ab,
dessen Ausdruck unsere Handlungen sind, so liesse sich diese
dem Princip der Selbstsucht ebensogut geben, als dem der
Menschenliebe. Der Grundsatz, den eigenen Vortheil rücksichts-
los zu verfolgen, lässt sich ebenso unbedingt aufstellen, wie der
entgegengesetzte ; eine Welt, in der alle Einzelnen diesem Grund-
satz nachleben, ist an sich nicht undenkbar; und würde uns
freilich eine solche Welt, wie schon Hobbes erkannt hat, das
Bild eines fortwährenden Kampfes aller mit allen darbieten, so
formaler und materialer Moralprincipien. 1Q7
zeigt doch ein Bück auf die Thierwelt , dass in diesem Kampf
aller Individuen um's Dasein und durch denselben das aus ihnen
bestehende Ganze und seine Ordnung sich erhalten kann. Kämen
daher die materiellen Folgen unserer Handlungen für ihren sittlichen
Charakter wirklich nicht in Betracht, handelte es sich nur darum,
einem Grundsatz gemäss zu handeln, der sich zum Piincip einer
allgemeinen Gesetzgebung eignet, so würde ein folgerichtig durch-
geführtes System der Selbstliebe dieser Forderung gleichfalls
entsprechen. Sollen wir andererseits, wie diess unstreitig Kant's
Meinung ist, bei dieser Forderung nicht an eine allgemeine Ge-
setzgebung für irgend welche beliebige Wesen , also auch etwa
für vemunftlose, denken, sondern an eine allgemeine Gesetz-
gebung fürVernunftwesen, so muss in der eigenthümlichen
Natur der letzteren der Grund dafür angezeigt werden, wesshalb
der Grundsatz des gemeinnützigen Handelns sich zum Gesetz
für sie besser eignet, als der des selbstsüchtigen ; und diess kann
nur dadurch geschehen, dass die Natur vernünftiger Wesen, wie
sie uns durch unsere Selbstbeobachtung bekannt ist, untersucht,
und die Förderung des Gemeinwohls als das ihr allein ent-
sprechende Verhalten nachgewiesen wird. Damit ist aber die
Forderung eines blos formalen, von allen empirischen Bedingungen
unabhängigen Moralprincips durchbrochen; es zeigt sich viel-
mehr, dass sich diese Forderung nicht durchführen lässt, dass
ein solches rein formales Moralprincip nicht ausreicht, um be-
stimmte sittliche Verpflichtungen zu begründen, dass es für
sich allein die Frage, welche Handlungen sittlich seien, nicht zu
beantworten vermag, und daher jedenfalls noch durch andere, aus
der empirischen Untersuchung der menschlichen Natur und ihrer
Daseinsbedingungen entnommene Momente ergänzt werden muss.
Es bestätigt sich diess, wenn wir auf die systematische
Ausführung der Kantischen Ethik einen Blick werfen. Kant
vertheilt bekanntlich alle Tugendpflichten an die zwei Klassen
der Pflichten gegen sich selbst und gegen andere Menschen, von
denen er die ersten auf den Zweck der eigenen Vollkommen-
heit, die andern auf den der fremden Glückseligkeit zurück-
führt^). Aber nur der erste von diesen Zwecken lässt sich
168 lieber das Kantische Moralprincip und den Gegensatz
wirklich aus seinem Moralprincip ableiten, wiewohl Kant selbst
diess nur ungenügend gethan hat. Das oberste Prineip der
Tugendlehre, sagt er^), sei dieses: nach einer Maxime der
Zwecke zu handeln, die zu haben für jedermann ein allgemeines
Gesetz sein könne. Nach diesem Prineip sei es an sich selbst
des Menschen Pflicht, den Menschen überhaupt sich zum Zwecke
zu machen. Deutlicher und bündiger könnte man diess vielleicht
so ausdrücken, dass man sagte: wenn die Maxime unseres
Handelns sich zum Prineip einer allgemeinen Gesetzgebung
eignen soll, so dürfen wir als Vemunftwesen nur so handeln,
dass alle imsere Handlungen eine Bethätigung unserer Vernunft
und ebendamit auch ein Mittel zu ihrer weiteren Ausbildung sind;
denn für Vemunftwesen sei die Vemunftthätigkeit das allge-
meinste Gesetz ihrer Natur. Damit wäre neben dem formalen
Anspruch des Moralprincips auf Allgemeingültigkeit der Maximen
unseres Willens keine weitere Voraussetzung gemacht, als die-
jenige, welche der Ableitung des Moralprincips selbst schon zu
Grunde liegt, die Anerkennung der vernünftigen Natur des
Menschen; wenn auch freilich die besonderen aus dem Grund-
satz der eigenen Vervollkommnung sich ergebenden Pflichten
nur mittelst weiterer, auf die erfahrungsmässige Kenntniss der
menschlichen Natur, ihrer Bedürfnisse und Entwickelungsbe-
dingungen , gegründeter Erwägungen gefunden werden könnten.
Dagegen lässt sich nicht absehen , me mit /Kant's formalem
Moralprincip die Verpflichtung zur Beförderung fremder Glück-
seligkeit sich begründen lassen könnte; wenn wenigstens wahr
ist, was er selbst nicht müde wird uns einzuschärfen: dass „alle
praktischen Principien, die ein Objekt des Begehrungsver-
mögens als Bestimmungsgrund des Willens voraussetzen, insge-
sammt empirisch sind und keine praktischen Gesetze abgeben
können®)*". Denn ein Objekt des Begehrungsvermögens, ein
Erfolg, der ausserhalb unserer Handlung als solcher liegt, zu
dem sie sich als blosses Mittel verhält, ist die fremde Glück-
seligkeit gerade so gut wie die eigene. Ob ich eine Handlung
desshalb vornehme, um mich selbst, oder um andere in einen
bestimmten Zustand zu versetzen : ihr Zweck liegt in dem einen
formaler und materialer Moralprincipien. 169
wie in dem anderen Fall nicht in ihr selbst, sondern in dem,
was durch sie erreicht werden soll; und es wäre eine leere
Distinktion, wenn man sagen wollte: ihr Zweck liege zwar in
der Glückseligkeit der anderen, ihr Motiv dagegen in der Ach-
tung vor dem Sittengesetz, das uns zur Beförderung fremder Glück-
seligkeit verpflichte. Denn wie kann uns das Sittengesetz dazu
verpflichten, wenn die Glückseligkeit nicht an und für sich ein
Gut ist? Ist sie diess aber für die andern, so ist sie es auch
für uns selbst, und wenn es Pflicht ist, dass man die fremde
Glückseligkeit befordere, kann es unmöglich pflichtwidrig sein,
die eigene befördern zu wollen. Gerade nach Kant's Grund-
sätzen muss ja das, was für irgend jemand sittlicher Zweck sein
kann, es auch für alle sein können: wenn daher meine Glück-
seligkeit für die andern Zweck sein darf, so darf sie es auch
für mich selbst sein. Wenn Kant das erste behauptet und das
zweite läugnet, begeht er einen unverkennbaren Widerspruch.
In der Consequenz seiner allgemeinen Voraussetzungen hätte es
gelegen, die Sorge füi- die fremde so gut, wie die für die eigene
Glückseligkeit von der sittlichen Thätigkeit als solcher ganz aus-
zuschliessen. Es wäre dann aber freilich jene Einseitigkeit seiner
Moral nur um so schroffer zum Vorschein gekommen, welche
schon unter seinen nächsten Nachfolgern nicht blos einem
Schiller, sondern auch einem Fichte und Schleiermacher
eine ergänzende Umbildung derselben zum Bedürfiiiss machte:
<üe Einseitigkeit, deren Ausdruck der blos formale Charakter
seines Moralprincips ist. Um der Strenge der sittlichen An-
forderung und der Reinheit der sittlichen Motive nichts zu ver-
geben, will Kant von ihnen jede Rücksicht auf den Erfolg unserer
Handlungen, oder, wie er sagt, auf die Materie derselben, jeden
Gedanken an das Wohl des Menschen ausgeschlossen wissen;
lun unserem Willen den Weg zur übersinnlichen Welt offen zu
halten, verlangt er, dass derselbe jede Verbindung mit dem
sinnlichen Theil unserer Natur abbreche; macht es sich aber
dadurch unmöglich, die konkreten sittlichen Aufeaben aus seinem
Moralprincip als solchem abzuleiten, und das Pflichtgebot in eine
lebendige Beziehung zu dem individuellen Willen imd Bedürfiiiss
170 Ueber das Kantische Moralprincip und den Gregensatz
ZU setzen. Das oberste sittliche .Gesetz beschränkt sich, auf £e
formale Allgemeinheit des Willens, auf die Forderung, so zu
handeln, wie alle handeln können; als das einzig zuläsage sitt-
liche Motiv wird die Achtung vor dem Gesetz in solcher Aus-
schliesslichkeit geltend gemacht, dass jeder Antheil der Neigung
an der Pflichterfüllung, jede eigene Freude an derselben, be-
reits als eine Verunreinigung erscheint ; woraus von selbst folgt,
dass auch bei der Bestimmung unserer Zwecke das individuelle
Bedürfhiss nicht mitzusprechen hat, dass die Unbedingtheit der
sittlichen Anforderung, so wie sie hier gefasst ist, zu einer starren
Einförmigkeit hinführen müsste.
Trotz dieser unverkennbaren Mängel war nun freilich Kant*s
Verdienst um die philosophische Ethik ebenso gross, wie sein
thatsächlicher Einfluss auf dieselbe. Was zunächst ihre wissen-
schaftliche Form und Begründung betrifft, so hat er
zuerst eine Frage aufgeworfen, mit deren Untersuchung in Zu-
kunft jede wissenschaftliche Ethik anzufangen haben wird: die
an Kant's grundlegende erkenntnisstheoretische Forschungen sieh
unmittelbar anschliessende Frage nach dem apriorischen oder
empirischen Ursprung des sittlichen Bewusstseins ; denn auf diese
Frage führt sich bei ihm schliesslich die Unterscheidung der
formalen und materialen Moralprindpien zurück: jene sind
solche, die unabhängig von der Erfahrung aus apriorischen Ge-
setzen der praktischen Vernunft sich ergeben, diese sind aus der
Erfahrung geschöpft. Mit der Annahme eines rein apriorischen
Ursprungs der Sittengesetze ist aber bei Kant auch der Zug
aufs engste verbunden, durch den er massgebend, wie kein
zweiter, mit der durchschlagendsten und segensreichsten Wir-
kung, in die sittlichen Anschauungen imseres Volkes eingegriffen
hat: die Strenge, mit welcher sich in seiner Ethik der Pflicht-
begriff geltend macht, ohne irgend eine Ausnahme oder Ein-
wendung gegen die Unbedingtheit der sittlichen Anforderung zu
gestatten. Dieses letztere Verdienst ist nun so augenfällig, dass
es von allen Seiten anerkannt ist Ueber den anderen Punkt,
die Frage nach dem apriorischen oder empirischen Ursprung,
dem formalen oder materialen Charakter der sittlichen Gresetze,
1
formaler und materialer Moralprincipien. 171
sei es mir erlaubt, meiner bisherigen, bistorisch-kritischen Be-
trachtung einige allgemeinere Bemerkungen beizufügen.
Wenn Kant darauf dringt, dass das Moralprincip ein aprio*
risches, ebendesshalb aber ein rein formales Princip sein müsse,
so ist diess, wie wir gesehen haben, in seinem ganzen Stand-
punkt begründet. Nach seinen erkenntnisstheoretischen Voraus*
Setzungen erseheint ihm die unbedingte und ausnahmslose Gel-
tung des Sittengesetzes nur in dem Fall sichergestellt, wenn
es uns unabhängig von jeder empirischen Bedingung, als ein
apriorisches Gesetz der Vernunft, gegeben ist; und eben diese
Erwägung wird immer den stärksten Grund derjenigen bilden,
welche dem Sittengesetz einen apriorischen Ursprung beilegen
zu müssen glauben. Aber während man früher von der Voraush
setzung angeborener Ideen oder diesen gleichwerthiger intellek-
tueller Anschauungen aus die sittlichen Grundsätze nach Form
und Inhalt als apriorische, und desshalb keines weiteren Beweises
bedürftige Sätze behandelte , ist diess auf dem Standpunkt der
neueren Erkenntnisstheorie unmöglich geworden. Seit Locke
der Lehre von den angeborenen Ideen in einer zwar lange nicht
erschöpfenden, aber ihren Grundgedanken nach unwiderleglichen
Kritik den Krieg erklärt hat, konnte jede weitere Untersuchung
dieser Frage der Ueberzeugung nur zur Bestätigung dienen,
dass kein Vorstellungsinhalt, welcher es auch sei, anders, als
durch Vermittelung unserer eigenen Vorstellungsthätigkeit , in
unseren geistigen Besitz übergehen, daher keiner uns angeboren
sein könne; und dass wir ebensowenig durch intellektuelle An-
schauung oder überhaupt auf einem anderen Wege als dem der
äusseren und inneren Erfahrung die Vorstellungen gewinnen
können, die wir dann weiter zu Phantasiebildem und Begriffen
verarbeiten*). Wenn aber dieses, so können auch unsere sitt-
lichen Begriffe ihren Inhalt nur aus der Erfahrung schöpfen,
das Apriorische in denselben kann sich nur auf ihre Form,
nur auf die Art, w i e gehandelt werden soll, nicht auf das, was
gethan werden soll, beziehen ; denn nur die Gesetze unseres Willens
können uns , ebenso wie die Vorstellungsgesetze , als subjektive
Formen unserer geistigen Thätigkeit angeboren sein, die Zweck-
172 lieber das Kantische Moralprincip und den Gegensatz
begriffe dagegen, die durch unsere Willensthätigteit verwirkliclit
werden sollen, können mit allen anderen Begriffen erst im
Lauf unseres Lebens von uns gebildet werden. Soll es daher
ein sittliches Prineip geben, in dem gar kein empirisches Element
ist, wie diess nach Kant von dem obersten Moralprincip gilt, so
kann dieses nur die Form unseres WoUens betreffen, aber keine
auf seinen Inhalt bezügliche Bestimmung, keine sittliche Zweck-
bestimmung, enthalten. Der Urheber der Vemunftkritik hat
diess mit gewohntem Scharfsinn erkannt, und desshalb eine streng
formale Fassung des Moralprincips nothwendig gefunden; hat
aber dadurch seine Theorie allen den Einwürfen blosgestellt,
die schon oben entwickelt worden sind. Von ähnlichen Ein-
würfen müsste jede Theorie getroffen werden, welche den Ge-
danken eines rein apriorischen Moralprincips folgerichtig durch-
führte : sie müsste sich mit einem blos formalen Prineip begnügen,
aus dem sich keine bestinmiten Pflichten und Thätigkeiten ab-
leiten Hessen; müsste aber ebendesshalb, um für die Moral einen
positiven Inhalt zu gewinnen, um von allgemeinen Grundsätzen
zu bestimmten sittlichen Thätigkeiten und Pflichten zu kommen,
doch wieder, und in einer mit ihrem Standpunkt unvereinbaren
Weise, auf die Erfahrung zurückgehen. Einige Beispiele zur Er-
läuterung dieses Sachverhalts werden uns später noch begegnen.
Wollte man nun aber auf jede apriorische Ableitung der
sittlichen Gesetze verzichten und sich an die Erfahrung allein
halten, so würde den Vorschriften, die man auf diesem Weg
erhielte, das unterscheidende Merkmal sittlicher Gebote, das der
ethischen Nothwendigkeit, fehlen. Jede blos empirische Be-
gründung der Ethik führt sich auf die Betrachtung der Wir-
kungen zurück, welche nach dem Zeugniss der Erfahrung mit
gewissen Handlungen als Folge derselben verknüpft sind; und
den Masstab für die Beurtheilung dieser Wirkungen, und somit
auch für den Werth oder die Verwerflichkeit der Handlungen,
aus denen sie hervorgehen, kann nur ihr Einfluss auf das Wohl
des Menschen abgeben. Den Erfolg der Handlungen zum Mas-
stab ihres Werthes machen heisst mit anderen Worten, sie
nach ihrer Zweckmässigkeit, ihrem Nutzen für den Menschen,
fonnaler und materialer Moralprincipien. 173
beurtheilen. Ib der Erreichung unserer sämmtlichen Lebenszwecke
besteht nun unsere Glückseligkeit ; sie ist daher der letzte Zweck
unserer Handlungen, der Erfolg, auf den sie alle hinarbeiten;
und wenn sich ihr Werth nach ihrem Erfolg richtet, so richtet
er sich pach dem Einfluss, den sie auf unsere Glückseligkeit
ausüben. Kant hat insofern richtig gesehen, wenn er jede
Sittenlehre, die den Erfolg der Handlimgen zum leitenden Ge-
sichtspunkt nimmt, ihrer wissenschaftlichen Begründung nach
für eudämonistisch erklärt; in ihren materiellen Ergebnissen
können allerdings auch solche formell eudämonistische Theorieen
ausserordentlich weit auseinandergehen, denn diese hängen nicht
davon ab, ob die Glückseligkeit zum letzten Zweck gemacht
wird, sondern davon, worin die Glückseligkeit gesucht wird.
Allein wenn sich auch ein reiner und idealer Inhalt der EÜiik
mit ihrer empirisch - eudämonistischen Begründung verträgt, so
wird doch die ausnahmslose Geltung der sittlichen Anforderungen,
die Strenge des Pflichtbegriffs, durch dieselbe in Frage gestellt.
Nur dann würde das Princip der Glückseligkeit von diesem Vor-
wurf nicht getroffen, wenn man unter der Glückseligkeit das-
selbe verstehen wollte, was die grossen griechischen Ethiker
unter der Eudämonie verstanden, die naturgemässe Vollendung
des menschlichen Lebens. In diesem Fall hätte man an den
Gesetzen und Bedürfiiissen der menschlichen Natur einen ob-
jektiven Masstab, aus dem sich allgemeingültige Vorschriften
für das Handeln ableiten Hessen. Allein in diesem Sinn ist
nicht blos unter den neueren Moralphilosophen der Begriff der
Glückseligkeit nur von denjenigen gefasst worden, welche den-
selben mit Wolff und Leibniz auf den der Vollkommenheit
zurückführen, in Wahrheit also diese, und nicht die Glückseligkeit
als solche, zum Princip machen; sondern diese Fassung führt
überhaupt über die blos empirische Begründung der Moral, mit
der wir es hier zu thun haben, hinaus. Denn wenn nicht das
subjektive Gefühl, sondern die wesentlichen Bedürfnisse und die
gemeinsamen Gesetze der menschlichen Natur darüber entscheiden
sollen, was zur Glückseligkeit gehört, so schöpft dieser Begriff
seinen Inhalt nicht blos aus der Betrachtung der Wirkungen,
174 Ueber das Kantische Moralprincip und den Gegensatz
die sich aus gewissen Handlungen erfahrungsgemäss für unseren
persönlichen Zustand ergeben ; er entsteht uns vielmehr dadurch,
dass wir uns dessen bewusst werden, was durch dieeigenthüm-
liche Natur des Menschen, vermöge ihi'er inneren, apriorischen
Gesetze, gefordert ist. Macht man dagegen das Urtheil über
den Werth der Handlungen von ihren ihatsächlichen Wirkungen
abhängig, so entsteht sofort die weitere Frage, nach welchem
Masstab wir diese Wirkungen selbst beurtheilen , wesshalb wir
die einen erstreben, den anderen widerstreben sollen; und dar-
auf lässt sich, wie bemerkt , auf dem Standpimkt des ethischen
Empirismus nur antworten: ein Erstrebenswerthes, ein Gut, sei
für uns das, was uns Lust gewährt oder uns von Unlust befreit,
etwas zu Vermeidendes, ein Uebel, sei das, was Unlust herbei-
führt oder Lust verhindert. Die oberste Norm für die praktische
Werthsehätzung liegt auf diesem Standpunkt, mit Einem Wort,
in dem Gefühl der Lust und der Unlust : gut ist das Angenehme,
schlecht und verwerflich das Unangenehme. Daraus folgt nmi
allerdings nicht, dass wir dem momentanen Lust- oder Unlust-
gefühl unbedingt folgen sollen; die verschiedenen angenehmen
und unangenehmen Empfindungen können vielmehr gegen einander
abgewogen, es kann auf angenehmes verzichtet oder unange-
nehmes gewählt werden, um sieh für die Zukunft grössere Ge-
nüsse zu sichern oder überwiegenden Unannehmlichkeiten zu
entgehen, es kann unter verschiedenen Genüssen, die sich nicht
mit einander vereinigen lassen, dem höheren oder dauernderen
der Vorzug gegeben, und es kann aus diesem Grunde auch wohl
die sinnliche Lust der geistigen, die Befriedigung eines selb-
stischen Triebs der einer wohlwollenden Neigung zum Opfer ge-
bracht werden. Den vorübergehenden Genüssen und Unannehm-
lichkeiten treten so die dauernden, dem augenblicklichen Reiz
tritt die Berechnung der entfernteren Folgen, dem Angenehmen
tritt das Nützliche, dem Unangenehmen das Schädliche zur Seite,
und die Aufeabe der wahren Lebenskunst wird darin gefunden,
durch Abwägung und Ausgleichung aller dieser Momente jedem
Einzelnen die grösste nach den gegebenen Umständen für ihn
erreichbare Summe von Lebensgenuss zu verschaffen: die
formaler und materialer Moralprincipien. 175
Glückseligkeit im Sinn des dauernden individueflen Wohlbefindens
bildet den höchsten Masstab der sittlichen Beurtheilung.
Wie aber auf diesem Wege der Begriff sittlicher und recht-
licher Verpflichtungen gewonnen werden könnte, lässt sich nicht
absehen. Wird der Werth oder Unwerth unserer Handlungen
nach den Gefühlen der Lust und der Unlust bemessen, die aus
ihnen hervorgehen, so gibt es für denselben überhaupt keinen
objektiven und allgemeingültigen, sondern nur einen subjektiven
und individuellen Masstab. Denn was für jeden angenehm oder
unangenehm ist, hängt von dem Verhältniss des Gegenstandes
zu seinen persönlichen Zuständen, Bedürfnissen und Neigungen
ab; und gibt es auch solches, was jedem Menschen angenehm
oder imangenehm ist, so wird doch das Werthverhältniss der
verschiedenen angenehmen oder unangenehmen Gegenstände von
verschiedenen Personen sehr verschieden beuriheilt. Jeder Mensch
ist z. B. für sinnlichen Schmerz und sinnliche Lust, und jeder,
der nicht in der völligen Thierheit stecken geblieben oder in sie
zurückgesimken ist, auch für geistige Genüsse und wohlwollende
Greflihle empfänglich. Daraus folgt aber nicht, dass die einen
im Vergleich mit den andern für jeden den gleichen Werth
haben; so gut vielmehr der eine die geistigen Genüsse höher
schätzt, als die sinnlichen, kann bei einem andern das umgekehrte
stattfinden. Wie soll man nun dem letzteren beweisen, dass
seine Ansicht falsch sei? Wenn die letzte Entscheidung dem
Lust- und Unlustgefühl zusteht, ist das des einen gerade so be-
rechtigt, als das des andern ; und so gut A im Recht ist, wenn
er von sich aussagt, dass für ihn die geistige Lust den höheren
Werth habe, ist es auch jB, wenn er seinerseits das Gegentheil
von sich aussagt. Liesse sich aber auch der Nachweis herstellen,
dass gewisse Handlungen zu einer höheren, dauernderen, ge-
sicherteren Lust führen, gewisse Genüsse reiner, nachhaltiger, mit
weniger Unlust und Gefahr verknüpft seien, als andere, und
wäre es uns dadurch möglich gemacht, den Einfluss unseres
Verhaltens auf unsere Glückseligkeit nach erfahrungsmässigen
Daten zu berechnen, so ist doch unverkennbar, dass diese
Berechnimg, für's erste, immer nur eine Durchschnitts- und
176 lieber das Kantische Moralprincip und den Gegensatz
Wahrscheinlichkeitsrechnimg sein könnte , von welcher der Ein-
zelne nie sicher wüsste, ob sie auch auf ihn, nach seiner Indi-
vidualität und seinen Verhältnissen zutreffe; und dass sich aus
derselben, zweitens, zwar die Regel der Klugheit ableiten
liesse, um des eigenen Interesses willen so oder so zu handeln,
aber nicht die sittliche Verpflichtung zu diesem Handeln.
Möchte man z. B. noch so klar darthun, dass wir fremde Rechte
nicht verletzen dürfen, wenn wir unsere eigenen geachtet wissen
wollen, so würde daraus doch nur die Klugheitsvorschrift folgen,
sich des Unrechts zu enthalten, wenn man von demselben mittel-
bar oder unmittelbar Nachtheile zu befürchten hat, die den Vor-
theil der unrechtmässigen Handlung überwiegen; wer dagegen
die letztere zu verheimlichen verstände oder mächtig genug
wäre, um sich ihren nachtheiligen Folgen entziehen zu können,
für den läge folgerichtiger Weise kein Grund vor, das Rechts-
widrige zu unterlassen. Wenn die oberste praktische Norm in
den Folgen läge, die unser Verhalten für unser eigenes Wohl
nach sich zieht, würde die ganze Sittenlehre sich in eine Klug-
heitslehre auflösen, die nie ein unbedingtes und allgemeingültiges
Gesetz, sondern nur hypothetische Regeln aufetellen könnte, und
jedem nach seiner persönlichen Neigung und den Umstanden
der besonderen Fälle unbestimmbar viele Ausnahmen von diesen
Regeln gestatten müsste.
Um diesem Einwurf zu begegnen, nimmt man nun den Be-
griff des Gemeinwohls, des allgemeinen Interesses, zu Hülfe.
Zunächst zwar, sagt man, verfolgt jeder Mensch von Natur seine
eigenen Zwecke und Interessen; aber man musste sich bald
durch die Erfahrung überzeugen, dass nicht alle Zwecke der
Einzelnen und nicht alle die Mittel, mit denen sie verfolgt
werden, sich zu dem Wohl und Interesse anderer Menschen
gleich verhalten, dass die einen sich damit vertragen öderes
positiv fördern, die andern es verletzen. Das Gemeinschädliche
wurde getadelt, verhindert und bestraft, das Gemeinnützige ge-
lobt, unterstützt und belohnt; dieses erschien als etwas, das
sein soll, als gut, jenes als etwas, das nicht sein soll, als böse.
Die Begriffe des Guten und Bösen, des Rechts und des Unrechts
formaler und materialer Moralprincipien. 177
bezeichnen daher ursprünglich nichts anderes, als das Gemein-
nützige und Gemeinschädliche. Weil aber das, was mit dem all-
gemeinen Interesse übereinstimmt oder ihm widerstreitet, auch
zu dem Interesse jedes Einzelnen sich ebenso verhält, ist es
durch das eigene Interesse geboten, das Gemeinnützige zu thun,
das Gemeinschädliche zu unterlassen : liegt auch das letzte Motiv
unseres Handelns in unserem Interesse, so ist doch die Tugend
und das Rechtthun durch dieses selbst gefordert. Aber so
manches Richtige diese Theorie auch enthält, so wenig kann sie
doch zur Beantwortung der Frage genügen, mit der wir es hier
zu thun haben. Wenn es sich darum handelt, die thatsächliche
Entwickelung des sittlichen Bewusstseins zu erklären, wird man
allerdings von der Voraussetzung ausgehen müssen, dass es zu-
nächst die wohlthätigen oder nachtheiligen Folgen gewisser
Handlungen für andere waren, nach denen sich diese bei ihrer
Beurtheilung jener Handlungen, ihrem Lob und Tadel richteten,
und dass nur allmählich, mit der Läuterung und Verfeinerung
der sittlichen Gefühle und Begriffe, dieser äusserliche Masstab
durch einen innerlicheren, von der Gesinnung und Absicht der
Handelnden hergenommenen, ersetzt wurde. Aber die Vor-
stellungen des Guten und Bösen, des Rechts und des Unrechts,
konnten sich auf diesem Wege nicht bilden, wenn nicht in der
Natur des Menschen, und näher in seiner Vernunft, das Be-
dürfniss und die Fähigkeit begründet war, sich mit andern zu
vergleichen, ihre Zustände nach der Analogie der eigenen zu
beurtheilen, aus eigenen und fremden Erfahrungen allgemeine
Gesetze zu abstrahiren und sich in dem eigenen Thun nach den-
selben zu richten; wenn nicht in der Vemunftanlage des Men-
schen auch seine Aidage zur Sittlichkeit begründet war. Ohne
diese Bedingung hätte es nie dazu kommen können, dass aus
den Erfahrungen der Einzelnen über den Nutzen oder den
Sehaden, den gewisse Handlungen ihnen bringen, allgemeine und
von allen anerkannte Regeln des Handelns hervorgiengen ; sondern
jeder würde zwar das, was i h n verletzte, gehasst und abgewehrt,
das, was ihm nützte, geliebt und gelobt haben; aber keiner
hätte sich daraus den Grundsatz entnommen, anderen nicht
Zeller, Vorträge und Abbandl. III. 12
178 lieber das Kantische Moralprincip und den Gegensatz
zuzufügen, was er sich selbst nicht zugefügt mssen will, und
anderen das zn thun, wovon er wünscht, dass sie es ihm thun.
Wenn daher auch die Erfahrung über die Folgen der Hand-
lungen für die menschliche Gesellschaft zur Entstehung der sitt-
lichen Begriffe den ersten Anstoss gab, so reicht sie doch schon
zu ihrer psychologischen Erklärung nicht aus ; jede sittliche Ent-
Wickelung setzt vielmehr als ihren allgemeinsten inneren Grund
die Vemunftanlage des Menschen voraus. Noch weniger kann
aber jene Erklärung genügen, wenn es sich darum handelt, die
Gültigkeit der sittlichen Begriffe, die verpflichtende Kraft
der moralischen und rechtlichen Gebote darzuthun. Auch sie
soll sich auf das Interesse gründen ; nur dass dieses nicht Mos
das Interesse der Einzelnen sei, sondern das der Gesellschaft,
das allgemeine Interesse. Das Gemeinnützige, sagt man, ist das,
was allen vortheilhaft ist, das Gemeinschädliche, was allen
schadet; also müssen alle, in ihrem eigenen Interesse, jenes
wollen und gutheissen, dieses missbilligen und abwehren. Aber
in diesem Schlüsse versteckt sich eine Zweideutigkeit, eine
quaternio terminorum. Was allen Einzelnen vortheilhaft ist, das
werden freilich alle, sofern sie diess einsehen, begehren und
billigen, was allen Einzelnen nachtheilig ist, dem werden auch
alle widerstreben. Allein unter dem, was allen nützt oder
schadet, dem Gemeinnützigen und Gemeinschädlichen, versteht
man nicht das, was allen Einzelnen, sondern das, was der
Gesellschaft als Ganzem nützlich oder schädlich ist.
Dieses fällt aber mit jenem keineswegs immer zusammen, es
lässt sich vielmehr das, was im Interesse des Ganzen liegt, häufig
nicht ohne eine Beeinträchtigung mancher Einzelinteressen, und
niemals ohne eine fühlbare Beschränkung derselben durchsetzen:
das Gemeinschädliche kann dem Einzelnen für seine Pereon
grossen Vortheil bringen, das Wohl des Ganzen schwere Opfer
von ihm fordern. Was soll ihn nun bestimmen , auf jene Vor-
theile zu verzichten und diese Opfer zu bringen? Ein innerer
Verpflichtungsgrund dazu lässt sich nicht aufzeigen, so lange man
von keinem höheren Standpunkt ausgeht, als dem des Interesse's,
und so sieht sich diese Ansicht schliesslich immer wieder genöthigt,
formaler and materialer Moralprincipien. 179
die Verbindlichkeit der sittlichen und rechtlichen Gesetze auf
eine äussere Nöthigung, auf den Zwang zui'ückzuführen, welcher
gegen die Einzelnen von der Gesellschaft theils durch ausdrück-
liche Gesetze und Institutionen, theils durch alle jene materiellen,
wirthschaftlichen und moralischen Rückwirkungen geübt wird,
die auch ohne eine gesetzliche Organisation naturgemäss ein-
treten und in ihrer Gesammtheit eine so starke und in mancher
Beziehung unwiderstehliche Macht sind. Allein wenn sich
auch auf diesem Wege bis zu einem gewissen Grade begreiflich
machen lässt, wie auch in einer nur vom Einzelinteresse
geleiteten Gesellschaft sich eine äussere Ordnung bilden
kömite, so lässt sich doch nicht absehen, wie die dem Einzelnen
durch sein Interesse angerathene Unterwerfung unter den gesell-
schaftlichen Zwang jemals zu einer inneren sittlichen Ver-
pflichtung werden könnte ; wenn sie sich vielmehr als solche dar-
stellt, so mtisste darin eine Selbsttäuschung erkannt werden, von
der eben die Einsicht in ihre Entstehung uns befreit : die richtige
Consequenz dieser Theorie läge in der Behauptung, dass Recht
und Sitte uns nur so lange binden, als ihre Verletzung nicht
ohne überwiegende Nachtheile gewagt werden kann.
Aus allem diesem ergibt sich, dass die sittlichen Voi'schriften
zwar ihren Inhalt aus der Erfahrung schöpfen, dass aber ihre
verpflichtende Kraft auf allgemeinen, von jeder bestimmten Er-
fahrung unabhängigen Gesetzen des menschlichen Geistes be-
ruhen muss. Eine rein apriorische Deduktion dieser Gesetze
kann allerdings nur zu einem formalen Moralprincip , wie das
Kantische, führen, aus dem sich keine bestimmten sittlichen
Thätigkeiten und Pflichten herleiten lassen, das daher, um solche
zu gewinnen, schliesslich doch wieder auf die Erfahrung zurück-
gehen muss, während es doch dazu nach seinen eigenen Vor-
aussetzungen kein Recht hat. Will man sich nun aber, uin
diesem Uebelstand zu entgehen, an die Erfahrung allein halten
^Bid das Rechts- und Sittengesetz lediglich auf die Betrachtung
der Folgen gründen, welche aus gewissen Handlungen für den
Menschen und sein Wohl thatsächlich hervorgehen, so konmit
öian nie zu einer unbedingten sittlichen Verpflichtung, sondern
12*
180 lieber das Kantische Moralprincip und den Gegensatz
immer nur zu der Vorschrift der Klugheit, sich des Nachthefligen
dann zu enthalten, das Nützliche dann zu thun, wenn sich nach
den Umständen des gegebenen Falles erwarten lässt, dass die
nachtheiligen Wirkungen des einen, die vortheilhaften des andern
wirklich eintreten werden. Um unbedingt gültige Vorschriften
ftlr das Wollen und Handeln, sittliche und rechtliche Ver-
pflichtungen begi'ünden zu können, mtissten die Folgen unseres
Verhaltens mit demselben in einem so unauflöslichen Zusammen-
hang stehen, dass ihr Eintreten an keine weitere Bedingung, als
dieses bestimmte sittliche Verhalten selbst, an diese aber immer
und ausnahmslos geknüpft wäre. Diess ist aber bei denjenigen
Folgen desselben, welche sich auf unser äusseres Wohl beziehen,
offenbar nicht der Fall; denn ob diese eintreten, ob z. B. ein
Verbrechen bestraft, eine edle That anerkannt und belohnt wird,
oder nicht, hängt von einer Eeihe veränderlicher Umstände ab,
die fehlen oder vorhanden sein können, ohne dass der Charakter
der Handlung als solcher davon berührt würde. Aber auch die
Rückwirkung imserer Handlungen auf unser eigenes Gefühl und
Bewusstsein tritt keineswegs so unfehlbar und gleichmässig ein,
dass sich die sittlichen Verpflichtungen mit Sicherheit auf sie
begründen Hessen. Wären mit jeder schlechten That oder Willens-
regung nothwendig GeftQile der Unseligkeit, der Schaam, der
Reue, der Selbstverachtung, mit jeder Pflichterfüllung ebenso
nothwendig Gefühle einer so hohen inneren Befiriedigung ver-
knüpft, dass alle anderweitigen Opfer dagegen verschwänden, so
könnte es den Schein gewinnen, als ob Tugend und Eecht-,
schaffenheit nur wegen der mit ihnen verbundenen Gefühlszustände,
als Mittel, um zu ihnen zu gelangen, nicht an sich selbst noth-
wendig wären. Allein ob und in welchem Masse der sittliche
Werth imserer Handlungen in unserem eigenen Gefühl zum
Ausdruck kommt, die Pflichterfüllung als eine unerlässliche B^
dingung der Zufriedenheit mit uns selbst, die Pflichtverletzung
als eine innere Herabwürdigung, ein für unser eigenes Bewusst-
sein unerträglicher Widerspruch von uns empfunden wird, diess
hängt selbst schon von dem Stand unseres sittlichen Lebens ab.
Wer sittlich roh oder verkonunen ist, dem fehlt diese Empfindung,
fonnaler und materialer Moralprincipien. 181
dem ist es wohl im Gemeinen ; die sittlichen Anschaumigen und
Bedtirfiiisse sind in ihm nicht so weit entwickelt, dass er seinen
eigenen Zustand als einen unwürdigen und unseligen empfände.
So lange daher die Glückseligkeit an dem subjektiven Gefühl,
an der Zufriedenheit des Einzelnen mit seinem Zustand gemessen
wird, kann man es nicht als eine allgemein gültige Thatsache
hmstellen, dass dieselbe wenigstens als innere Glückseligkeit mit
der sittlichen Würdigkeit gleichen Schritt halte; diess ist viel-
mehr eine moralische Anforderung, deren Verwirklichung aber
nur von der fortschreitenden sittlichen Bildung erwartet werden
kann: es muss verlangt werden, dass alle ihre Glückseligkeit
von ihrer Würdigkeit abhängig fühlen, aber es kann nicht be-
hauptet werden, dass diess auch thatsächlich der Fall sei. Es
kann daher auch die sittliche Verpflichtung nicht mit dem Satze
begründet werden, dass die Tugend das einzige Mittel zur wahren
Glückseligkeit sei ; da dieser Satz vielmehr die Ueberzeugung, dass
die Sittlichkeit eine Forderung der menschlichen Natur sei, d. h.
die Anerkennung der sittlichen Verpflichtung, schon voraussetzt.
Lässt sich aber diese Verpflichtung als eine wirkliche Ver-
pflichtung, ein unbedingt imd allgemein gültiges Gesetz unseres
Verhaltens, weder mit den äusseren noch mit den inneren Folgen
desselben wissenschaftlich begründen, so wird es nur der Charakter
unserer Handlungen als solcher sein können, auf dem es beruht,
dass eine bestimmte Gesinnungs- und Handlungsweise Pflicht
für uns ist, die entgegengesetzte unserer Pflicht widerstreitet.
Näher jedoch wird diess das Verhaltniss sein, in dem sie zu den
allgemeinen Gesetzen und Bedürfnissen der menschlichen Natur
stehen. Es sind die Gesetze der menschlichen Natur, mn
die es sich hier handelt ^^); denn wenn vemunftlose Wesen
überhaupt keines sittlichen Handelns und keiner sittlichen Ver-
pflichtungen fähig sind, so würden sich andererseits für solche
Vemunftwesen, die keine oder eine von der menschlichen wesent-
lich verschiedene Sinnlichkeit hätten, sittliche Thätigkeiten, Ver-
hältnisse und Verpflichtungen anderer Ait ergeben, als für den
Menschen ^^); wie ja selbst Kant, trotz der allgemeineren Fassung
seines Moralprincips , doch die gebietende Form des Sitten-
182 Ueber das Kantische Moralprmcip und den Gegensatz
geeetzes und die Forderung einer Achtung vor dem Gesetz, die
mit der Neigung im Streit liegt, nur auf die sinnliche Natur
des Menschen zu begründen weiss. Der Versuch vollends, die
sittlichen Verpflichtungen des Menschen auf einen aussermensch-
lichen Willen zu gründen, dem der menschliche sich zu unter-
werfen habe, verbietet sich ausser allem andern schon durch die
Erwägung, dass die sittliche Nothwendigkeit dieser Unterwerfung
doch wieder nachgewiesen werden müsste, und nur auf demselben
Wege, wie alle sittlichen Anforderungen überhaupt^ nachgewiesen
werden könnte. Es können aber nur die allgemeinen Ge-
setze, die wesentlichen und sich gleich bleibenden Bedürfiusse
der Menschennatur sein, auf denen die sittlichen Gebote beruhen:
nicht die Gefühle der Lust und der Unlust, die mit den Indi-
viduen und ihren Zuständen wechseln, sondern nur die im Wesen
des Menschen begründeten, und desshalb an jeden Menschen als
solchen zu steUenden, von den äusseren Umständen und dem
persönlichen Belieben unabhängigen Anforderungen bieten der
Ethik eine gesicherte Giimdlage. Diese durch eine sorgfältige
Erforschung der menschlichen Natur zu bestimmen, ist die
erste, grundlegende Aufgabe der wissenschaftlichen Ethik. Ein
Shaftesbury und seine Nachfolger waren insofern auf dem
richtigen Wege, wenn sie zur Begründung der Moral von den
in der menschlichen Natur ursprün^ich angelegten Trieben und
Neigungen ausgiengen. Nur genügt es nicht, diese Triebe und
dieses bestimmte Werthverhältniss derselben als etwas thatsächlich
gegebenes zu behandeln, oder sich für das letztere auf die Lust
zu berufen, die mit der Befriedigung der einen oder der andern
von ihnen verbunden sei; davon nicht zu reden, dass der Be-
griflF der wohlwollenden oder geselligen Triebe für diejenigen
sittlichen Thätigkeiten und Verpflichtungen nicht ausreicht,
welche sich auf die Ordnung und Veredlung des persönlichen
Lebens als solchen beziehen. Die Angabe ist vielmehr: den
Grundzug oder die Grundzüge des menschlichen Wesens auf-
zuzeigen, aus denen die Forderung hervorgeht, im Einzelleben
das Sinnliche mit dem Geistigen, in der menschlichen Gesellschaft
das eigene Interesse eines jeden mit dem aller andern in dasjenige
formaler und materialer Moralprincipien. 188
Verhältniss zu setzen, in welchem die Sittlichkeit besteht; auf
jener Grundlage dieses Verhältniss näher zu bestimmen, und
durch Anwendung dieser Bestimmung auf das Ganze der Thätig-
keiten, welche aus den allgemeinen Bedingungen des mensch-
lichen Einzellebens und Gemeinlebens sich ergeben, ein System
des Rechts und der Moral zu gewinnen. Als die allgemeinste
ethische Anforderung, das oberste ethische Princip, würde sich
bei diesem Verfahren die Forderung ergeben, dass unser Wollen
und Handeln dem entspreche und aus dem Gefühl dessen her-
vorgehe, was dem eigenthümlichen Wesen des Menschen gemäss
ist, dass m. a. W. die Idee der Menschenwürde und der Hu-
manität die Bichtschnur und der Beweggrund unseres Thuns sei.
Denn das Wesen des Menschen als solchen, das, was ihn zum
Menschen macht, besteht in dem geistigen Theil seines Wesens,
in seiner Vernunft ; in demselben Mass aber, wie ihm diess zum
lebendigen Bewusstsein kommt, wird er es auch als eine Forderung
seiner Menschennatur anerkennen, alle seine Lebensthätigkeiten,
so weit diess von ihm abhängt, mit dem Geist zu durchdringen,
mit der Vernunft zu beherrschen, wird er daher auch ihren
Werth davon abhängig machen, dass diess geschehe; und da
nun die Vemunftgesetze allgemeine sind, so wird mit der An-
erkennung des eigenen Werthes, sofern sich diese auf die Ver-
nunft im Menschen, den geistigen Theil seines Wesens gründet,
die Anerkennung des gleichmässigen Werthes anderer Menschen,
es wird mit dem Geftüil der eigenen sittlichen Würde die Ach-
tung der fremden Persönlichkeit, die Humanität, Hand in Hand
gehen. Auf diese beiden Grundfordenmgen lassen sich aber
alle die Pflichten gegen uns selbst und gegen andere zurückführen,
welche das System der Ethik, mit Einschluss der philosophischen
Rechtslehre, umfasst^^).
Sofern nun bei dieser Begründung der Ethik von der Be-
trachtung der menschlichen Natur ausgegangen wird, welche
uns nur durch Selbstbeobachtung und Beobachtung anderer
Menschen bekannt wird, kann gesagt werden, alle Ethik beruhe
auf der psychologischen Erfahrung. Es gilt diess aber nicht
blos von einer solchen Ethik, wie sie hier in Aussicht genommen
184 lieber das Kantische Moralprincip und den Gegensatz
wurde, sondern von jeder wissenschaftlichen Ethik, und auch
die Kantische macht davon keine Ausnahme. Denn mag man
noch SO' sehr überzeugt sein, dass die Sittlichkeit auf einem un-
bedingten und unmittelbar in uns wirkenden Gesetz unserer
Vernunft beruhe, oder mag man sie andererseits auf angeborene,
nach Art eines Instinkts wirkende Triebe zurückführen, so muss
doch die Sitten lehre als solche das Dasein , den Inhalt und
den Charakter dieser Gesetze und Triebe erst feststellen, ehe sie
weitere Folgerungen daraus ableitet, und diess kann sie nur durch
jene psychologischen Untersuchungen, an denen auch Kant nicht
vorteigehen konnte. Indessen würde die Ethik selbst dadurch
noch keine Erfahrungswissenschaft, oder sie würde diess nur in
demselben Sinn, in dem man am Ende auch die Logik oder die
Mathematik Erfahrungswissenschaften nennen könnte; denn die
Gesetze und Formen des Denkens, die Grundanschauungen und
Axiome der mathematischen Wissenschaften sind uns gleichfalls
nur als Thatsachen unseres geistigen Lebens gegeben, über welche
unsere Selbstbeobachtung uns unterrichtet. Allein die Ethik be-
darf allerdings eines erfahrungsmässigen Stoffes noch in anderem
und weiterem Sinn als jene. Die Logik hat es nur mit den
Formen des Denkens, die Mathematik mit dem Formalen der
Zahl- und Raumgrössen zu thun ; bei der Ethik dagegen handelt
es sich, wie wir gesehen haben, nicht blos um die Form unseres
WoUens und Thuns , sondern auch um seinen Inhalt, die durch
dasselbe zu erreichenden Zwecke ; und sollen diess auch nicht
blos subjektive, zufälligen Umständen und individuellem Be-
lieben entnommene sein, sondern die im Wesen des Menschen
und in den bleibenden Bedingungen seines Lebens und seiner
Lebensentwickelung begründeten, so lassen sich doch auch diese
nicht aus einem allgemeinen Princip konstruiren, sondern nur
auf Grund der Beobachtxmg bestimmen, da uns nur diese über
die thatsächliche Beschaffenheit und die Bedürfnisse der mensch-
lichen Natur unterrichtet. Aber diese Zweckbestimmxmgen selbst
werden hier unter den Gesichtspunkt der sittlichen Nothwendig-
keit gestellt und nach sittlichen Normen beurtheilt. Es wird
nicht dem Einzelnen überlassen, welche Zwecke er sich setzen,
formaler and materialer Moralprincipien. 185
welche er vor andern bevorzugen oder gegen sie zurückstellen
will; sondern es soll nach allgemeinen Gesetzen darüber ent-
schieden werden, welche Zweckbestimmungen für den Menschen
als solchen nothwendig oder seiner unwürdig, welche unbedingt,
welche nur unter gewissen Bedingungen zu verfolgen sind, was
Pflicht, was verboten, was erlaubt ist. Diesen Charakter der
sittlichen Verpflichtung können die ethischen Vorschriften aus
der blossen Erfahrung, aus der Thatsache, dass gewisse Menschen,
und wären es deren noch so viele, dieses oder jenes sich zum
Zweck setzen, nicht schöpfen; er kann ihnen nur durch eine
innere, in der Natur des Wollenden begründete, und insofern
von jeder Erfahrung unabhängige Nothwendigkeit mitgetheilt
werden, nur aus apriorischen Gesetzen des menschlichen Wesens
herstammen, deren Erklärung die Psychologie immerhin versuchen
mag, deren Geltung aber durch eine solche Erklärung so wenig
bedingt ist, als die der mathematischen oder logischen Gesetze.
Jede sittliche oder rechtliche Vorschrift enthält daher sowohl
empirische als apriorische Elemente, und das Verhältnis beider
ist im wesentlichen das gleiche, wie bei den theoretischen Be-
griffen und Sätzen. Wie uns diese dadurch entstehen, dass wir
das in der Erfahrung gegebene nach den apriorischen Gesetzen
unseres Denkens beurtheilen, so erhalten wir die sittlichen Be-
griffe und Regeln dadurch, dass wir die Forderungen, welche
aus dem Wesen des menschlichen Willens hervorgehen, auf die
Aufgaben anwenden, die unserer praktischen Thätigkeit durch
unsere thatsächlichen Bedürfnisse und Zustände gestellt sind. Es
ist insofern zwar an sich selbst ganz treffend, aber es hebt doch
nur die eine Seite der Sache hervor, wenn neuerdings in Be-
ziehung auf die Rechtslehre, diesen wichtigen Theil der Ethik,
verlangt worden ist, dass sie ihre Bestimmungen nicht aus dem
allgemeinen, formalen Begriff des Willens, sondern aus den jeder
Rechtsbildung zu Grunde liegenden Bedürfnissen und Zwecken
herleite ^*). Jede, konkrete Rechtsbestimmung hat einen Zweck,
der durch sie gesichert werden soll, und alles Recht ist ur-
sprünglich nicht aus rechtsphilosophischer Reflexion, sondern aus
dem Bedürfhiss entsprungen, die Lebensthätigkeiten und Zustände
186 Ueber das Kantische Moralprincip und den Gegensatz
eines kleineren oder grösseren Theils der menschlichen Gesell-
schaft zu ordnen. Aber dass dieses Bedtirfiiiss zur Rechtsbildung
führte, dass das, was sich durch die Erfahrung als zweckmässig
bewährt, durch Gewohnheit befestigt hatte, als ein rechtmäsages
und rechtlich nothwendiges anerkannt wurde, lässt sich nur aus
der sittlichen Natur des Menschen begreifen. Der Inhalt der
Rechtsgesetze, der Zweck, dem jedes dient, bestimmt sich nadi
den Bedürfnissen der Einzelnen und der Gesellschaft ; aber ihre
verbindende Kraft, die Verpflichtung, die sie mit sich fühmi,
kann nur auf einer inneren und allgemeinen, im Wesen der
menschlichen Vernunft begründeten Nothwendigkeit beruhen.
Nehmen wir z. B. das Eigenthumsrecht, so lässt sich dasselbe
freilich aus dem abstrakten Begriff der Person oder des Willens
nicht ableiten, sondern nur mittelst der Erwägung begründen,
dass der Mensch zur Erhaltung und Vervollkommnung seines
Lebens eines Privatbesitzes bedarf: rein geistige Wesen, wie die
Engel , könnten des Eigenthums und des Eigenthumsrechts ent-
behren. Aber dass das faktische Verhältniss des Besitzes sich
in das rechtliche des Eigenthums verwandelt, dass der Besitzer
einer Sache unter gewissen Bedingungen die Befugniss erhält,
alle andern von ihrem Besitz und Gebrauch auszuschliessen, und
die andern diese Befugniss desselben zu achten nicht etwa nur
durch seine physische Uebermacht oder durch gesellschaftliche
Satzungen gezwungen, sondern rechtlich verpflichtet sind, dass
die Aneignung fremden Eigenthums nicht blos dem bürgerlichen
Gesetz gegenüber strafbar und insofern nach Umständen unklug,
sondern an sich selbst unsittlich und unrecht ist, diess folgt aus
der wirthschaftlichen Nothwendigkeit eines Privatbesitzes eben
nur dann, wenn es sich um eine Gesellschaft von vernünftigen,
ihre Thätigkeiten und Verhältnisse nach sittlichen Gesetzen
ordnenden Wesen handelt. Aehnlich verhält es sich, um ein
zweites Beispiel zu wählen, mit der Grundlage des ganzen Fa-
milienlebens, der Ehe. Die Ehe lässt sich allerdings in ihrer
Eigenthümlichkeit nicht verstehen, ohne von dem natürlichen
Verhältniss der beiden Geschlechter auszugehen ; aber wenn man
sich darauf beschränken wollte, würde man es nimmermehr be-
formaler und materialer Moralpnncipien. 187
greulich machen können, dass aus der physischen Verbindung
der Geschlechter eine das ganze persönliche Leben umfassende
sittliche Gemeinschaft hervorgeht und hervorgehen soll, und dass
jene selbst dadurch zum blossen Moment eines höheren und
umfassenderen Verhältnisses herabgesetzt wird ; man würde eben-
damit auch den wesentlichsten Bestimmungen des Eherechts,
wie vor allem der Monogamie und der lebenslänglichen Dauer
der Ehe, ihre innere Begründung entziehen. Das gleiche gilt
aber von allen Theilen des Rechts und der Moral. Ihren be-
stimmteren Inhalt können die ethischen Sätze nur den Thätig-
keiten und Verhältnissen entnehmen, auf welche sie sich be-
ziehen , so wie uns diese in der Erfahrung gegeben sind ; aber
ihre Allgemeingültigkeit und ihre verpflichtende Kraft beruht
darauf, dass diese Thätigkeiten und Verhältnisse unter den sitt-
lichen Gesichtspunkt gestellt, als Thätigkeiten und Lebenszu-
stände freier, vernünftiger Wesen behandelt werden.
Durch dieses Ergebniss hebt sich nun, wie bereits ange-
deutet wurde, jener schroffe Gegensatz auf, in welchen die
Kantische Erkenntnisstheorie die erkennende und die wollende
Vernunft setzt. Wenn unsere theoretischen Begriffe und Sätze
ihren Inhalt der Erfahrung entnehmen, so gilt diess von den
ethischen nicht minder; denn die menschliche Natur, von deren
Betrachtung die Ethik auszugehen hat, ist uns als Gegenstand
der Erfahrung, zunächst der inneren Erfahrung, gegeben, und
die konkreten Verhältnisse, auf die alle rechtlichen und sittlichen
Vorschriften sich beziehen, lassen sich nicht aus allgemeinen
Principien ableiten, sondern nur als ein thatsächlich gegebenes
annehmen. Andererseits aber kommen, wie diess gerade Kant
für immer festgestellt hat, alle unsere Begriffe ohne Ausnahme
nur durch unsere geistige Selbstthätigkeit und daher auch nur
nach den apriorischen Gesetzen derselben zu Stande. Die
ethischen Begriffe unterscheiden sich daher von den übrigen, und
im besondem von den psychologischen Begriffen nicht durch die
Art, wie sie gebildet werden, sondern durch den Gegenstand, auf
den sie sich beziehen. Wir erhalten sie dadurch, dass wir aus
den Eigenschaften und Gesetzen der menschlichen Natur, welche
188 lieber das Kantische Moralprincip und den Gegensatz etc.
die Psychologie uns keimen lehrt, Vorschriften ftlr das Wollen
und Handeln ableiten. Das sittliche und das Bechtsleben ist
ein wesentlicher Bestandtheil des ganzen menschlichen Geistes-
lebens, es lässt sidi daher nur im Zusammenhang mit demselbai
vollkommen verstehen: seine wissenschaftliche Erkenntniss, die
Ethik, ruht auf der Psychologie.
Anmerkungen.
1) Kritik der prakt. Vernunft § 2 ff. Grundlegung zur Metaphysik der
Sitten 2. Absdm. Bd. lY, 57 ff. 67 ff der älteren Hartenstein'schen Ausgabe
von Kantus Werken.
2) D. h. weil sie uns über die sinnliche Erscheinung hinausfuhrt
Statt dessen lässt mich A. Hau (L. Feuerbach's Philosophie S. 223) hier
sagen, dass nach Kant die praktische Vernunft das Wirkliche erkenne,
und hat es dann natürlich leicht, sich über diesen von ihm selbst erfundenen
Widersinn lustig zu machen.
3) Kritik der reinen Vernunft, transcendentale Aesthetik § 1; Transc.
Analytik 1. Abth. 1. B. 1. Hptst. 1. Abschn. S. 33. 93 der 2. Origmal-
ausgabe.
4) Grundl. z. Metaph. d. S. 2. Abschn. WW. IV, 63 f.
5) Krit. d. prakt. Vem. 1. Th. 1. B. 2. Hptst. Von der Typik der
reinen praktischen ürtheüskraft, a. a. 0. S. 179.
6) Tugendlehre, Einleitung IV. Bd. V, 210 Hartenst.
7) Ebd. Nr. IX. S. 221 f.
8) Krit. d. prakt. Vem. 1. Th. 1. B. 1. Hptst. § 2. S. 118.
9) Vgl. Vortr. u. Abhandl. ü, 491. 497 f.
10) Wie diess auch Tbendelenbübg in der werthvollen Abhandlung:
„Der Widerstreit zwischen Kant und Aristoteles in der Ethik" (Histor. Beitr.
m, 171 ff.) mit Recht hervorhebt. Vgl. S. 191: „Wenn Kant statt des
formal Allgemeinen vielmehr das menschlich Allgemeine, die Idee des
menschlichen Wesens zum Princip gemacht hätte — wohin offenbar Aristo-
teles will — : so würde er das Gresetz des menschlichen Wesens da geftinden
haben, wo das Denken, das nur durch das Allgemeine Denken ist, das
Empfinden und Begehren bestimmt oder durchdringt, — und jener Zwiespalt"
[der Pflicht und Neigung] „wäre von vornherein vermieden."
11) Was AEI8T0TELES Eth. N. X, 8. 1178 b 8 ff. in dieser Beziehung
über die Götter sagt, findet auch auf die obige Frage seine Anwendung;
vgl. S. 186.
12) Eine genauere Ausfiihrung dessen, was hier nur kurz angedeutet
werden konnte, findet sich im nächsten Stück.
13) So namentlich von Ihering in seinem bekannten Werke: Der Zweck
im Recht (1. Th. 1877. 2. Th. 1883).
VIII.
üeber Begriff und Begründung der sittHchen Gesetze.
(Gelesen in der Akademie der Wissenschaften zu Berlin
den 14. December 1882.)
Wie es das eigene Wollen und Handeln der Menschen ist,
aus dem sich ihnen die Vorstellung von Ursachen und Wirkungen
ursprünglich ergeben hat^), so ist auch der Begriff der Gesetze,
nach denen die wirkenden Ursachen sich richten, zunächst von
denen abstrahirt, die das menschliche Handeln zu regeln be-
stimmt sind. Alle die Ausdrücke, welche in den verschiedensten
Sprachen unserem „Gesetz" entsprechen, bezeichnen ursprünglich
ebenso, wie dieses Wort selbst, ein positives Gesetz, eine
Norm des Handelns, die von gewissen Personen festgesetzt ist
Wird diese Norm auf einen menschlichen Willen zurückgeführt,
so erhalten wir das bürgerliche Gesetz, mit Einschluss alles
dessen, was Sitte und Gewohnheit mit sich bringen, jener „un-
geschriebenen Gesetze", die noch weit früher, als die geschriebenen,
das menschliche Gemeinleben ordnen ; wird sie von einem ausser-
menschlichen Willen hergeleitet, so betrachtet man sie als ein
göttliches Gesetz, das dem Menschen theils durch besondere
Offenbarungen, theils in seinem eigenen Bewusstsein und der
daraus folgenden allgemeinen Anerkennung verkündigt ist Aber
in dem einen wie in dem anderen Falle bezieht sich das Ge-
setz seinem Inhalt nach nur auf das Thun und Lassen der
Menschen ; und ebenso gründet sich in beiden seine verbindende
Kraft nur auf den Willen des Gesetzgebers : ein Gesetz ist, was
das Gemeinwesen verlangt oder die Gottheit befiehlt.
190 Ueber Begriff und Begründung der sittlichen Gesetze.
Zunächst der Begriff der göttlichen Gesetze war es nun,
welcher zuerst zu dem der Naturgesetze hintiberleitete. Die-
jenigen Normen des Handelns, welche nicht Mos fllr die An-
gehörigen einer gegebenen Gesellschaft im Verhaltniss zu ihr
und ihren Mitgliedern, sondern für alle Menschen und allen
gegenüber gelten sollten, wie die Heilighaltxmg des Eides, die
Pflichten der Gastfreundschaft, der Barmherzigkeit, des Edel-
muths gegen Hülflose und Schwache — diese Anforderungen
konnte man nicht von dem Willen einzelner Völker oder Fürsten
herleiten, da man sie überall anerkannt sah ; sie Hessen sich nur
auf den Willen der Gottheit zurückführen. Fragte man aber,
wie dieser Wille den Menschen bekannt geworden sei, so konnte
man aus demselben Grunde nicht an eine von jenen positiven
Offenbarungen denken, auf die man bald nur einzelne gottes-
dienstliche Einrichtungen und Stiftxmgen oder einzelne Satzungen
des bestehenden Rechts, bald auch, wie bei den Juden und
andern Orientalen, den ganzen Bestand der religiösen und
bürgerlichen Gesetzgebung gründete; sondern diese Klasse gött-
licher Gesetze musste allen Menschen xmd Völkern von Natur
bekannt, sie musste ihnen in ihrem eigenen Bewusstsein, in der
Stimme ihres Innern geofFenbart sein. So erhielt man den Be-
griff göttlicher Gesetze, welche trotz ihres höheren Ursprungs
doch für den Menschen, vermöge der Art ihrer Mittheilung,
zugleich Gesetze seiner eigenen Natur sein sollten. In diesem
Sinn bezeichnet z. B. Empedokles^) das Verbot, lebende
Wesen zu tödten, als ein Gesetz fllr alle, das sich soweit er-
strecke , als das Sonnenlicht und der unermessliche Luftraum,
und bei Sophokles beruft sich Antigene auf die ungeschriebenen
und unerschütterlichen Satzungen der Götter, die nicht erst seit
gestern und heute, sondern von jeher gelten, ^und niemand
weiss, seit wann sie geofFenbart sind"^). Noch näher rückt
aber Heraklit den Begriff des göttlichen Gesetzes dem des
Naturgesetzes in dem bekannten Wort*): „Es nähren sidi alle
menschlichen Gesetze von Einem, dem göttlichen; denn dieses
herrscht so weit es will, und ist stark genug für alle und ihnen
überlegen." Hier ist das göttliche Gesetz nicht blos eine Norm
lieber Begriff und Begründung der sittlichen Gesetze. 191
für das menschliche Handeln, sondern es fällt zugleich mit der
allgemeinen Weltordnung zusammen, welche von Heraklit auch
mit dem verwandten Namen der Dike bezeichnet wird. In-
dessen dauerte es noch lange, bis man sich an den Begriff
eines Naturgesetzes gewöhnt, und noch weit länger, bis man aus
diesem Begriff alle die Vorstellungen ausgeschieden hatte, welche
ihm von seiner ursprünglichen Bedeutung her anhafteten, zu der
neuen aber nicht passten. Wenn die Männer der sophistischen
Periode den Nomos und die Physis, das Gesetz oder Herkommen
und die Natur der Dinge, als xmversöhnliche Gegensätze be-
handeln, so schliesst diess eigentlich die Vorstellung solcher Ge-
setze, die zugleich Naturordnung sind, aus. Diess thun aber
nicht blos jene skeptischen Aufklärer, an die man seit Plato bei
dem Namen der Sophisten zunächst denkt, ein Hipp ias, ein
Kallikles, ein Thrasymachus^), sondern das gleiche be-
gegnet uns auch bei anderen in jener Zeit; so bezeichnen
Empedokles xmd Demokrit die herkönunlichen und im
Sprachgebrauch befestigten Vorstellungen, die sie bekämpfen, als
„Nomos", und der Verfasser der pseudo-hippokratischen Schrift
„über die Diät" sagt trotz seiner sonstigen vielfachen Anlehnung
an Heraklit, ohne zwischen dem menschlichen und dem gött-
Uchen Gesetz zu unterscheiden: „das Gesetz und die Natur
stimmen nicht überein, wenn auch (in manchem) übereinstimmend ;
denn das Gesetz haben die Menschen gegeben, ohne das zu
kennen, wofür sie es gaben, die Natur aller Dinge dagegen
haben die Götter geordnet" *). Auch diejenigen Philosophen,
welche Naturgesetze im Sinn des heutigen Sprachgebrauchs an-
erkennen, pflegen sie doch nicht als solche zu bezeichnen.
Demokrit z. B. hat es aufs bestimmteste ausgesprochen, dass
es nichts zufälliges gebe, sondern alles seinen nöthigenden Grund
habe; aber er redet nicht von Naturgesetzen, sondern nur von
der Nothwendigkeit alles Geschehens"^): das Gesetz stellt er,
wie bemerkt, der Natur der Dinge entgegen. Ebenso wird bei
Plato und Aristoteles zwar die Nothwendigkeit, welcher die
Vorgänge in der Natur unterliegen, mit aller Entschiedenheit her-
vorgehoben, wenn sie dieselbe auch allerdings der Zweckthätigkeit
192 Ueber Begriff und Begründung der sittlichen Gesetze.
der Natur unterordnen und nur das von ihr beherrscht sein
lassen, was den Naturzwecken als unerlässliche Bedingung ihrer
Verwirklichung dient®). Aber sie stellen diese Nothwendigkeit
gleichfalls nicht als „Gesetz" der Natur dar; dieser Name wird
vielmehr von ihnen ausschliesslich den Normen des Handelns
vorbehalten, und nur unter den letzteren xmterscheiden sie in
herkömmlicher Weise zwischen den besonderen Gesetzen der
einzelnen Staaten, die selbst wieder theils geschriebene theils
ungeschriebene sind, xmd dem gemeinsamen Gesetz der Natur,
der allen eingeborenen Ahnung („fzawevovTai^^) des Bechts und
Unrechts ®). Nur auf dieses gemeinsame Gesetz gründet es sich,
dass jeder Mensch mit jedem, auch ohne positive Gemeinschaft
und Verabredung, in einem natürlichen Rechtsverhältniss steht,
oder, wie diess Theophrast noch bestimmter ausdrückt, dass
alle Menschen sich wegen der Gleichartigkeit ihrer Natur als ver-
wandt und zusammengehörig zu betrachten haben ^*^). Aber
dieses „Gesetz" der Natur ist eine in der menschlichen Natur
liegende praktische Anforderung, nicht eine das Wirken der
Naturkräfte beherrschende Nothwendigkeit, ein allg^nein gültiges
Sittengesetz , nicht das , was der heutige Sprachgebrauch unter
einem Naturgesetz versteht. Wenn sich Aristoteles einmal
diesem unserem Sprachgebrauch nähert ^^), unterlässt er es nicht,
ausdrücklich darauf hinzuweisen, dass nur im uneigentlichen
Sinne von einem „Gesetz" der Natur gesprochen werde.
Erst der Stifter der stoischen Schule war es, durch welchen
der Begriff des Gesetzes als Ausdruck für die Naturordnung
üblich wurde; denn bei seinem Zeitgenossen Epikur findet sich
diese Bezeichnung noch nicht; je entschiedener er vielmehr mit
seinem Vorgänger Demokrit an dem Grundsatz einer streng
mechanischen Naturerklärung festhält und die Zweckthätigkeit
der Natur so gut wie die Betheiligung der Gottheit an der
Welteinrichtung und dem Weltlauf abweist, um so weniger Ver-
anlassung hatte er, für die Nothwendigkeit, welche die Bewegung
und Vertheilung der Atome bestimmt, einen Namen zu wählen,
der die Naturordmmg als das Werk eines befehlenden Willens,
einer weltbildenden Intelligenz, erscheinen liess. Anders verhält
Ueber Begriff und Begründung der sittlichen Gesetze. 193
es sich in dieser Beziehung mit der stoischen Lehre. Dieses
System behauptet zwar die Nothwendigkeit alles Geschehens,
die Unverbrüchlichkeit der Naturordnung, grundsätzlich noch viel
entschiedener, als Epikur, der dieselbe durch seine Annahme
über die wiDkürliche Declination der Atome und die unbeschränkte
Wahlfreiheit des Menschen an einigen von den wichtigsten Stellen
wieder durchlöchert; aber indem es alles in der Welt auf Eine
letzte Ursache zurückführt und diese Ursache nicht blos als die
materielle Substanz der Dinge, sondern zugleich auch als die
schöpferische Kraft und Vernunft fasst, erscheint ihm die Ver-
kettung der natürlichen Ursachen, die Natumothwendigkeit oder
das Verhängniss, nur als das Mittel, durch welches die welt-
schöpferische Vernunft ihre Zwecke verwirklicht, die ganze
Weltordnung und alle die Bestimmungen, auf denen sie beruht,
stellen sich als der Wille jener Vernunft, als das Gesetz dar,
das sie gegeben hat ^^) ; sie selbst heisst das natürliche Gesetz ^®),
und wenn anderwärts statt der Vernunft die Natur als die Ge-
setzgeberin dargestellt und von den Naturgesetzen gesprochen
wird, denen alles gehorche, und denen auch der Mensch sich
zu fügen habe , so kann diess nur desshalb geschehen, weil die
Natur, ihrem innem Wesen nach betrachtet, mit der Weltvemunft
oder der Gottheit zusammenfällt^*). In diesem Sinne wird von
Zeno gesagt, er habe das Naturgesetz für ein göttliches Gesetz
erklärt**); das „gemeinsame Gesetz" wird in der Vernunft ge-
funden, die alles durchdringe, und die ihrerseits nichts anderes
sei, als Zeus, der Beherrscher der ganzen Weltordnung **) ; und
Kleanthes kann desshalb in seinem Hymnus**^) nicht allein
sagen, dass Zeus alles dem Gesetz gemäss lenke, und die sitt-
liche Anforderung sein gemeinsames Gesetz nennen, sondern er
kann auch Götter und Menschen auffordern , ihn selbst als das
gemeinsame Gesetz zu preisen, als das er auch von Chrysippus
bezeichnet wurde ^®). So wird hier Heraklit's Anschauung wieder
aufgenommen, nach welcher die Gottheit als die Weltvemunft
auch das Gesetz der Welt ist , wie ja die Stoiker überhaupt in
ihrer Physik sich möglichst eng an Heraklit anschlössen. Zwischen
Natur- und Sittengesetz wird aber hiebei nicht unterschieden^®):
Zeller, Vorträge und Abhandl. m. 18
194 lieber Begriff und Begründung der sittlichen Gesetze.
da die ganze Sittenlehre auf den Grundsatz des naturgemassen
Lebens gebaut wird, erschemt das Sittengesetz selbst als das
Naturgesetz des menschlichen Handelns ; und da andererseits der
Zweck der Welt nur in den Göttern und Menschen gesucht, und
im Zusammenhang damit die physikalische Naturerklärung von
einer oft sehr äusserlichen und kleinlichen Teleologie entschieden
zurückgedrängt wird^®), so gewinnt es trotz des stoischen Deter-
minismus doch immer wieder den Anschein, als ob die Naturgesetze
selbst in letzter Beziehung nur auf dem Willen der Gottheit be-
ruhen, der seinerseits von der moralischen Rücksicht auf das Wohl
der vernünftigen Wesen geleitet sei. Es ist mit Einem Wort der
Begriff des Naturgesetzes hier noch nicht so rein gefasst, dass es
seiner Form und seinem Ursprung nach von einer positiven Ge-
setzgebung durck den göttlichen Willen, seinem Inhalt nach von
dem Sittengesetz klar und deutlich unterschieden würde. Ge-
rade die stoische Schule scheint es aber zu sein, aus der dieser
Begriff in den allgemeinen Sprachgebrauch übergieng*^). Um
so natürlicher war es, dass sich die Unklarheit und Unbe-
stimmtheit, in der er von den Stoikern gefasst worden war, in
demselben erhielt; und diese Unklarheit wurde im späteren
Alterthum und im Mittelalter um so weniger gehoben, je voll-
ständiger die naturwissenschaftliche und überhaupt die streng
wissenschaftliche Betrachtung der Dinge während dieses. Zeitraums
der theologischen gewichen war. Die Gesetze, nach denen die
Natur sich richtet, erschienen auf diesem Standpunkt ebenso,
wie die, nach denen der Mensch sich richten soll, als göttliche
Gebote, und wenn man auch nicht übersah, dass nur der Mensch
die Fähigkeit besitze, diesen Geboten den Gehorsam zu ver-
weigern , wurden doch auch die Naturgesetze als positive An-
ordnungen betrachtet, welche der Wille, von dem sie ausgieugen,
vorkommenden Falls auch ausser Kraft setzen könne.
Eine reinere und strengere Fassung erhielt der Begriff der
Naturgesetze bei Naturforschem und Philosophen seit dem 16.
und 17. Jahrhundert Unter einem Naturgesetz wird jetzt ein
Satz verstanden, welcher angibt, was imter gewissen Bedingungen
immer und ohne Ausnahme geschieht ; und gerade diese letztere
lieber Begriff und Begriindung der sittlichen Gesetze. 195
Bestimmung, die ausnahmslose Geltung der Naturgesetze, ist ihr
unterscheidendes Merkmal. Wir kennen sie um so vollständiger,
je genauer wir einerseits die Bedingungen, unter denen gewisse
Erfolge eintreten, andererseits diese Erfolge selbst kennen; am
vollständigsten daher dann, wenn wir beide auf feste mathe-
matische Bestimmungen zurückführen können ; aber der Charakter
eines Gesetzes kommt auch solchen Aussagen zu, bei denen diess
nicht der Fall ist, wenn sie nur ausnahmslos gültig sind: der
Satz, dass jeder Körper in der Luft fällt, wenn er schwerer als
die Luft ist, drückt ebensogut ein Naturgesetz aus, als die Gali-
leischen Fallgesetze. Ebenso ist es für den Begriff des Ge-
setzes als solchen gleichgültig, auf welchem Wege wir zur Kennt-
niss desselben gelangen, ob auf dem induktiven oder dem deduk-
tiven : die Schwere der Körper kennen wir nur aus der Erfahrung ;
dass ihr Fall eine gleichmässig beschleunigte Bewegung ist, wissen
wir nur durch Beobachtung und Versuch ; das Gesetz der Schwere
ist insofern lediglich ein empirisches Gesetz, aber trotzdem ist
es eines von den allgemeinsten und gesichertsten Naturgesetzen.
Wenn sich endlich die Gültigkeit der Naturgesetze nur unter
der Voraussetzung erklären lässt, dass das, was unter gewissen
Bedingungen mit ausnahmsloser Regelmässigkeit eintritt, aus der
Beschaffenheit der wirkenden Ursachen mit Nothwendigkeit
hervorgehe, dass zwischen beiden ein mittelbarer oder unmittel-
barer, jedenfalls aber ein unverbrüchlicher Causalzusammenhang
bestehe, so ist doch die Anerkennung eines Naturgesetzes von
der Kenntniss der Ursachen, auf denen dieser Zusammenhang
beruht, unabhängig; es müssen vielmehr weit in den meisten
Fällen zuerst auf empirischem Wege die Gesetze festgestellt,
und dann erst kann zu wissenschaftlichen Hypothesen über die Ur-
sachen des Geschehens fortgegangen werden. Das aber ist aller-
dings für den Begriff, den man sich von den Naturgesetzen
macht, nicht gleichgültig, was für eine Art von Causalität es ist,
auf die man sie zurückführt. Wenn im Mittelalter von Natur-
gesetzen gesprochen wurde, so dachte man dabei, wie bemerkt,
nur an positive Gesetze, die ihr Urheber jeden Augenblick vor-
übergehend ausser Kraft setzen könne, und die er, wenn er
13*
196 üeber Begriff und Begriindung der sittlichen Gesetze.
wollte, auch ganz aufheben könnte. Wenn die Stoiker den
ganzen Weltlauf einer deterministischen Nothwendigkeit unter-
warfen, Hessen sie sich dadurch nicht abhalten, Weissagungen
und Wunderzeichen, Opferschau und Stihngebräuche , Traum-
deutung und Astrologie mit der Behauptung in Schutz zu nehmen,
dass auch diese anscheinend wunderbaren Erfolge im Naturlauf
1)egründet seien ; und ähnlich nahmen später, unter der Voraus-
setzung eines verwandten Determinismus, L e i b n i z und W o 1 f f
an, dass die Wunder im Naturzusammenhang selbst präformirt
seien. Mögen es nun auch bei beiden in letzter Beziehung
praktische Beweggründe gewesen sein, von denen sie sich zu
diesen widerspruchsvollen und mit einem folgerichtigen Deter-
minismus unvereinbaren Theorieen verleiten Hessen**), so hätte
ihnen doch die Unhaltbarkeit derselben nicht so leicht entgehen
können, wenn sie es mit dem Begriff der Naturgesetze strenger
genommen hätten. Sobald man sich klar macht, dass von einer
Gesetzmässigkeit des Naturlaufs nur dann gesprochen werden
kann, wenn unter den gleichen Bedingungen immer die gleichen
Folgen eintreten, wird man es aufgeben, Erfolge, die jeder na-
türlichen Erklärung spotten, aus dem Naturzusammenhang
hervorgehen zu lassen. Aber dieser Zusammenhang war so, wie
ihn die Stoiker im Begriff des Verhängnisses auffassten, weniger
ein physikalischer, als ein teleologischer: das Verhängniss sollte
im Dienst der Vorsehung stehen, die Welt um der Götter und
Menschen willen gebildet sein. Und nicht anders verhält es sich
auch bei Leibniz. So entschieden er verlangt, dass in der
Körperwelt alles mechanisch erklärt werde, so behauptet er doch,
die mechanischen Gesetze, und die Naturgesetze überhaupt, be-
nihen auf einer positiven göttlichen Anordnung, die ihrerseits
von Zweckmässigkeitsgründen abhänge. Um die Welt so voll-
kommen als möglich zu machen, soll Gott bei der Weltschöpftmg
die einfachen Wesen geschaffen, jedem von ihnen in seiner
Naturanläge die Entwicklung vorgezeichnet, ihnen allen die
Gesetze gegeben haben, welche zur Erzeugung der besten Welt
erforderlich waren. Diese Gesetze sind daher nicht an sich selbst
nothwendig, sondern sie sind diess nur als die geeignetsten Mittel
lieber Begiiff und Begründung der sittlichen Gesetze. 197
für einen bestimmten Zweck; und desshalb kann der, welcher
sie gegeben hat, wenn dieser Zweck es erfordert, auch von ihnen
entbinden ^^). Gegen solche Folgerungen ist man nur dann ge-
sichert, wenn man in den Natui^esetzen den Ausdruck einer Noth-
wendigkeit sieht, die in der Natur der wirkenden Ursachen als
solcher begründet keine Ausnahme irgend welcher Art zulässt,
wie diess die neuere Wissenschaft im allgemeinen voraussetzt,
und wie es auch Leibniz eingeräumt haben würde, wenn ihn
nicht theologische Rücksichten veranlasst hätten, dem Wunder-
glauben zuliebe die Konsequenz seines eigenen Standpunkts wieder
zu verläugnen.
Wie verhält sich nun aber zu diesem Begriff der Natur-
gesetze der der sittlichen Gesetze? Im Unterschied von den
bürgerlichen Gesetzen kommen beide darin überein, dass sie keine
positiven, von Menschen gegebenen Vorschriften sind, sondern
unabhängig von jeder positiven Satzung durch sich selbst gelten,
aus der Natur dessen hervorgehen, worauf sie sich beziehen. Aber
während die Naturgesetze bestimmen, was unter gewissen Be-
dingungen geschehen muss, und daher auch ausnahmslos ge-
schieht, beziehen sich alle sittlichen Gesetze auf solches, das
geschehen soll, von dem aber damit keineswegs schon verbürgt
ist, dass es auch geschehen wird. So bestimmt sie sich daher
ihrem Ursprung nach von den bürgerlichen Gesetzen unter-
scheiden, so nahe stehen sie ihnen ihrer Form nach: sie sind,
wie diese, Vorschriften für das Handeln, nicht Beschreibungen
eines nothwendigen Geschehens. Diesen Unterschied der sitt-
lichen Gesetze von den Naturgesetzen hat kein anderer schärfer
betont, als K a n t. Jedes Ding in der Natur, sagt er, wirkt nach
Gesetzen; vernünftige Wesen aber haben das Vermögen, nach
der Vorstellung der Gesetze, nach Principien, zu handeln,
sie haben einen Willen. Bestimmt nun hiebei die Vernunft
(oder, was dasselbe : bestimmt die Vorstellung des Gesetzes) den
Willen unausbleiblich, so ist dieser ein Vermögen, nur dasjenige
zu wählen, was die Vernunft für gut erkennt, er ist heilig ; und
für einen solchen Willen gibt es kein Sollen, weil er schon von
selbst mit dem Gesetz nothwendig einstimmig ist. Bestimmt sie
198 üeber Begiiff und Begiünduiig der sittlichen Gesetze.
dagegen für sich allein den Willen nicht hinlänglich, ist dieser
nicht an sich völlig der Vernunft gemäss, ist das objektiv Noth-
wendige subjektiv zufällig, so wird das Gesetz seines Handelns
für ihn zu einem Sollen, einem Gebot, einem Imperativ; und
fuhrt dieses Sollen den Begriff einer imbedingten und allgemein
gültigen Nothwendigkeit mit sich, wie diess bei dem Sitten-
gesetz der Fall ist, so ist es ein unbedingtes Gebot, ein kate-
gorischer Imperativ^*). Sofern nun das Sittengesetz nicht das-
jenige begründet, was geschieht, sondern das, was geschehen
soll, selbst wenn es niemals wirklich geschieht, nennt es Kant
ein „praktisches Gesetz" ^^). Den Inhalt dieses Gesetzes bilden
aber keine blossen Regeln der. Geschicklichkeit oder Rathschläge
der Klugheit, sondern Gebote der Sittlichkeit^®). Oder wie
Kant auch sagt^^): der BegriflF, welcher in ihm der Causalität
des Willens die Regel gibt, ist kein Naturbegriff, sondern ein
Freiheitsbegriff, das Sittengesetz ist nicht Gesetz einer Natur,
welcher der Wille unterworfen ist, sondern einer Natur, die
einem Willen unterworfen ist , nicht die Objekte sind hier Ur-
sachen der Vorstellungen, die den Willen bestimmen, sondern
der Wille soll Ursache von den Objekten sein. Das Sittengesetz
unterscheidet sich demnach, Kant zufolge, wie alle praktischen
Gesetze, von den Naturgesetzen durch seine Form, dadurch, dass
es ein Sollen ausdrückt,^ nicht ein Müssen ; und es unterscheidet
sich von den übrigen praktischen Gesetzen durch seinen Inhalt,
dadurch, dass die Begriflfe, durch die der Wille, sich bestimmen
lassen soll, nicht aus der sinnlichen Natur des Menschen, sondern
aus seiner Vernunft entspringen, und sich nicht auf sein sinn-
liches Wohl, auf die Befriedigung seiner natürlichen Triebe und
Neigungen, sojidern lediglich auf die Erfüllung einer Vemunft-
forderung als solcher beziehen.
Diesen Bestimmungen Kant's trat Schleiermacher in
seiner bekannten Abhandlung: „über den Unterschied zwischen
Naturgesetz und Sittengesetz" ^®) entgegen. Schleiermacher sucht
hier zu zeigen, dass das Merkmal, durch welches nach Kant die
unterscheidende Eigenthümlichkeit des Naturgesetzes bezeichnet
würde, auch dem Sittengesetz nicht fehle, und ebenso dasjenige,
Ueber Begi'iff und Begründung der sittlichen Gesetze. 199
welches ihm zufolge die Eigenthünilichkeit des Sittengesetzes
ausdrückte, auch bei den Naturgesetzen vorkomme. Wenn näm-
lich das Sittengesetz nach Kant immer gelten würde, gesetzt
auch, es geschähe niemals, was es gebietet, so sei vielmehr zu
sagen, dass das kein Gesetz wäre, dem niemand gehorchte; in
Wahrheit aber sei jene Achtung für das Gesetz, die Kant allen
vernünftigen Wesen zuschreibt*®), eben die Wirklichkeit des
Gesetzes, das, wodurch es erst zum Gesetz, zum praktischen
Antrieb werde, die Vernunft sei nur praktisch, sofern sie zu-
gleich lebendige Kraft ist. Andererseits aber glaubt Schleier-
macher, dasjenige Verhältniss des Gesetzes zur Wirklichkeit,
auf dem es beruht, dass das Sittengesetz die Form des Gebots
hat, finde sich ebenso auch bei den Naturgesetzen. Denn auch
ihren Anforderungen entspreche die Wirklichkeit durchaus nicht
immer, sie stelle in Folge der Störungen, die jeder einzelne
Voi^ang durch seinen Zusammenhang mit dem Ganzen erfahre,
das Gesetz nicht rein dar; und namentlich auf dem Gebiet der
organischen Natur habe jede Gattung ihr eigenes Gesetz, in der
Wirklichkeit verlaufe aber nicht alles rein und vollkommen nach
diesem Gesetz, Missgeburten und Krankheiten und Störungen
aller Art seien durch dasselbe nicht ausgeschlossen. Diese ver-
halten sich aber zu dem Naturgesetz, in dessen Gebiet sie vor-
kommen, gerade so, wie sich das unsittliche und gesetzwidrige
zu dem Sittengesetz verhält: wenn das vegetative Princip über
den chemischen Process und die mechanische Gestaltung, das
animalische über. den vegetativen Process und das allgemeine
Leben keine volle Gewalt habe, so entstehen Störungen im Leben
der Pflanzen imd des Thiers, wenn der Geist die untergeordneten
Funktionen nicht vollständig beherrsche, so entstehe das, was
wir böse und unsittlich nennen. Das Naturgesetz und das Sitten-
gesetz liegen daher auf derselben Seite, und die Sittenlehre sei
nur als die Darstellung der Art, wie die Intelligenz sich das
tiefer stehende aneigne und anbilde, sie sei m. a. W. nur als
Naturbeschreibung des sittlichen Lebens zu behandeln.
Dass Kant's Unterscheidung hiemit widerlegt sei, wird
Baan nun freilich nicht sagen können. Die Gleichstellung des
200 Ueber Begriff und Begrimdung der sittlichen Gesetze.
Sittengesetzes mit dem Natuiigesetze wird von Schleiermadier
nur dadurch ermöglicht, dass er den Begriff des einen so wenig
wie den des andern scharf und genau fasst. Ein Naturgesetz
drückt immer nur aus, was unter gewissen Bedingungen
ausnahmslos geschieht, und diese Bedingungen sind um so ver-
wickelter, je mehr wir von den allgemeinsten Naturgesetzen zu
den specielleren herabsteigen: das Gesetz der Schwere ist an
keine weitere Bedingung geknüpft, als das Vorhandensein von
Körpern im Baume , das Gesetz der Trägheit an keine andere,
als das Dasein bewegter und ruhender Körper, während die Ge-
setze des organischen Lebens unbestimmt viele positive und
negative Bedingungen in sich schliessen. Dagegen verlangt kein
Naturgesetz , dass derselbe Erfolg , der ihm zufolge unter ge-
wissen Bedingungen eintritt, auch dann eintreten sollte, wenn
diese Bedingungen fehlen, oder nur unvollständig vorhanden
sind, oder sich ändern ; wenn er daher in diesem Fall ausbleibt,
oder nur theilweise eintritt, so steht diess nicht im Widerspruch,
sondern im Einklang mit dem Gesetz; und zwischen der or-
ganischen und der unorganischen Natur besteht in dieser Be-
ziehung kein Unterschied: dass ein lebendes Wesen erkrankt,
wenn ihm die Bedingungen der Gesundheit entzogen werden,
ist gerade so nothwendig, als dass der Stein trotz der Schwere
nicht zur Erde fällt, wenn er festgehalten wird. Wie es aber
nach dieser Seite hin schief ist, wenn Schleiermacher die Ab-
weichungen der Einzeldinge von ihrem „Gattungsbegriff" als
eine Abweichung von den Natui^esetzen behandelt, so ist es
nicht minder schief, wenn er die Abweichung des Willens vom
Sittengesetz mit jenen auf Eine Linie stellt. Mischt man aller-
dings in den Begriff der Gattung schon ein Werthurtheil ein,
denkt man sich unter dem Gattungsbegriff das Ideal dessen, was
ein Wesen einer bestimmten Gattung unter den günstigsten Be-
dingungen werden kann, und macht man aus diesem Ideal eine
Anforderung (oder wie Schi. S. 410 sagt: eine „Anmuthung")
an das Sein, bei welcher zweifelhaft bleibe, ob sie in Erfüllung
gehen werde, oder nicht, so muss jede Abweichung von diesem
Ideal als etwas, das nicht sein sollte, als eine Unvollkommenheit
Ueber Begriff und Begründung der sittlichen Gesetze. 201
erscheinen, die mit den Abweichungen des Menschen von seinem
sittlichen Ideal verglichen werden kann. Fasst man dagegen
jenen Begriff im naturwissenschaftlichen Sinn, versteht man
unter dem Begriff oder dem Typus einer Gattung nichts anderes,
als das Ganze derjenigen Eigenschaften , welche in einer Mehr-
heit von Individuen wegen der Gleichartigkeit und relativen
Unveränderlichkeit ihrer Entstehungsbedingungen sich gleich-
massig vnederholen, betrachtet man also die Gleichförmigkeit
des Gattungstypus nicht als eine Norm, die der Entstehung der
einzelnen Individuen als Bedingung derselben vorangeht, sondern
als eine Folge, die aus der Gleichartigkeit ihrer Entstehungs-
und Entwicklungsbedingungen hervorgeht, so liegt am Tage, dass
man auch die Abweichungen von dem Gattungstypus nicht als
die Verletzung einer solchen Norm, als etwas Nichtseinsollendes
behandeln, und mit der Verletzung der sittlichen Gesetze nicht
auf Eine Linie stellen kann; man müsste denn den Begriff des
SoUens auch aus diesen ausmerzen und in ihnen nichts weiter
sehen wollen als eine Beschreibung der Art, wie sich die Men-
schen unter gewissen Voraussetzungen thatsächlich verhalten.
Damit würde aber der Begriff sittlicher Gesetze in Wahrheit
ganz aufgegeben, und die Handlungen der Menschen würden
ebensogut, wie die Naturerfolge, der sittlichen Beurtheüung ent-
zogen.
So wenig es aber Schleiermacher gelungen ist, die Unter-
scheidung des Sittengesetzes von dem Naturgesetz als unhaltbar
nachzuweisen, und so wahrscheinlich es ist, dass er auch den
Versuch dazu nicht gemacht haben würde, wenn die allgemeine
Voraussetzung, von der Kant bei jener Unterscheidung ausgeht,
die menschliche Willensfreiheit, für ihn die gleiche Bedeutung
gehabt hätte, wie für jenen, so lässt sich doch nicht verkennen,
dass Kant's Behandlung dieser Frage seiner Kritik eine Hand-
habe bot. Wenn sich die Gesetze des SoUens von denen des
Seins so, wie Kant will, unterscheiden: in welchem Sinn und
mit welchem Recht können dann beide unter dem gleichen Be-
griff des Gesetzes befasst werden, wie kann dasjenige, was das
Gesetz „als nothwendig für ein durch Vernunft bestimmbares
202 Udier Begriff and Begründbiiig der sitdidieii Gesetze.
Subjekt YorsteDt' ^) , doch zi^dch etwas sein , was yielleieht
niemals geschieht? YoD^ids wenn es sich, wie beim Sittengesetz,
um ein unbedingtes Sollen, um etwas, „ohne Beziehung auf
einen anderen Zweck objektiT nothwendiges", einen kat^orischen
Imperativ handelt Kant hilft sich hier mit der Unterscheidung
der objekÜTen und der subjektiven Xothwendigkeit. Wenn die
Vernunft, sagt er'*), durdi ihre Gesetze den Willen unausbleiblich
bestimme, so seien die Handlungen des Wesens, bei dem diess
der Fall ist, nicht blos objektiv, sondern auch subjektiv noth-
wendig, sein Wille könne nur das wählen, was seine Venmnft
als praktisch nothwendig, als gut erkenne. Bestinune dagegen
die Vernunft fiir sich allein den Willen nicht hinlänglich, sei
dieser nodi subjektiven Bedingungen unterworfen, die nicht
immer mit den objektiven übereinstimmen, wirken auf ihn noch
andere Triebfedern, als die der Vernunft, so seien die Handlungen,
die objektiv als nothwendig erkannt werden, subjektiv zufallig,
das objektive Gesetz werde f&r ihn ein SoDen, ein Imperativ. Allein
das, was die Vernunft als nothwendig erkennt, kann den Menschen
doch nur dann verpflichten, wenn es eine Norm enthält, nach
der er eben als Mensch sich zu richten hat, wenn also das ob-
jektiv nothwendige auch ein subjektiv nothwendiges fbr ihn ist;
wie kann nun eben dieses doch zugleich ke>n subjektiv noth-
wendiges ft^ ihn sein? Oder wenn wir (in Kant's Sinn) die ob-
jektive Nothwendigkeit von der blos subjektiven durch das
Merkmal unterscheiden wollen, dass jene in der Natur der Sache
begründet und desshalb ftkr alle vernünftigen Wesen gleichsehr
vorhanden ist, während diese, nur in der zufidligen Besdiaffen-
heit einzelner Personen begründet, auch nur f&r sie gilt: wie
kann das, was für alle vernunftbegabten Wesen nothwendig ist,
f&r einen Theil derselben nicht nothwendig sein? Es kann diess,
antwortet Kant, desshalb, weil der Mensch aus verschiedenen
Bestandtheilen zusammengesetzt ist, und das, was f&r den einen
von diesen notiiwendig ist, f&r den andern zufällig sein kann.
Nothwendig ist die Erfüllung des Sittengesetzes ft^ den Menschen
als Vemunftwesen , und von seiner Vernunft wird sie als noth-
wendig erkannt; nicht nothwendig ist sie dagegen für seinen
Ueber Begriff und Begründang der sittlichen Gresetze. 203
Willen oder für den Menschen als wollendes Wesen, weil er als
solches nicht blos von der Vernunft, sondern auch von anderen
Antrieben bestimmt wird. Aber das Sittengesetz ist ja gerade
ein Gesetz für den Willen, es erklärt es für nothwendig, dass
der Mensch in seinem Wollen diese bestimmte Richtung einhalte.
Diese Nothwendigkeit anzuerkennen und doch zugleich zu be-
haupten, dass der menschliche Wille nicht nothwendig mit dem
Sittengesetz tibereinstimme, ist nur dann kein Widerspruch,
wenn es sich in dem ersten von diesen Fällen um eine Noth-
wendigkeit anderer Art handelt, als in dem zweiten ; und eben-
desshalb will Kant die objektive Nothwendigkeit der sittlichen
Anforderung von der subjektiven, welche sich auf das Verhältniss
des Willens zu dieser Anforderung beziehe, unterscheiden. Aber
diese Unterscheidung lässt sich, wie bemerkt, so wie er sie fasst,
desshalb nicht durchführen, weil jene objektive Nothwendigkeit
sieh gerade auf die WiUensthätigkeit bezieht, und insofern die
subjektive in sich schliesst. Eine haltbarere Bestimmung lässt
sich vielleicht durch eine Verallgemeinerung der Aufgabe gewinnen.
Das sittliche Gebiet ist nämlich nicht das einzige, auf dem
uns die scheinbare Antinomie begegnet, dass den Gesetzen, welche
mit dem Anspruch der Allgemeingültigkeit auftreten, die that-
sächliche Wirklichkeit in zahllosen Fällen nicht entspricht ; son-
dern das gleiche findet sich auf allen Gebieten der menschlichen
Thätigkeit ohne Ausnahme, welcher Art diese nun auch sein mag
und auf was für Gegenstände sie sich bezieht So unbedingt
auch die logischen und mathematischen Gesetze gelten, so wenig
verhindern sie doch das Vorkommen von Fehlschlüssen und
Rechnungsfehlem; so deutlich wir einsehen mögen, dass die Ge-
setze der Mechanik ein bestimmtes Verfahren vorschreiben, so
wenig folgt doch daraus , dass dieses Verfahren von jedermann
eingehalten wird; so auffallend manche Kunsterzeugnisse den
Grundgesetzen der Aesthetik widersprechen, so sind sie doch
trotzdem nicht blos möglich, sondern auch wirklich. Ja noch
mehr: dasselbe, was allgemeingültigen Gesetzen widerstreitet,
H nicht allein möglich und wirklich, sondern es ist auch in ge-
wissem Sinn nothwendig. Wie dem Physiologen die Krankheit
204 Ueber Begriff und Begründung der sittlichen Gesetze.
ebenso natürlich erscheint, als die Gesundheit, so erscheint dem
Psychologen das Irrige in den Vorstellungen, das Verkehrte in
dem Thun der Menschen ebenso natürlich, als das Richtige und
Zweckmässige; das eine geht aus seinen thatsächlichen Be-
dingungen mit derselben Nothwendigkeit und nach denselben
Gesetzen hervor, wie das andere. Die logischen Gesetze sagen
nicht aus, dass kein anderes Verfahren, als das, welches sie
vorschreiben, möglich, sondern nur, dass kein anderes richtig
sei ; die ästhetischen Gesetze läugnen nicht, dass solches, das sie
verbieten, vorkommen könne, sie läugnen nur, dass es dem
guten Geschmack entspreche, dass es schön sei. Das gleiche,
was wir nach psychologischen Gesetzen zu erklären, als ein
nothwendiges zu begreifen wissen , betrachten wir zugleich als
etwas nach logischen oder ästhetischen Gesetzen unmögliches,
nichtseinsollendes. Es liegt am Tage, dass der Aufdruck „Noth-
wendigkeit" in beiden Fällen nicht den gleichen Sinn hat. Wenn
wir von einer Natumothwendigkeit reden, so wollen wir damit
ausdrücken, dass ein bestimmter Erfolg aus der Gesammtheit
seiner Bedingungen mit Nothwendigkeit hervorgehe, dass er ein-
treten müsse, wenn diese bestimmten Ursachen in dieser Weise und
unter diesen näheren Umständen sich zusammenfinden ; imd das
gleiche bezeichnen wir, wenn es sich um Bewusstseinserscheinungen
handelt, mit dem Namen der psychologischen Gesetze oder der
psychologischen Nothwendigkeit. Nennen wir dagegen etwas in
logischer, ästhetischer, technischer Beziehung nothwendig, so heisst
diess: es sei nothwendig, wenn das von den entsprechenden
Thätigkeiten angestrebte Ergebniss, die Erkenntniss der Wahr-
heit, die Hervorbringung des Schönen oder des Zweckmässigen,
erreicht werden solle. Dort bezeichnet die Nothwendigkeit den
Zusammenhang des Erfolgs mit seinen Bedingungen, so wie er
sich darstellt, weim man von den Bedingungen als dem gegebenen
ausgeht: die Bedingungen werden als die Ursache, der Erfolg
als die Wirkung betraxihtet, und es wird behauptet, dass sich
aus gewissen Ursachen gewisse Wirkungen ergeben müssen.
Hier bezeichnet sie denselben Zusammenhang, wie er sich
vom Standpunkt des Erfolgs aus darstellt: es wird von der
lieber Begriff und Begründung der sittlichen Gesetze. 205
Vorstellung des zu erreichenden Erfolges, von einem bestimmten
ZweckbegriflF ausgegangen und gezeigt, an welche Bedingungen
die Erreichung dieses Erfolgs geknüpft ist, welche Mittel für
diesen Zweck erforderlich sind. Die Nothwendigkeit in dem
ersteren Sinn findet ihren Ausdruck in Sätzen, welche angeben,
was für Wirkungen unter gewissen Bedingungen ausnahmslos ein-
treten; und solche Sätze nennt man Naturgesetze. Die Noth-
wendigkeit in dem andern Sinn findet ihn in Sätzen, welche an-
geben, was geschehen muss, wenn ein gewisser Zweck erreicht
werden soll ; und Sätze dieser Art können wir praktische Ge-
setze (im weiteren Sinn) nennen ^^). Da nun mit den Ursachen
ihre Wirkungen immer und noithwendig gegeben sind, durch eine
Zwecksetzung dagegen die Ausführung dessen, wovon die Er-
reichung des Zwecks abhängt, nicht verbürgt ist, haben die
Naturgesetze unbedingte thatsächliche Geltung, und es kann
nie eine Thatsache geben, die ihnen widerstritte ; die praktischen
Gesetze dagegen sprechen zwar gleichfalls unbedingt aus, dass
gewisse Zwecke nur durch gewisse Mittel erreicht werden können,
und sie werden in dieser Beziehung, wenn sie an sich selbst
richtig sind, von dem Erfolge nicht widerlegt; aber über die
thatsächliche Anwendung jener Mittel bestimmen sie nichts, und
schKessen daher auch die Möglichkeit nicht aus, dass dieselben
nicht angewendet und die entsprechenden Zwecke in Folge davon
nicht erreicht werden. Jene sagen : wenn die und die Bedingungen
gegeben sind, müsse der und der Erfolg eintreten; diese be-
haupten: wenn ein bestimmter Erfolg erreicht werden soll,
müsse in einer bestimmten Weise verfahren werden. Ob aber im
gegebenen Fall auch wirklich so verfahren werden wird, und ob
daher der entsprechende Erfolg erreicht wird, bleibt unsicher,
und diese Unsicherheit ist es, welche das Gesetz zu einer an
die Menschen gerichteten Aufforderung, die Nothwendigkeit, welche
es ausdrückt, zu einem Sollen macht.
Diesen Charakter des SoUens theilen nun die sittlichen Ge-
setze mit den übrigen praktischen Gesetzen. Auch bei ihnen muss
iaher die Nothwendigkeit, welche sie in dieser Form ausdrücken,
in einer Zweckbeziehung bestehen: wenn sie eine bestimmte
206 lieber Begriff und Begründung der sittlichen Gesetze.
Richtung des WoUens und Handelns verlangen, können sie diess
nur desshalb thun, weil die Erreichung gewisser in der Natur des
Menschen begründeter Zwecke durch dieselbe bedingt ist. Kant
räumt diess allerdings nicht ein: das Sittengesetz soll sich, wie
er sagt, von allen andern praktischen Gesetzen gerade dadurch
unterecheiden , dass es unmittelbar, ohne Beziehung auf den
durch unser Verhalten zu erreichenden Erfolg, als kategorischer
Imperativ gebiete, während jene die Thätigkeiten, die sie fordern,
nur als Mittel zur Glückseligkeit oder sonst einem ausser ihnen
selbst liegenden Zweck verlangen, nur „hypothetische Imperative"
seien ^^). Aber irgend einen Zweck hat doch jedes Handeln,
denn Handeln heisst eben : eine Thätigkeit ausüben, durch welche
ein Zweck verwirklicht werden soll. Die Vorstellung dieses
Zweckes bildet das Motiv, die aus demselben sich ergebenden
Regeln bilden das Gesetz des Handelns. Liegt daher der Zweck
des Handelnden nicht ausser seiner Thätigkeit, in einem von
dieser verschiedenen und abtrennbaren Erfolg, so wird er um
so mehr in ihr selbst, in einer von ihr untrennbaren Wirkung
liegen. Diess wird auch von Kant selbst, wie ich schon bei
einer früheren Gelegenheit (s. o. S. 163 flf.) gezeigt habe, that-
sächlich anerkannt. Denn wenn er sein Moralprincip in der
Forderung zusammenfasst, so zu handeln, dass die Maxime
unseres Willens sich zum Princip einer allgemeinen Gesetzgebung
eigne , so gründet sich diese Forderung doch nur auf die Er-
wägung, dass wir als Vemunflwesen nach keinem andern Princip
handeln können, es wird uns also darin vorgeschrieben, das durch
imsere vernünftige Natur geforderte Handeln ims zum Zweck zu
setzen; und Kant selbst erläutert sein Princip in diesem Sinn,
wenn er ihm auch den Ausdruck gibt^*): jedes vernünftige
Wesen müsse so handeln , als ob es durch seine Maximen ein
gesetzgebendes Glied im allgemeinen Reich der Zwecke wäi'e.
So streng er daher auch jede Rücksicht auf den Erfolg unserer
Handlungen als solchen, d. h. auf ihre Wirkung, wiefern diese
von der Handlung selbst getrennt gedacht wird, aus unsem
praktischen Beweggründen ausschliesst, so wenig wird doch da-
durch, sogar nach seinen Voraussetzungen, die Zweckbeziehung
lieber Begriff und Begründung der sittlichen Gesetze. 207
aller unserer Handlungen und die Abhängigkeit der praktischen
Gesetze von den Zwecken beseitigt, zu deren Erreichung sie
eine Anleitung geben wollen. Die Aufgabe kann daher nicht
die sein, einen solchen Ausdruck und eine solche Begründung
des Sittengesetzes zu finden, durch die imser Handeln zu etwas
an und für sich selbst noth wendigem , durch keine Zweckvor-
stellung bedingtem gemacht würde; sondern gerade die Be-
stimmung der Zwecke, auf die unser Wille sich zu richten hat,
ist es, um die es sich bei der Frage nach den Gründen
und dem Inhalt der sittlichen Verpflichtung an erster Stelle
handelt.
Um nun hiefür den richtigen Weg einzuschlagen, wird man
von einem Merkmal ausgehen können, welches Kant mit Recht
auf's nachdrücklichste betont hat, durch dessen augenfällige
Wichtigkeit er sich aber zu dem verfehlten Versuche verlocken
hess, den ganzen Inhalt des Sittengesetzes aus ihm allein abzu-
leiten. Die sittliche Anforderung gilt ihrem allgemeinen Princip
nach für alle Vemunftwesen überhaupt; mit den näheren Be-
stimmungen, welche dieses Princip unter den besonderen Be-
dingungen der menschlichen Natur erhält, und in seiner spe-
cielleren Anwendung auf die dem Menschen als solchem ob-
liegenden Pflichten ^^) gilt sie wenigstens für alle Menschen ohne
Ausnahme. Sie verlangt, dass alle nach den gleichen allge-
meinen Grundsätzen und Beweggründen handeln, unter den
gleichen Umständen die gleiche Willensrichtung einschlagen.
Diese Forderung ist nur dann gerechtfertigt, wenn es Zwecke
gibt, deren Verfolgung in der menschlichen Natur als solcher
begründet, deren Erreichung daher für jeden Menschen als solchen
von Werth ist ; denn was wir uns zum Zweck setzen sollen, dem
müssen wir einen Werth beilegen, müssen glauben, dass es ein
Gut für uns sei, und wenn von etwas verlangt werden kann,
dass es sich alle zum Zweck setzen, muss es für alle einen
Werth haben und ein Gut sein ; diess ist aber nur dann mög-
lich, wenn sein Werth nicht auf individuellen Eigenthümlich-
keiten, wechselnden Neigungen und Umständen, sondern auf den
bleibenden Eigenschaften der menschlichen Natur beruht. Was
208 Uebßs Begriff und Begründung der sittlichen Gesetze.
für Zwecke sind es nun, welche in dieser Weise durch die Natur
des Menschen vorgezeichnet sind, deren Erreichung desshalb für
alle ohne Ausnahme von Werth ist?
Diese Frage ist damit nicht beantwortet, dass eine Keihe
von Gütern aufgezählt wird, die doch alle Menschen bis auf
verschwindende Ausnahmen sich wünschen, wie Erhaltung des
Lebens, Gesundheit, Besitz u. s. w. Denn theils handelt es
sich hier nicht um das, was die Menschen thatsächlich begehren
und erstreben, sondern um das, was sie nach den allgemeinen
Bedingungen ihrer Natur erstreben sollten, um einen Mas-
stab zur Beuriheilung ihres thatsächlichen Verhaltens; theils
zeigt sich auch bei genauerer Untersuchung, dass alle jene
Dinge doch nicht um ihrer selbst willen, sondern nur wegen
ihrer Bedeutung für den Menschen und sein Wohlbefinden be-
gehrt werden, und dass es sich ebenso überhaupt mit allem ver-
hält, was man für begehrenswerth, für ein Gut hält: man hält
es dafür, weil man es als ein Mittel zur Vervollkommnung des
eigenen Zustandes betrachtet. Um so mehr scheint eben diese,
also mit Einem Wort: die Glückseligkeit, das natürliche
Ziel des Strebens, und alles menschliche Thun nur ein Mittel für
diesen Zweck zu sein. Und in gewissem Sinne wird man diess
unbedenklich einräumen können. Was unsem Willen in Be-
wegung setzt, ist immer irgend ein Interesse. Alle unsere
Handlungen haben entweder Erlangung und Erhaltung von
Gütern oder Entfernung und Vermeidung von Uebeln zum Zweck;
damit aber die Zweckvorstellungen ein Wollen hervorrufen, müssen
sie unser Gefühl erregen, es muss sich mit ihnen der Wunsch
und die Hoffiiung verbinden, durch unser Handeln imsem gegen-
wärtigen Zustand zu verbessern oder seiner Verschlimmerung vor-
zubeugen. Wenn diess nicht der Fall ist, wenn der Erfolg, der
durch unser Handeln erreicht werden kann, kein Interesse för
uns hat, die Vorstellung desselben unser Gefühl nicht berührt,
so kann diese Vorstellung auch unsem Willen nicht in Be-
wegung setzen. Sofern es sich daher um die nächsten psy-
chologischen Entstehungsgründe der Willensakte handelt, ist es
ganz richtig, wenn gesagt worden ist, das Interesse sei das
lieber Begriff und Begründung der sittlichen Gesetze. 209
einzige naturgtemässe Motiv des Handelns, und der Wille könne
sich von dem Gesetz des Interesses so wenig losmachen, als
die Materie von dem Gesetz der Schwere; und wenn wir unter
der Glückseligkeit den Zustand eines empfindenden Wesens
verstehen, in dem alle seine Interessen, jedes nach dem Ver-
hältniss seines Werthes, ihre dauernde Befriedigung finden, so
kann die Glückseligkeit als der letzte Zweck, das Streben nach
derselben als der Beweggrund aller unserer Thätigkeiten be-
zeichnet werden. Aber diess sind dann auch erst rein formale
Bestimmungen, mit denen über den Inhalt unseres Willens, über
die Richtung, die er nehmen, und die bestimmten Ziele, die er
sich stecken soll^ nichts ausgesagt ist. „Alles, wonach wir
streben, muss ein Interesse für ims haben:" daraus folgt nicht
das geringste für die Beantwortung der Frage, was unseres
Strebens werth sei. Der eine wendet sein Interesse dem zu,
der andere jenem, ideale Ziele können mit demselben Interesse
verfolgt werden, wie egoistische ; und es wäre eine augenschein-
liche Verwechselung der Begriffe, wenn man daraus, dass alles
Wollen ein Interesse an seinem Gegenstande voraussetzt, schliessen
wollte, unser persönliches Interesse sei die einzige naturge-
mässe Triebfeder unseres WoUens und Handelns. Jenes Interesse
kann ja auch in der Freude an der Sache, in der Sorge für
fremdes Wohl bestehen, und es besteht in zahllosen Fällen
wirklich darin; wer dieses uneigennützige Interesse für eine
Thorheit oder eine Täuschung erklären wollte, der möchte es
thun^ aber auf die psychologische Thatsache, dass kein Wollen
ohne ein entsprechendes Interesse zu Stande kommt, könnte er
sich für diese Behauptung nicht berufen. Und das gleiche gilt
von der Glückseligkeit. Auch dieser Begriif ist an sich ein blos
formaler, der jede beliebige materiale Bestimmung zulässt. Man
kann ihn allerdings so fassen, dass er jedes ideale Ziel und jede
allgemein verbindliche Norm der menschlichen Thätigkeit aus-
sehliesst; aber man kann auch den ganzen Inhalt und die ganze
Strenge der sittlichen Verpflichtung in ihn aufnehmen. Es
kommt eben alles darauf an, ob der Masstab, nach dem wir
die Glückseligkeit des Einzelnen beurtheilen, seiner subjektiven
Zeller, Vorträge und Abhandl. III. 14
210 Ueber Begriff und Begründung der sittlichen Gesetze.
Empfindung oder dem objektiven Werth seines Thuns ent-
nommen wird. In jenem Fall erhalten wir das, was man heutzu-
tage Eudämonismus zu nennen pflegt, imd was namentlich Kant
so nennt, ohne doch, wie er sollte, zwischen dem Eudämoms-
mus in diesem Sinn und der Lehre eines Plato, Aristoteles oder
Zeno von der Eudämonie zu unterscheiden: der Werth jeder
Handlung wird nach dem Grade der Lust beurtheilt, die aus
ihr entspringt, die wahre Lebenskunst und die höchste Aufgabe
des Menschen soll darin bestehen, dass er sich mit den ver-
hältnissmässig kleinsten Opfern die grösste während seines Lebens
für ihn erreichbare Summe von Genüssen verschafft. In dem
anderen Fall liegt zwar der nächste Grund seines Wollens
und Thuns gerade dann, wenn er das Gute aus Liebe zum Guten
thut, gleichfalls darin, dass nur dieses Thim und kein anderes
ihn befriedigt ; aber da sein allgemeines praktisches Princip nicht
das ist, alles filr gut anzusehen, was ihm angenehm ist, sondern
das umgekehrte, sich nur das angenehm sein zu lassen, was gut
ist, so ist der. letzte Grund desselben die Überzeugung von
dem objektiven Werth und der objektiven Nothwendigkeit dieser
bestimmten Handlungsweise. Der psychologische Hergang (die
allgemeine Form der Willensbestimmung) ist in beiden Fällen
der gleiche, aber der Inhalt und die Richtung des Willens durch-
aus verschieden.
Dass nun die subjektive Empfindung nicht den Masstab, der
befriedigende Zustand des Einzelnen, oder die Lust, nicht das
letzte Ziel unseres Handelns bilden kann, diess ergibt sich, wie
seit Plato unzähligemale ^*) gezeigt worden ist, eben aus dem
subjektiven Charakter derselben. Was dem Einzelnen angenehm
ist und welcher Art von Genüssen er den höheren Werth bei-
legt, diess hängt ganz und gar von seiner individuellen Eigen-
thümlichkeit , seiner Empfänglichkeit für diese oder jene Ein-
drücke, seinen Trieben, Neigungen und Gewöhnungen ab. Soll
daher der Genuss, den eine Handlung dem Handelnden verschafit,
über ihren Werth entscheiden, so gibt es nicht blos keine sitt-
liche Verpflichtung, sondern überhaupt keine allgemein gültigen
Gesetze des Handelns: die Ethik wird zu einer Klugheitslehre,
Ueber Begriff und Begründung der sittlichen Gesetze. 211
einem Unterricht in der Kunst, den jeweiligen Umständen mög-
lichst viel Vortheil und Genuss abzugewinnen, aber allgemein
bindende rechtliche oder sittliche Vorschriften sind einfach dess-
halb nicht möglich, weil jedem alles erlaubt ist, was ihm mehr
Lust als Unlust, mehr Vortheil als Nachtheil verspricht.
Worin liegt aber, im Gegensatz zu diesem blos subjektiven
Motiv, der objektive Werth unseres WoUens und Handelns, wor-
auf gründet er sich und nach welchem Masstab ist er zu be-
urtheilen? Die Antwort auf diese Frage lässt sich wohl am
besten dadurch finden, dass man sich Rechenschaft darüber ab-
legt, was für Beweggründe es sind, die wir als rein sittliche
anerkennen und achten, imd aus welchen Eigenschaften der
menschlichen Natur diese Beweggründe entspringen ; und da nun
alle sittlichen Thätigkeiten imd Pflichten in solche zerfallen, die
sich auf unsem eigenen Zustand, und solche, die sich auf unser
Verhalten gegen andere Wesen beziehen, so muss dieser Auf-
gabe sowohl in der einen als in der anderen Beziehung ent-
sprochen, und was sich in beiderlei Hinsicht ergibt, muss auf
seinen gemeinschaftlichen Grund zurückgeführt werden.
Für diese ganze Untersuchung kann nun als anerkannt. vor-
ausgesetzt werden, dass der sittliche Werth und Charakter
unserer Handlungen nicht von ihrem äusseren Erfolg, sondern
ausschliesslich von der Beschaffenheit des Willens abhängt, aus
dem sie hervorgehen. Diese selbst aber richtet sich nach zwei
Gesichtspunkten: nach der Reinheit und der Kräftigkeit des
Willens. Jene hängt von den Zwecken ab, welche als Beweg-
gründe den Willensakt hervorrufen imd die Gesinnung des
Handelnden bestimmen ; diese wird an der Grösse der vom Willen
geleisteten Arbeit und an der Beharrlichkeit gemessen, mit der
«r seine Zwecke im Kampf mit entgegenstehenden Antrieben
verfolgt. Hier haben wir es nun nur mit dem ersten von diesen
Elementen zu thun; denn so wesentlich es auch für die mo-
ralische Beurtheilimg des handelnden Subjekts ist, ob es das
Gute nicht blos überhaupt gewollt, sondern auch kräftig und
uachhaltig gewollt hat, so entscheidet doch über den objektiven
Werth der Handlung, über die Berechtigung ihres Inhalts,
14*
212 lieber Begriff und Begründung der sittlichen Gesetze.
ausschliesslich der Zweck, der durch sie verwirklicht werden sollte,
dessen Vorstellung der Beweggrund des Handelnden war. Es
kommt femer hiebei nur der letzte, nicht der nächste Zweck
der Handlung in Betracht ; denn dieser ist immer nur ein Mittel,
das zwar für sich genonmaen wieder erlaubt oder unerlaubt sein
kann, und insofern einer besonderen Beurtheilung unterliegt, das
aber als etwas nur zur Ausführung des eigentlichen Zweckes
gehöriges die Frage nach dem Werth des letzteren als solche
nicht berührt, und mit einem andern vertäuscht werden kann,
ohne dass der Zweck, dem es dient, dadurch ein anderer würde.
Wer also z. B. nur aus Furcht vor Strafe sich des Unrechts
enthält, oder nur aus Kücksicht auf die Meinung der Menschen
und die Vortheile, die sie ihm gewährt, Gutes thut, dessen
wirklicher Zweck und Beweggrund liegt nicht im Vermeiden des
Unrechts und im Vollbringen des Guten, sondern in seinem
eigenen Wohlbefinden, der Befriedigung seiner Eitelkeit u. s. w.
Nicht anders verhält es sich aber auch dann, wenn die Nach-
theile, vor denen man sich fürchtet, oder die Vortheile, um die
man sich bemüht, in ein anderes Leben verlegt werden. Der
Glaube an jenseitige Belohnungen und Strafen führt zwar nicht
immer und nothwendig, wie man ihm so oft vorgeworfen hat,
zu einer Verkehrung und Verunreinigung der sittlichen Trieb-
federn. Es ist möglich, diesen Glauben so zu behandeln, wie
es P 1 a 1 in der Republik thUt, wo er den Beweis für den un-
bedingten Vorzug der Gerechtigkeit vor der Ungerechtigkeit
zuerst rein aus ihrem Wesen und unter ausdrücklichem Aus-
schluss jeder Rücksicht auf das Jenseits führt, und erst nach-
träglich diesen Vorzug auch an den zukünftigen Folgen des
sittlichen Verhaltens zur Anschauung bringt. Es kann auch
geschehen, und ist gewiss in unzähligen Fällen geschehen, dass
er selbst für solche, die ihn als sittliches Motiv nicht entbenren
zu können glauben, in Wahrheit nur die Form ist, unter der
sich ihnen der unbedingte Werth des sittlichen, die unbedingte
Verwerflichkeit des unsittlichen Verhaltens darstellt, ihre wirk-
lichen Beweggründe dagegen doch nur in der uneigennützigen
Freude am Guten bestehen. Wo aber wirklich nur die Rücksicht
lieber Begriff und Begründung der sittlichen Gesetze. 213
auf eine künftige Belohnung und Bestrafung die Willensrichtung
bestimmt, da findet überhaupt kein sittliches Handeln statt, son-
dern nur ein Handeln aus Berechnung, und ob sich diese Be-
rechnung auf richtige oder auf unrichtige Voraussetzungen gründet,
ob die Handlungen, deren Belohnung man hofft, oder deren Be-
strafung man fürchtet, diese Folgen wirklich nach sich ziehen
werden oder nicht, ist für den moralischen Charakter derselben
vollkommen gleichgültig. Dieser hängt, wie gesagt, nur von
dem Werth und der Berechtigung ihres letzten Zwecks ab.
Fragt man sich nun von diesem Standpunkt aus zunächst
mit Beziehung auf das persönliche Verhalten der Einzelnen,
was den Menschen abhalten soll, und was einen sittlichen Charakter
als solchen auch wirklich abhält, sich einem ungeordneten, aus-
schweifenden, müssigen Leben zu ergeben, was ihn bewegen soll,
seine Kräfte auszubilden und zu üben, seinem Dasein durch eine
nützliche Thätigkeit, durch Betrachtung und Hervorbringung des
Schönen, durch Erforschung der Wahrheit einen höheren Werth
und Inhalt zu geben, was ihn mit Einem Wort antreiben soll,
allen den Anforderungen zu genügen, die man als Pflichten des
Menschen gegen sich selbst zu bezeichnen pflegt, so wird sich
nur sagen lassen: das einzige wahrhaft sittliche Motiv hiefUr
liege in dem Gefühl dessen, was der Mensch sich selbst schuldig
ist. Wer sich nur einem fremden Willen zuliebe so verhielte,
wie hier angenommen worden ist, der wäre entweder noch sitt-
lich unmündig, wie das Kind, welches der elterlichen Auktorität
instinktiv folgt , oder der Gehorsam gegen den fremden Willen
wäre selbst nur ein Mittel zur Erreichung anderer Zwecke, und
dann wäre der wesentliche Thatbestand derselbe, welcher auch
ohne diese Kücksicht auf andere vorkommen kann, dass man
seine Pflichten gegen sich selbst nicht desshalb erfüllt, weil man
von der sittlichen Noth wendigkeit dieses Verhaltens durchdrungen
ist, sondern nur weil man es aus anderweitigen Gründen zweck-
mässig findet. Und es ist ja möglich , dass jemand nur solche
Motive hat: dass er sich der Ausschweifung und Unmässigkeit
nur desswegen enthält, weil er seiner Gesundheit oder seinem
Vermögen nicht schaden will; dass er nur aus Gewinnsucht ein
214 Ueber Begriff und Begründung der sittlichen Gesetze.
guter Haushalter oder ein fleissiger Arbeiter ist , dass er nur
desshalb etwas lernt, um sein äusseres Fortkommen in der
Welt zu finden, nur desshalb etwas leistet, um zu Ansehen und
Wohlstand zu gelangen. Aber so wenig wir jemand darum
tadeln werden, wenn auch diese Motive auf sein Verhalten Ein-
fluss haben, so wenig werden wir ihm doch, so weit diess der Fall
ist, unsere moralische Achtung dafür zollen; ausser sofern to
schon in dieser Fähigkeit, sein Leben nach Klugheitsrücksichten
zu regeln, wenigstens einen Anfang von jener Beherrschung der
Sinnlichkeit durch den Willen sehen, welche bei fortschreiten-
der Läuterung ihrer Motive zur wirklichen Sittlichkeit führt.
Wenn wir dagegen von jemand voraussetzten, dass alles das,
was an seinem Thun und Lassen zu loben ist, nur der Rücksicht
auf seinen Vortheil und sein Ansehen in der Welt entspringe, so
würden wir einen solchen zwar vielleicht einen klugen und
willenskräftigen Egoisten, aber gewiss keinen sittlich verehrungs-
würdigen Charakter nennen. Einen Anspruch auf unsere mora-
lische Achtung räumen wir ihm nur dann ein, wenn wu* an-
nehmen, dass er sich des Gemeinen aus Widerwillen gegen das-
selbe enthalte, und dem Edeln aus Freude daran nachstrebe.
Worauf gründen sich nun diese Gefühle selbst? wie kommen
wir dazu, eine bestimmte Art des Verhaltens an und für sich
selbst, und ohne Rücksicht auf ihre Folgen, zu verabscheuen, an
einer andern eine solche Freude zu haben, dass wir ihr, gleich-
falls an sich selbst und abgesehen von ihren Folgen , einen un-
bedingten Werth beilegen? woher rührt es, dass jene uns inner-
lieh widerstrebt, diese uns eine über jedes sinnliche Lustgefühl
hinausgehende und der Art nach von ihm verschiedene Be-
friedigung gewährt? Der Grund dieser Erscheinung kann nur
darin liegen, dass das, was unsem Widerwillen erregt, einem in
unserer Natur begründeten Bedürfniss widerstreitet, das, was to
billigen und was uns befriedigt, diesem Bedürfiiiss entspricht ; denn
wenn uns auch im allgemeinen alles das Lust gewährt, was unser
Lebensgefühl erhöht oder bewahrt, dasjenige Unlust, was dasselbe
hemmt oder stört, so wird doch eine solche Lust oder Unlust,
die zu den allgemeinen Aeusserungen und Bedingungen des
Ueber Begriff und Begründung der sittlichen Gesetze. 215
sitüichen Lebens gehört, nicht auf den ungleichen und wechselnden
Zuständen der Einzelnen , sondern nur auf dauernden Bedürf-
nissen der gemeinsamen Menschennatur beruhen können. Diese
selbst aber können nicht in den sinnlichen und selbstischen
Trieben ihren Sitz haben; denn erst da, wo diese Motive als
solche zurücktreten, beginnt das Gebiet der sittlichen Gefühle.
Sie müssen vielmehr aus dem Bestandtheil unserer Natur ent-
springen, welcher uns über die sinnlichen und selbstischen Zwecke
hinausführt und uns antreibt, an dem Guten als solchem Gefallen,
an dem Schlechten als solchem Missfallen zu empfinden. Dieser
ist aber das, was wir unsem Geist nennen. Denn mit diesem
Namen bezeichnen wir das in uns, was uns in den Stand setzt,
über die Gesetze der Erscheinungen, das Wesen und die Ur-
sachen der Dinge nachzudenken, uns des Schönen zu erfreuen,
uns andere , als auf unser sinnliches Wohl bezügliche , Zwecke
zu setzen, wie man auch immet diese Fähigkeit der menschlichen
Natur psychologisch und metaphysisch erklären möge. Wer das
Niedrige und Gemeine nicht aus Berechnung und um seiner
nachtheiligen Folgen willen, sondern einfach desshalb verschmäht,
weil es seiner Denk- und Geflihlsweise unmittelbar widerstrebt,
der zeigt ebendamit, dass er es seiner unwürdig finde, dem
blossen Sinnengenuss zu leben, dass er diesem für ein Vemunft-
wesen keinen selbständigen Werth beilege; wer seine höchste
Befriedigung in der Ausbildung und Bethätigung seiner geistigen
Kräfte sucht, und auch die sinnlichen Thätigkeiten und Genüsse
so vollständig wie möglich zur blossen Erscheinung und Vermitte-
lung der geistigen zu machen sich bemüht, der beweist, dass
er nur diese für etwas hält, was für den Menschen als solchen
Werth habe, und um seiner selbst willen erstrebt zu werden
verdiene. Die Motive, welche unser Verhalten zu einem sittlichen
machen, beruhen in dem einen wie in dem anderen Fall auf der
Werthschätzung der geistigen Seite unserer Natur, auf der Ueber-
zeugung, dass nur die aus ihr entspringenden Thätigkeiten und
Genüsse ein letzter Zweck für uns sein dürfen, weil nur auf
ihnen der eigenthümliche Vorzug des menschlichen Wesens be-
ruhe, und daher nur sie dem Menschen, der sich seiner Würde
216 Ueber Begriff und Begründung der sittlichen Gesetze.
und seines Werthes bewusst geworden ist, eine wirkliche und
dauernde Befriedigung gewähren können. Welche Form diese
Ueberzeugung in der Vorstellung des Einzelnen annimmt, macht
zwar für die theoretische Kichtigkeit der letzteren einen wesent-
lichen Unterschied, und in dieser Beziehung gehen die Ansichten
auch unter solchen, die in der praktischen Behandlung der sitt-
lichen Aufgaben der Sache nach übereinstimmen, weit auseinander.
Aber soweit ihr Verhalten nicht aus blosser Abhängigkeit von
Auktorität und Gewöhnung, sondern aus ihrem eigenen sitt-
lichen Leben und ihrem inneren Bedtirfhiss hervorgeht, sind
seine wirklichen Motive, die Gefühle, auf denen es beruht,
bei allen die gleichen, so verschieden auch die Formeln sein
mögen, unter denen sich dieselben ihrer theoretischen Auffassung
darstellen.
Aus der gleichen Quelle entspringen aber auch unsere Ver-
pflichtungen gegen andere Menschen. Sie alle führen sich auf
zwei Grundforderungen zurück : die Pflicht der Gerechtigkeit und
die Pflicht des Wohlwollens oder der Menschenliebe. Die Ge-
rechtigkeit ist nun nichts anderes, als der Wille zur Einhaltung
des Rechts, und das Recht gründet sich in letzter Beziehung auf
die Gleichheit der Menschen : die Verbindlichkeit der Rechtsgesetze
beruht darauf, dass alle Menschen als Vemunftwesen oder Personen
sich gleichstehen und gleichsehr verlangen können, von anderen
nicht verletzt zu werden. Nur solchen Wesen gegenüber, denen
wir die natürliche Anlage zu vernünftiger Selbstbestimmung
zuerkennen, und die wir insofern ihrem Gattungscharakter nach
uns selbst gleichstellen, fühlen wir uns rechtlich verpflichtet;
zu Thieren und Sachen stehen wir in keinem Rechtsverhältniss:
wenn sie uns beschädigen, sehen wir darin keine Rechtsver-
letzung, sprechen aber andererseits auch ihnen nicht das Recht
zu, von uns keine Gewalt und Verletzung zu erleiden, und wenn
wir ihre muthwillige Zerstörung oder Misshandlung missbilligen,
thun wir diess doch nicht desshalb, weil wir dadurch ihr Recht
zu verletzen glauben (in diesem Fall dürften wir die Thiere
auch nicht zwingen, für uns zu arbeiten, oder sie schlachten
um sie zu verzehren), sondern weil wir in einer solchen Handlung
lieber Begriff und Begründung der sittlichen Gesetze. 217
einen Akt der Roheit, einen Beweis des Mangels an jenem
Mitgefühl für die lebendige und selbst die leblose Natur sehen,
das einem gebildeten Gemüth natürlich ist : nicht desshalb, weil
wir ihren Rechten, sondern weil wir unserer sittlichen Würde
dadurch zu nahe treten würden. Wo man andererseits einem
Theil der Menschen die allgemeinen Menschenrechte verweigert,
da beweist diess immer, dass man sie nicht auf die gleiche
Linie mit sich selbst stellt, sie für tiefer stehende Wesen an-
sieht, die man ähnlich, wie die Thiere, als Sachen, nicht als
Personen, zu behandeln berechtigt sei: Aristoteles konnte die
Sklaverei nur mit der Annahme vertheidigen, dass es Menschen
gebe, die ihrer Natur nach keiner geistigen Thätigkeit fähig
seien, und ebenso die neueren Verfechter derselben nur mit der
Behauptung, dass die Neger derjenigen Bildungsfähigkeit ent-
behren, welche es möglich mache, sie zur Freiheit und Huma-
nität zu erziehen.
Wie es aber die Gleichheit der menschlichen Natur in allen
menschlichen Individuen ist, welche uns verbietet, andere zu
verletzen, welche die Achtung ihrer Rechte von uns fordert, so
beruht auch alle positive Fürsorge für andere, alles Wohlwollen
und alle Menschenliebe, auf diesem Motiv. Ihrem psycholo-
gischen Ursprung nach gründen sich alle wohlwollenden Nei-
gungen, wie David Hume und Adam Smith richtig erkannt
haben, auf die Sympathie: darauf, dass die Aeusserung fremder
Gefühlszustände uns naturgemäss anregt, sie innerlich nachzu-
bilden und dadurch mit der Vorstellung dessen, was in anderen
vorgeht, zugleich auch eine der ihrigen entsprechende Lust-
oder Unlustempfindung zu erhalten. Aus dieser natürlichen
Sympathie, erzeugt sich die Neigung, das Glück anderer Menschen
zu fordern, sie vor Schmerz und Unglück zu bewahren, zunächst
desshalb, weil man beide bis zu einem gewissen Grade als seine
eigenen Zustände mitfühlt. Aber so lange sich das Wohlwollen
gegen andere nur auf dieses natürliche Mitgefühl gründet, ist es
nothwendig viel schwächer, als diejenigen Gefühle und Neigungen,
welche auf den eigenen angenehmen und unangenehmen Er-
fahrungen beruhen, im Dienste des eigenen Wohls stehen, und
218 lieber Begriff und Begründung der sittlichen Gesetze.
es leistet diesen im GoUisionsfall keinen nachhaltigen Widerstand :
Kinder und solche Personen, deren Menschenliebe nicht über die
natürliche Gutherzigkeit der Kinder hinauskommt, sind im Grunde
bei aller Liebenswürdigkeit grosse Egoisten und keiner ernstlichen
Opfer fllr andere fähig. Zur Chamktereigenschaft oder zur Tugend
wird das Wohlwollen erst dann, wenn es sich mit dem Gefühl
der VerpfHchtung verbindet; wenn die Fürsorge für andere
nicht blos als eine Sache der Neigung behandelt wird, die als
solche auch unterbleiben kann, sondern als etwas für den
Menschen als Menschen nothwendiges, durch seine Menschennatur
gefordertes, etwas, durch dessen Vernachlässigung er sich mit
sich selbst, seinem eigenen Wesen, in Widerspruch setzen würde:
wenn also, mit Einem Wort, in irgend einer Form das Bewusst-
sein ihrer sittlichen Nothwendigkeit vorhanden ist und ihr Motiv
bildet. Dieses Bewusstsein kann uns aber nur daraus ent-
stehen und seine Berechtigung kann sich nur darauf gründen,
dass die andern in ihrer geistigen Natur desselben Wesens sind,
wie wir. So lange sich der Einzelne mit seinem Selbstgefühl
und Selbstbewusstsein auf seine sinnliche Natur beschränkt, be-
zieht er auch in seinem praktischen Verhalten alles auf seine
sinnlichen Zwecke, er findet daher nichts in sich, was ihn an-
triebe, sich das Wohl anderer Menschen nicht blos als ein Mittel
für seinen eigenen Genuss und Vortheil, sondern selbständig
zum Zweck zu setzen. Erst wenn es ihm zum Bewusstsein
konmat, dass er einer Thätigkeit und einer aus ihr entspringen-
den Befriedigung fähig ist, welche über das blosse Sinnenleben
hinausgeht, wenn es ihm Wünschenswerther erscheint, etwas an
sich selbst werthvoUes und löbliches zu vollbringen, als in Be-
quemlichkeit und Sinnengenuss zu leben, wenn ihm mit Einem
Wort das Gefühl seiner höheren, geistigen Natur auifeeht, wird
er dieselbe Natur auch in anderen zu erkennen und zu achten
im Stande sein. Wie wir uns nur solchen gegenüber rechtlich
verpflichtet fühlen, die wir als Personen uns selbst gleichstellen,
so fühlen wir auch eine moralische Verpflichtung nur denen
gegenüber, denen wir als Menschen die gleiche Natur zuerkennen,
wie uns selbst: das Wohlwollen gegen andere beruht auf der
lieber Begriff und Begründung der sittlichen Gesetze. 219
Anerkennung der Gleichartigkeit ihrer Natur mit der unsrigen,
und es dehnt sich ebendesshalb von den engeren Verbindungen,
auf die es anfangs beschränkt ist, von der Familie, den Freunden,
den Stammesgenossen, den Mitbürgern, in demselben Mass auf
immer weitere Kreise und schliesslich auf die ganze Menschheit
aus, in dem das Bewusstsein von der natürlichen Gleichartigkeit
aller menschlichen Individuen sich erweitert. Alle die Züge
aber, die wir als gemeinsame Eigenthtimlichkeiten unserer Gattung
betrachten, und die uns veranlassen, andere uns selbst gleichzu-
setzen, führen auf die geistige Seite der menschlichen Natur zu-
rück. Wir sehen unsere Mitmenschen nicht desshalb für Unsers-
gleichen an, weil wir voraussetzen, dass sie die gleichen Wahr-
nehmungen, die gleichen sinnlichen Lust- und Schmerzgefühle,
die gleichen körperlichen Bedürfaisse und Begierden haben, wie
wir; — alles dieses schreiben wir ja auch den Thieren zu; —
sondern weil wir annehmen, sie seien ebenso, wie wir, durch
ihre Natur befähigt, vernünftig zu denken und mit freier Selbst-
bestimmung zu handeln, sich in ihren Zwecken und Interessen
über das Sinnliche und das blos Persönliche zu erheben, die
Wahrheit zu suchen, sich des Schönen zu erfreuen, und eben-
desshalb auch die verwandten Elemente unseres Wesens zu ver-
stehen und mitzufühlen. Wie die Versittlichung unseres eigenen
Lebens darauf beruht, dass wir den geistigen Bestandtheilen des-
selben im Vergleich mit den sinnlichen den höheren und allein
unbedingten Werth beilegen, so beruht auch das sittliche Ver-
halten zu andern darauf, dass wir sie als Wesen anerkennen,
die ihrer geistigen Natur nach uns selbst gleich und gleichbe-
rechtigt seien. Und dieses beides fällt in der Wirklichkeit
nicht auseinander ; denn einerseits dienen uns gerade die Wahr-
nehmungen, welche wir im Verkehr mit anderen machen, dazu,
uns den Unterschied des Geistigen vom Sinnlichen und den Vor-
zug des ersteren vor dem letzteren zum Bewusstsein zu bringen,
andererseits ist es doch nur imsere eigene innere Erfahrung,
welche uns in den Stand setzt, ihre Gemüthszustände und Be-
weggründe zu verstehen, indem die Aeusserungen derselben uns
veranlassen, sie innerlich nachzubilden und nach Analogie der
220 lieber Begriff und Begründung der sittlichen Gesetze.
unsrigen zu deuten. Mag daher auch jedem ein gerechtes,
wohlwollendes und uneigennütziges Verhalten anderer Menschen
gegen ihn zuerst nur desshalb gefallen , weil es ihm selbst an-
genehm und vortheilhaft ist, so befähigt und nöthigt ihn doch
seine Vernunft, die Urtheile, welche zunächst aus seiner persön-
lichen Erfahrung geflossen sind, zu verallgemeinem, das, was
er von anderen in ihrem Verhalten gegen sich verlangt, von
jedem für sein Verhalten gegen jeden, und daher auch von sich
selbst zu verlangen, es als eine allgemeine Anforderung der
menschlichen Natur zu betrachten.
Eben diess ist es nun, was wir mit dem Namen der Pflicht
bezeichnen. Auch dieser Begrüf drückt, wie der des Gesetzes,
zunächst nicht eine natürliche und allgemeine, sondern eine auf
einem bestimmten Verhältniss zu anderen Personen beruhende
Nothwendigkeit aus : wie ein Gesetz ist, was der Wille des Ge-
setzgebers verlangt, so ist eine Pflicht oder Verpflichtung die
Leistung, die irgend jemand von uns zu verlangen berechtigt
ist; und wie der Gesetzgeber von der Erfüllung des Gesetzes
entbinden kann, so kann auch der Berechtigte den Verpflichteten
von seiner Leistung entbinden. Aber wie aus dem Begriff des
positiven Gesetzes der des allgemeinen Sittengesetzes hervorgeht,
so auch aus dem der positiven Verpflichtung die einer sittlichen,
von jeder Satzung unabhängigen Pflicht. Wir haben auf Grund
bestimmter Verhältnisse oder Verträge gewisse Verpflichtungen
gegen andere. Aber worauf beruht es, dass wir uns überhaupt
verpflichtet fühlen, dass Leistungen für andere nicht blos durch
die Klugheit angerathen, sondern durch eine höhere Noth-
wendigkeit geboten, dass sie eine sittliche Pflicht für uns sein
können? Diess kann, wie nachgewiesen wurde, in letzter Be-
ziehung nur in der Einrichtung unserer eigenen Natur begründet
sein. Wenn wir dasjenige logisch nothwendig nennen, was nach
den Regeln des richtigen Denkens aus einer gegebenen Voraus-
setzung folgt, so nennen wir diejenige Handlungsweise sittlich
nothwendig oder Pflicht, welche mit logischer Nothwendigkeit
aus der Voraussetzung hervorgeht, dass der Mensch ein Ver-
nunftwesen sei, dass der geistige Theil seiner Natur im Vergleich
lieber Begriff und Begründung der sittlichen Gesetze. 221
mit dem sinnlichen nicht blos einen höheren, sondern allein
einen unbedingten Werth habe. Je deutlicher der Einzelne diese
Nothwendigkeit erkennt, um so höher steht seine sittliche Ein-
sicht; je ausschliesslicher er sich in seinem Verhalten von dem
Gefühl derselben bestimmen lässt (was auch bei mangelhafter
Einsieht in hohem Grade der Fall sein kann), um so reiner
sind seine sittlichen Motive. Die Pflichterfüllung erzeugt ein
Gefühl der Befriedigung, weil bei derselben das thatsächliche
Verhalten mit dem tibereinstimmt, was dem Handelnden zur
Erhaltung und Erhöhung seines persönlichen Werthes nothwendig
erscheint, die Pflichtverletzung, wenn man sich derselben als
solcher bewusst wird, ein Gefühl der Unzufriedenheit mit sich
selbst, das zu um so grösserer Stärke anwächst, je greller der
Contrast zwischen dem thatsächlichen Verhalten und dem Werth
ist, welchen der Handelnde der durch dasselbe verletzten Regel
des Handelns beilegt; und diese Gefühle der moralischen Zu-
friedenheit und Unzufriedenheit mit sich selbst, der Selbstachtung
und Selbstverachtung, sind wesentlich verschieden von denen der
Hofihung und der Furcht, welche sich mit dem Gedanken ver-
binden, dass man einem fremden Willen, von dem man sich
in irgend einer Beziehung abhängig fühlt, genügt oder zuwider-
gehandelt habe. Seinen letzten Grund hat dieser Charakter der
sittlichen Gefühle eben darin, dass die Gesetze des sittlichen
Handelns aus der menschlichen Natur als solcher entspringen,
und nichts anderes ausdrücken, als die Bedingungen, unter denen
unser Wollen eine Bethätigung unserer geistigen Natur, unserer
Vernunft ist. Die Kenntniss dieser Gesetze ist uns daher zwar
allerdings nicht in dem Sinn angeboren, als ob die Sätze, in
denen sie sich ausdrücken, oder irgend ein allgemeinster Grund-
satz, auf den sie alle sich zurückführen lassen, jedem Menschen
von Hause aus bekannt wären oder unmittelbar durch innere
Anschauung bekannt würden. Sondern in demselben Masse, wie
unser geistiges Leben sich entwickelt und sein Werth uns zum
Bewusstsein kommt, werden wir uns auch der Anforderungen
bewusst, die sich daraus für unser Verhalten ergeben ; und wenn
wir nun das, was wir in dieser Beziehung zunächst in der
222 Ueber Begriff und Begründung der sittlichen Gesetze.
Behandlung der einzelnen Fälle und der konkreten Verhältnisse
als das richtige erkannt haben, in der Form rechtlicher und sitt-
licher Grundsätze zusammenfassen, so sprechen wir damit nicht
eine vor der sittlichen Erfahrung schon feststehende Wahrheit
aus, sondern wir geben nur den Gesetzen, die uns zimächst
durch die Thatsache des sittlichen Lebens bekannt geworden
sind, einen allgemeingültigen Ausdruck. Wer mit dieser That-
sache ganz unbekannt wäre, wer niemals moralische Antriebe
empfunden, nie die Qualen des schlechten, die Seligkeit ein^s
guten Gewissens erfahren hätte, dem wären die Vorschriften des
Moralphilosophen ebenso unverständlich, als es die Regeln der
Logik dem sind, dessen Denken, die der Aesthetik dem, dessen
Geschmack verwahrlost ist; und Aristoteles hat insofern nicht
Unrecht, wenn er verlangt®''), dass man erst zu einem sittlichen
Menschen erzogen sei, ehe man sich mit der wissenschaftlichen
Betrachtung der sittlichen Aufgaben beschäftigt. Aber weil es
sich bei dieser Betrachtung nicht blos darum handelt, das that-
sächliche Verhalten der Menschen zu beschreiben, sondern seine
allgemeinen Gründe und Gesetze zu erforschen und an ihnen
den Masstab ftlr seine Beurtheilung zu gewinnen, ist die Ethik
eine über die Erfahrung, als solche, hinausgehende Wissenschaft:
ihre Sätze sind nicht der Ausdruck dessen, was irgendwo als
Recht oder Sitte besteht, sondern der Forderungen, die als
Normen der menschlichen Willensthätigkeit aus der Idee des
Menschen hervorgehen.
Anmerkuiigeii.
1. M. vgl. hierüber Vortr. u. Abhandl. ü, 37 f. 527.
2. Bei Abistoteles Rhetorik I, 13. 1373 b 14.
3. Antigene 460 ff. Aehnlich Oedipus R. 465 f. Ebenso erklärt sich
Sokrates bei xenophon Memor. IV, 4, 19, unter Zustimmung des
Sophisten Hippias.
4. Bei Stobäus Floril. ÜI, 84.
5. M. vgl. über diese meine Phil. d. Griechen I, 1005 ff.
6. A. a. 0. I, 685, 1 Schi. 772, 1. 635 u.
7. Ebd. I, 789 f.
8. Ebd. n, a, 642 f. b, 331 f.
Ueber Begriff und Begründung der sittlichen Gesetze. 223
9. So Aristoteles Rhet I, 13 Anf.
10. Abist, a. a. 0. und Eth. N. Vm, 13. 1161 b 5. Theophbast b.
POKPHTB De abstin. UI, 25. Phil. d. Gr. n, b, 865.
11. Es geschieht diess aber, so viel ich sehe, nur De coelo I, 1. 268 a
13. Nachdem Arist. hier bemerkt hat, alles sei in Anfang, Mitte und Ende,
und somit in der Dreizahl beschlossen, fügt er bei: „daher bedienen .wir uns
auch beim Kultus dieser Zahl, indem wir, so zu sagen, von der Natur ihre
Gesetze überkommen," d* h. ihr Verfahren uns zum Muster genommen haben
{naQa rijs (pvosats eTkriffores Saneg vlfiovg ixeivrig),
12. Vgl. Phil. d. Gr. lU, a, 157 f.
13. Abiüs Didymus b. Euseb. praep. evang. XV, 15, 2: die Menschen
stehen nach stoischer Lehre in Gemeinschaft dia rb Xoyov (Aixix^iv, os
14. Qwid enim aliud est natura quam Dem et divina ratio toti mundo
^ partibus ejuB inserta? Seneca De Benef. IV, 7, 1.
15. Cicebo Nat. De. I, 14, 36; übereinstimmend Derselbe De Offic.
m, 5, 23 im Sinn der stoischen Schule, wahrscheinlich direkt nach Panätius :
, ^iMxtwra^ ratio, quae est lex divina et humana.
16. DiOG. Vn, 88: 6 vofjLog 6 xoivog, osneg Ipxlv 6 og&os Xoyos dia
Jittvtfov igxofievog, 6 avros tov rf z/*« xa9i^yifi6vi Tovrtp rtis röiv oXeav
dioue^aews ovri. Ähnliches bei Cic. Leg. 11, 4, 8.
17. Bei Stob. Ekl. I, 30.
18. Philodem. tt. evaeß. S. 81, 7 G. über Chrys. : rov JCa vofiov (prjolv
ilvat. CiC. N. D. I, 18, 41 über denselben: idemque etiam legis perpetuas
et aetemae vim, quae quasi dux vitae et magistra ofßciorum sit, Jaoem dicit
6886, eandemque fatalem^ necessitatem appeUat u. s. w.
19. Wie unter anderem die Gleichstellung des Pflichtgesetzes mit dem
Verhangniss (vor. Anm.) zeigt.
20. Vgl. Phü. d. Gr. in, a, 171 ff.
21. Dagegen kann ich aus den im vorstehenden dargelegten Gründen
EüCEEN nicht zustimmen, wenn er in seiner lesenswerthen Erörterung über
den Begriff des Gesetzes (Gesch. u. Krit. d. Grundbegriffe d. Gegenw. S. 114)
die Ansicht äussert, der Ausdruck „Gesetz" scheine erst bei den Eömem
vom Gebiet des Handelns auf das Naturgeschehen übertragen worden zu
sein und diess finde sich zuerst bei Lucbez V, 57 ff. vgl. I, 586. 11, 302. V,
510. 321. VI, 906.
22. M. vgl. hierüber, die Stoiker betreffend, meine Phil. d. Gr. III, a,
336 f. 345, Leibniz anbelangend meine Gesch. d. deutschen Phil. S. 151 ff.
23. So Nouv. Ess. IV, 17, 23 Schi. c. 18, S. 405 Erdm. 482 Gerh.
Th^od. Pr^f. S. 477 Erdm. § 345 f. Disc. de la conformit^ u. s. w. § 2 f. 19 f.
Vgl. meine Gesch. der dtsch. Phil. S. 152 ff.
24 Grundlegung z. Metaph. d. Sitten 2. Abschn. Bd. FV, 83—38
Hartenst. 1. Ausg. Aehnlich Kritik d. prakt. Vm. 1. Th. 1. B. 1. Hptst. § 1.
25. Grundlegung a. a. 0. S. 50. Krit. d. pr. Vm. 1. Th, 1. B. 1. Hptst
Deduction d. Grunds. S. 149. Krit. d. Urtheilskr. Einl.
26. Grundlegung a. a. 0. S. 38 f.
27. Krit. d. Urtheilskr. Einleit Krit. d. pr. Vm. a. a, 0.
224 lieber Begriff und Begründung der sittlichen Gesetze.
28. Gelesen am 6. Jan. 1825; jetzt: Werke. Z. Philos. H, 397-417.
Ich berücksichtige übrigens hier nur dasjenige, was mir als der wesentliche
Inhalt dieser Abhandlung erscheint, während ich solche Einwürfe übergehe,
mit denen der Gegner mehr nur belästigt als widerlegt wird.
29. Z. B. Grundlegung 3. Abschn. S. 82. Krit. d. pr. Vm. 1. Th. 1. B.
1. Hptst. § 7 Anm. § 8 Anm. H. Ebd. 8. Hptst.
30. Grundlegung 2. Abschn. S. 35 vgl. m. S. 50.
31. Grundlegung a. a. 0. S. 33 f.
32. Oder, wie Windelband, Präludien (1884) S. 211 ff. sagt: Nonnen,
normative Gesetze.
83. Grundlegung '2. Abschn. S. 37 u. ö.
34. Ebd. S. 63.
35. M. vgl. über diese Beschränkung S. 181.
36. Und so auch oben S. 175 ff.
37. Eth. Nik. I, 2. 1095 b 4 u. ö. vgl. Phü. d. Gr. ü, b, 631.
IX.
Ueber die (rründe unseres Grlaubens an die Realität
der Aussenwelt.
Nichts liegt dem Menschen von Hause aus ferner als der
Zweifel an der Wirklichkeit der Dinge, die seine Sinne ihm
zeigen. Wer die Welt so ansieht, wie sie jeder von seiner Kindheit
her anzusehen gewohnt ist, der hat vielleicht keine Vorstellung
von andern als körperlichen Wesen, er läugnet vielleicht auch
ausdrücklich, dass es solche Wesen geben könne; der Gedanke
dagegen, dass die Körperwelt, die er wahrnimmt, nicht wirklich
ausser ihm existire, kommt ihm nicht in den Sinn, derselbe
scheint ihm vielmehr so ungereimt , dass er nicht begreift, wie
irgend jemand im Ernste auf diesen Einfall sollte gerathen
können. Auch die Sinnestäuschimgen machen ihn an dieser
Ueberzeugung nicht irre: sie beweisen ihm allerdings, dass die
Dinge nicht immer so beschaffen sind, wie sie sich uns beim
ersten Anblick zeigen, dass wir sie daher genau und sorgfältig
beobachten, unsere Wahrnehmungen durch einander controliren
müssen; allein er schliesst daraus nicht, dass den Dingen die
sinnlichen Eigenschaften, die wir an ihnen wahrnehmen, Farbe,
Geschmack, Temperatur u. s. w. vielleicht gar nicht zukommen,
und noch viel weniger, dass selbst sein Glaube an das Dasein
jener Dinge möglicherweise auf einer blossen Täuschung be-
ruhen könnte. Ebensowenig zieht er diesen Schluss aus der
Thatsache, die sich ihm bald genug aufdringt, dass wir im
Traume zahllose Dinge zu sehen und zu berühren, mit Menschen
zu sprechen und ihre Kede zu vernehmen glauben, die beim
Erwachen unserem Bewusstsein sofort entschwinden. Er erkennt
Zeller, Vorträge und Abhandl. III. 15
226 üeber die Gründe unseres Glaubens
daraus den Unterschied zwischen Wachen und Träumen; aber
weil ihm dieser vollkommen klar zu sein scheint, hat er keine
Veranlassung zu der Frage, ob nicht das, was wir im wachen
Zustand wahrzunehmen glauben, am Ende gleichfalls ein blosses
Phantasiebild sei.
Auch das wissenschaftliche Denken fand sich indessen erst
spät zu dieser Frage hingedrängt. Von den alten und den
mittelalterlichen Philosophen wird sie noch nicht aufgeworfen.
Die Zuverlässigkeit unserer Wahrnehmungen haben allerdings
bereits unter den ältesten griechischen Denkern viele be-
stritten. Schon bald nach dem Anfang des fünften Jahrhunderts
V. Chr. erklärten Parmenides und Heraklit, dass uns nur die
Vernunft, nicht die Sinne, von der wirklichen Beschaffenheit der
Welt ein Bild gebe : j e n e r , weil er die Vielheit imd Veränderung
der Dinge, das Entstehen und Vergehen, mit seinem Begriff des
Seienden nidit zu vereinigen wusste; dieser umgekehrt, weil
er ihnen bei der unablässigen Umwandlung aller Stoffe und
Formen die Beharrlichkeit des Seins nicht zugestehen wollte,
welche unsere Sinne ims vorspiegeln. Das gleiche Urtheil haben
dann ihre Nachfolger, ein Empedokles, Anaxagoras, Demokrit,
aus ähnlichen Gründen, wie Parmenides, wiederholt: sie alle
nahmen Anstoss daran, dass uns die Wahrnehmung ein Ent-
stehen und Vergehen der Dinge zu zeigen scheine, während sie
doch ihrer Substanz nach weder entstehen noch vergehen, und
dass sie uns andererseits die letzten Bestandtheile derselben nicht
zeige. Aber dass eine Körperwelt ausser uns existire, hat keiner
von diesen Philosophen bezweifelt^). Ebensowenig bezweifelt es
Plato und seine späteren Anhänger, die Neuplatoniker. Sie
läugnen allerdings, dass der Erscheinungswelt ein ebenso
vollkommenes, unveränderliches Sein, ein Sein derselben Art
zukomme, wie der der Ideen; und die allgemeine Grundlage
derselben, die Materie, nennen sie geradezu das Nichtseiende.
Aber ihre Meinung ist nicht die, dass dieses „Niditseiende" nur
in unserer Vorstellung existire, sondern es ist ihnen ein objektiver
Bestandtheil der Körperwelt; und weit entfernt, diese fftr ein
Erzeugniss des vorstellenden Geistes zu halten, glauben sie
an die Realität der Aussenwelt 227
Tielmehr, dass der menschliche Geist erst durch seinen Eintritt
in einen Körper mit der Sinnlichkeit behaftet, der sinnlichen
Vorstellung fähig geworden sei. Selbst von den alten Skeptikern
gieng keiner so weit, dass er die Realität der Aussenwelt ernst-
lich in Frage gestellt hätte. Ein Protagoras behauptete wohl,
die Dinge seien für uns unerkennbar, denn das Bild derselben,
das die Sinne uns liefern» sei das zusammengesetzte Erzeugniss
aus zwei Bewegungen, von welchen nur die eine von den Dingen,
die andere dagegen von unsem Sinneswerkzeugen ausgehe, es
sei daher immer nur für den Wahrnehmenden und für die
Dauer seiner Wahrnehmung gültig; allein die Wirklichkeit der
Dinge setzte er dabei voraus. Spätere Skeptiker suchen im Be-
griff des Körpers Widersprüche aller Art nachzuweisen^); aber
was sie damit beweisen wollen, ist nicht, dass es keine Körper
gebe, sondern nur, dass wir nichts von ihnen wissen können.
Am nächsten scheint dei^enigen unter den neueren Theorieen,
welche die Existenz der Körperwelt bestritten haben, der Sophist
Gorgias zu kommen, wenn er im ersten Theil seiner bekannten
skeptischen Schrift zu zeigen versuchte, „dass nichts existire",
und dieses Paradoxon auf Gründe stützte, die von der Voraus-
setzung ausgehen, dass alles Beale etwas körperliches sein
müsste*). In Wahrheit handelte es sich aber für ihn hiebei nicht
um eine bestimmte Ansicht über die Wirklichkeit oder Unwirk-
lichkeit der Körperwelt, sondern lediglich um ein dialektisches
Kunststück. Der Satz, dass überhaupt nichts existire, ist viel
zu widersinnig, um von irgend jemand bei gesundem Verstände
im Ernste behauptet, die Thatsache, dass mindestens er selbst
existirt, für jeden zu einleuchtend, um* im Ernste bezweifelt
werden zu können. Ob das, was uns als ein körperliches er-
scheint, auch wirklich ein solches, ob es nicht vielleicht gar am
Ende eine^blos subjektive Erscheinung sei, kann man fragen;
mit der Frage dagegen, ob überhaupt etwas existire, und vollends
mit der Verneinung dieser Frage, kann es niemand Ernst sein.
Gerade die Allgemeinheit, in der Gorgias das Sein läugnet, be-
weist, dass er mit seinem Satz und der Begründung desselben
nicht seine eigene Ueberzeugung ausspricht, sondern nur gegen
15*
228 Ueber die Gründe unseres Glaubens
die aller andern Einwürfe erheben will, deren XJnlösbarkeit die
Unmöglichkeit eines wissenschaftlichen Erkennens darthun soll.
Dass er den Raum und die Materie für etwas hielt, das Mos
unserer Vorstellung angehöre, kann man daraus eben so wenig
schliessen, als dass er seine eigene Existenz in Frage stellte. Auch
das Beispiel des Gorgias widerlegt daher den Satz nicht, dass
die Realität der Körperwelt von keinem unter den alten Philo-
sophen im Ernste bezweifelt worden sei.
Erst bei einem von den Vätern der neueren Philosophie
begegnen wir diesem ZweifeL Nachdem D e s c a r t e s in der ersten
von seinen sechs berühmten Meditationen die Nothwendigkeit
dargethan hat, einmal im Leben alle tiberlieferten und ge-
wohnheitsmässigen Annahmen bei Seite zu legen und die Wahr-
heit vollkommen voraussetzungslos, ohne jede vorgefasste Meinung,
zu suchen, zeigt er weiter*), zu den unbewiesenen Voraus-
setzungen, deren Wahrheit erst untersucht werden mtisse, gehöre
auch die einer Körperwelt. Denn wir kennen dieselbe, flir's
erste, nur durch unsere Sinne; aber zahllose Sinnestäuschungen
tiberzeugen uns, wie wenig wir uns auf diese verlassen können.
Wollte man femer sagen, wenigstens tiber das Dasein der Körper
können wir uns nicht täuschen, wenn diess auch hinsichtlich
ihrer näheren Beschaffenheit nicht selten vorkommen möge , so
wäre daran zu erinnern, dass wir im Traume unendlich oft
Dinge, die gar nicht vorhanden sind, nicht minder lebhaft und
deutlich wahrzunehmen glauben, als diejenigen, die uns im
Wachen begegnen ; warum könnte es sich nicht mit den letzteren,
unseren eigenen Leib und seine Theile nicht ausgenommen,
ebenso verhalten? warum könnten sie nicht gleichfalls ein blosses
Erzeugniss unserer Einbildungskraft sein?j Und nicht einmal das
könne man behaupten, dass uns doch die Stoffe, aus denen die
Phantasie jene Bilder zusammensetzt, von aussen gegeben sein
mtissen. Denn wer weiss, meint Descartes, ob unsere Natur
nicht, von wem immer, so eingerichtet ist, dass wir uns der
Täuschung selbst da nicht erwehren können, wo uns etwas so
augenscheinlich zu sein scheint, wie das Dasein der Aussen-
welt und unseres eigenen Leibes? Meinen wir ja doch auch, die
an die Realität der Aussenwelt. 229
Dinge ausser uns mit unsern Sinnen wahrzunehmeu, während es
in der Wirklichkeit nicht unsere Wahrnehmung, sondern unser
Urtheil, unser Denken ist, das uns veranlasst, sie im Innern der
von uns wahrgenommenen Formen und Gestalten ebenso voraus-
zusetzen, wie wir voraussetzen, in den Kleidern, die sich
über die Strasse bewegen, stecken nicht Automaten, sondern
Menschen.
Wenn man erwägt, was dazu gehört, um eine Ueberzeugung
in Frage zu stellen, die so allgemein und für den Menschen so
unvermeidlich ist, wie der Glaube an die Realität der Körper-
welt, und wenn man andererseits die Schwierigkeiten kennt,
welche diese Frage der Forschung noch bereiten sollte , so wird
man darin, dass Descartes sie aufeuwerfen gewagt hat, keinen
geringen Beweis für die Unabhängigkeit seines Denkens sehen
müssen. Mit ihrer Lösung hat er es aber allerdings zu leicht
genommen. Den geraden Weg zu derselben, welcher darin be-
steht, dass in der Aussenwelt eine Bedingung des Bewusstseins
nachgewiesen wird, hatte er sich durch seinen anthropologischen
und metaphysischen Dualismus verschlossen (vgl. S. 230); und
der Umweg, den er . einschlägt , konnte nicht zum Ziel führen.
Nachdem er zuerst mit zwei Beweisen, von denen der eine nicht
bündiger ist als der andere, das Dasein Gottes dargethan hat,
sehliesst er weiter: Wir finden in uns Vorstellungen von sinn-
lichen Gegenständen. Diese können nicht von uns selbst her-
vorgebracht sein, denn sie entstehen uns ganz unwillkürlich,
drängen sich selbst gegen unseren Willen uns auf, und bedürfen
zu ihrer Entstehung des Denkens nicht, aus dem doch alles von
uns selbst hervorgebrachte entspringt. Ebensowenig können sie
aber von der Gottheit mittelbar oder unmittelbar in uns her-
vorgebracht werden; denn da sie ims doch als die Wirkung
körperlicher Objekte erscheinen, würde die Gottheit in diesem
Fall uns mit einer falschen Voi'spiegelung täuschen, was un-
denkbar ist. Es bleibt somit nur übrig, dass unsere Wahr-
nehmungen körperlicher Dinge wirklich von solchen Dingen
herrühren^). Man braucht sich jedoch nur dessen zu erinnern,
was Descartes selbst kaum erst gesagt hat, um die Schwäche
230 Ueber die Gründe unseres Glaubens
dieser Beweisffthrung sofort zu erkennen. Wenn diese Folge-
rungen zulässig wären, könnte man ganz mit dem gleichen Becht
schliessen : da uns die Traumbilder ohne unser Zuthun entstehen
und mit dem vollen Schein der Wirklichkeit sich uns aufdrüigen,
so müssen ihnen reale Objekte entsprechen; denn Gott könne
unsere Natur unmöglich so eingerichtet haben, dass sie uns das
Dasein solcher Objekte fillschlich vorspiegle. Wäre andererseits
auf diesen Schluss in Descartes' Sinn zu antworten: „dass uns
Traumbilder entstehen, sei allerdings in der Einrichtung unserer
Natur begründet, wenn wir dagegen diese Bilder mit Wirklich-
keiten verwechseln, so sei daran weder unsere Natur noch die
Gottheit, sondern nur wir selbst schuld, denn jene haben uns
durch unsere Vernunft in den Stand gesetzt, beide zu unter-
scheiden, unsere Sache sei es, sie dazu zu gebrauchen" — nun
dann gilt ganz das gleiche gegen Descartes, Es mag sein, —
könnte man ihm erwiedem — dass die Bilder körperlicher Gegen-
stände uns unwillkürlich und unwiderstehlich entstehen; aber
wer zwingt uns denn, diese Bilder für Dinge zu halten? Du
räumst ja selbst ein^), dass es nicht unsere Sinne seien, die uns
jene Dinge zeigen, dass nur unser Verstand ihr Dasein auf Grund
der Sinnesempfindungen annehme. Dann ist aber auch für die
Richtigkeit oder Falschheit dieser Annahme lediglich unser Ver-
stand verantwortlich > gesetzt, sie sei falsch, so wäre es nicht
Gott, der uns täuschte oder täuschen liesse, sondern nur wir
selbst hätten uns getäuscht, weil wir aus den Thatsachen der
Wahrnehmung unberechtigte Folgerungen ableiteten.
Aber Descartes hat den von ihm selbst aufgeworfenen Zweifel
an der Realität der sinnlichen Objekte nicht blos nicht wider-
legt , sondern er hat ihm auch durch Bestimmungen, welche in
sein ganzes System tief eingreifen, Anhaltspunkte gegeben, die in
der Folge ausgiebig benützt wurden. Wenn das Wesen des
Geistes, wie Descartes behauptet, im Denken besteht und nur
im Denken, das Wesen der körperlichen Dinge in der Aus-
dehnung und nur in ihr, und wenn desshalb alle Voi^änge in
der Körperwelt, wie diess der Philosoph aufs nachdrückhchste
hervorhebt, ausschliesslich in mechanischen Bewegungen bestehen:
an die Realität der Aussenwelt. 231
wie ist es denkbar, dass solche Bewegungen sich in das einfache,
nnräumliche Wesen, in den Geist fortpflanzen, dass andererseits
geistige Vorgänge, Gedanken, mechanische Bewegungen erzeugen
können ? wie ist jene ganze Wechselwirkung zwischen Seele und
Leib denkbar, welche uns die Erfahrung zu zeigen scheint, wie
lässt sich insbesondere die Einwirkung unseres körperlichen
Organismus auf unsere Seele begreifen, von der wir alle Wahr-
nehmung, und die Rückwirkung der Seele auf den Organis-
mus, von der wir alle willkürliche Körperbewegimg herleiten?
Descartes selbst liess sich durch dieses Bedenken, wenn er es
auch nicht gänzlich abzuwehren vermochte, doch in dem Glauben
an die reale Wechselwirkung zwischen Leib und Seele nicht
stören. Um so eingehender kam es in seiner Schule zur Sprache,
und das schliessliche Ergebniss aller darüber geführten Verhand-
lungen war das, welches die Voraussetzungen des Systems allein
übrig Hessen : dass jene vermeintliche Wechselwirkung von Seele
und Leib wirklich undenkbar sei, dass daher die Erscheinungen,
auf die ihre Annahme sich gründet , anders erklärt werden
müssen. Thatsächlich gegeben — so wurde von dieser Seite
scharfsinnig bemerkt — ist uns nicht die Einwirkung der
Seele auf den Leib und des Leibes auf die Seele, sondern nur
die regelmässige Aufeinanderfolge gewisser Erscheinungen,
welche einerseits dem körperlichen, andererseits dem geistigen
Gebiet angehören. Es ist eine Thatsache der Erfahrung, dass
auf die Vorgänge in unsem Sinnesorganen die Wahrnehmungen,
auf unsere Willensakte gewisse Körperbewegungen regelmässig
folgen; aber dass die einen durch die andern verursacht sind,
ist keine Erfahrungsthatsache, sondern eine Erklärung, welche
wir zu dem thatsächlich gegebenen hinzufügen. An sich selbst
erlaubt dieses eine doppelte Deutung. Unsere Wahrnehmungen
könnten eine Folge der Vorgänge in den Sinnesorganen, unsere
Körperbewegungen eine Folge der Willensakte sein; ihre regel-
mässige Verknüpfung lässt sich aber auch daraus erklären, dass
beide gleichsehr von einer dritten Ursache abhängen, welche
in diesem Fall nur die göttliche Gausalität sein kann, und dass
diese ihre gemeinsame Ursache es sich zum Gesetz gemacht hat.
232 Ueber die Grunde unseres Glaubens
regelmässig erst einen Beiz in den Sinnesorganen und dann die
entsprechende Wahrnehmung, erst einen WiUensakt und daim
die ent^reehende Gliederbewegung hervorzubringen. Und da
nun die erste von diesen zwei an sidi möglichen ErMänmgen
nach dem obigen durch Descartes' Bestimmungen über das Ver-
hältoiss des Leibes und der Seele bei folgerichtiger Anwendung
derselben ausgeschlossen ist, entsdiied sich die cartesianische
Schule bald einstimmig fbr die zweite, das System des sogenannten
Occasionalismus. Dabei ist es für die yorliegende Frage von
untergeordneter Bedeutung, dass ein Theil ihrer Mitglieder an-
nahm, die Gottheit regle jede einzelne Wahrnehmung und Körper-
bewegung durch ihr unmittelbares Eingreifen, andere, me
Geulincx und Spinoza, mit wissenschaftlicherem Sinn, die
Uebereinstimmung der körperlichen und geistigen Voigänge auf
eine allgemeine Abhängigkeit der endlichen Wesen von der Gottheit
zurückfährten; während Malebranche, die Sinneswahmehmungen
betreffend, der mystischen Vorstellung den Vorzug gab, dass
wir die körperlichen Dinge in Gott sehen ^).
In Wahrheit liess sich aber die Wahrnehmung der Aussen-
welt vermittelst dieser Hypothese so wenig erklären, dass sie
yiehnehr consequenterweise nur dazu fähren konnte, selbst das
Dasein der letzteren zu bezweifeln. Denn wenn wir uns fragen,
woher wir überhaupt von demselben etwas wissen, so zeigt sich
sofort, dass es dazu schlechterdings keinen anderen Weg für uns
gibt, als den Bückschluss von unseren Wahrnehmungen auf die
Dinge, durch die sie hervorgebracht werden. Die Bilder, die
wir in Folge der Sinneseindrücke erhalten, stellen sich uns aller-
dings nicht als Vorstellungen in uns, sondern als Gregenstände ausser
uns dar. Aber das gleidie gilt, wie Descartes treffend bemerkt hat,
auch von den Traumbildern. Woher können wir nun wissen,
dass diese blosse Ei-zeugnisse unserer Phantasie sind, jene
dagegen solche Bewusstseinserscheinungen, denen ein von uns
selbst verschiedenes Reales entspricht ? Wir können es offenbar
nur dann wissen, wenn unsere Wahrnehmungen Merkmale ent-
halten, aus denen sich erkennen lässt, sie seien nicht, wie die
Traumbilder, von uns allein hervoi^ebracht, sondern es haben
an die Realität der Aussenwelt. 288
zu ihrer Erzeugung eben jene ausser uns existirenden Gegen-
stände mitgewirkt, deren Bild sie uns zeigen. Wären die einen
wie die andern lediglich unser eigenes Werk, so hätten wir
nicht das mindeste Recht, einen Theil von ihnen auf Objekte
ausser uns zu beziehen; denn wenn es auch an sich nicht un-
möglich ist, dass einer von uns selbst gebildeten Vorstellung ein
Gegenstand ausser uns entspreche, so können wir doch unmöglich
wissen, ob diess wirklich der Fall ist, so lange uns dieser Gegen-
stand nicht durch eine Einwirkung auf uns sein Dasein bewiesen
hat. Eine solche Einwirkung erklärten ja aber die cartesianischen
Occasionalisten für undenkbar, weil wir, d. h. unsere Seelen,
imkörperlich seien, und körperliche Dinge auf unkörperliche nicht
einwirken können. Nun wollten sie freilich nichtsdestoweniger
unsere Wahrnehmungen nicht ftlr ein Erzeugniss unseres eigenen
Geistes gehalten wissen, sondern die Gottheit sollte sie in ihm
hervorbringen ®). Aber worauf Hess sich diese Annahme unter
den Voraussetzungen ihres Systems stützen? Will man auch
davon absehen, dass schon die wissenschaftliche Begründung des
Gottesbegriflßs selbst bei Descartes und seinen Schülern grosse
Blossen darbietet, und dass eine solche überhaupt nicht möglich
ist, ohne dass man die Realität der Aussenwelt bereits voraus-
setzt, so müsste doch immer noch gefragt werden, woran wir
denn erkennen sollen, dass unsere Vorstellungen über die äusseren
Objekte nicht aus unserem eigenen Geist hervoi^egangen sind.
Sie können diess nicht sein, sagt man, weil sie sich uns so un-
willkürlich und unwiderstehlich aufdrängen, und weil wir einer
Thätigkeit, wodurch wir sie erzeugen, uns nicht bewusst seien.
Aber ebenso unwillkürlich und unbewusst entstehen uns nicht
allein die Traumbilder, sondern auch die Sinnestäuschungen. Wer
mit der heutigen Astronomie nicht bekannt ist , der glaubt die
Bewegung der Sonne vom Aufgang zum Niederrang gerade so
augenscheinlich wahrzunehmen, wie er die Sonne selbst wahr-
nimmt. Ebenso einleuchtend erscheint es ursprünglich jedermann,
dass die sinnlichen Eigenschaften der Dinge, ihre Farbe, ihre Tem-
peratur, ihr Klang u. s. w. ihnen selbst anhaften ; und doch be-
lehrt uns Descartes®) als ein Vorgänger der heutigen Natur-
234 üeber die Gründe unseres Glaubens
Wissenschaft, dass alle diese Qualitäten nicht Eigenschaften der
Körper als solcher bezeichnen, sondern nur Einwirkungen, die wir
von ihnen erfahren. So wenig endlich irgend jemand von Natur
das Dasein der Aussenwelt und seines eigenen Leibes bezweifelt,
ebensowenig bezweifelt irgend jemand, dass er selbst seinen Leib
durdi seinen Willen bewege, und dass er die Aussenwelt mit
seinen Sinnen wahrnehme; allein die Gartesianer halten beides
ftkr unmöglich. Wo sie dann aber das Becht hernehmen sollten,
aus unsem Wahrnehmungen auf die Wirklichkeit der Dinge zu
schliessen, die wir wahrzunehmen glauben, lässt sich nicht ab-
sehen : wenn diese Dinge zu der Entstehung der Wahmehmimgen
nichts beitragen, so liegt in den letzteren nichts, was auf sie
hinwiese; und da uns doch immer nur unsere Wahrnehmungen,
nur die Bilder der Dinge, nicht sie selbst, gegeben sind, haben
wir unter jener Voraussetzung überhaupt kein Eecht zu der An-
nahme, dass diesen Bildern äussere Gegenstände entsprechen.
Das gleiche gilt auch von der Theorie, welche Leibniz an
die Stelle der occasionalistischen setzte *^). Wiewohl nämlich dieser
Philosoph die Materie als die blosse Erscheinung immaterieller
Wesen, der „Monaden", begriffen, und dadurch die Schwierigkeit
beseitigt hatte, welche Descartes' metaphysischer Dualismus einer
realen Einwirkung der Seele auf den Leib und des Leibes auf
die Seele in den Weg legte, kehrte er doch aus anderen Gründen
zu dem Versuche zurück, diese Einwirkung in eine blos that-
sächliche Uebereinstimmung zu verwandeln, deren letzter Grund
nur in der Gottheit gesucht werden konnte. Da unser Leib,
ihm zufolge, nichts anderes ist als ein System von Monaden,
und die Seele nichts anderes, als der Mittelpunkt dieses Systems,
da also die Seele und die Grundbestandtheile des Leibes von
gleicher Natur sind, lag für ihn kein Grund vor, die Möglichkeit,
dass sie auf einander einwirken, mit den Cartesianem wegen
ihrer Ungleichartigkeit zu bestreiten. Weil er sich aber keine
äussere Einwirkung anders als mechanisch zu denken wusste,
und jede mechanische Einwirkung sich auf räumliche Be-
wegungen zurückführt, deren immaterielle Wesen als solche
nicht fähig sind, behauptete Leibniz, die Monaden wirken über-
an die Realität der Aussenwelt 235
haupt nicht direkt auf einander, ihr Zusammenhang bestehe viel-
mehr nur in einer prästabilirten Harmonie, d. h. darin, dass je-
der Monade schon bei ihrer Entstehung von dem Weltschöpfer
der Grad von Vollkommenheit verliehen und ebendamit die
Entwicklung voi^ezeichnet worden sei, welche ihr zukommen
musste, wenn sie mit allen andern zusammen die beste Welt
bilden sollte. Diesem Grundsatz gemäss musste auch der Zu-
sammenhang der Seele mit dem Leib auf eine vorherbestimmte
Harmonie zurückgeführt, es konnte daher auch die sinnliche
Wahrnehmung nicht von einer durch die Sinnesorgane ver-
mittelten Einwirkung der Aussenwelt auf unseren Geist hergeleitet,
sondern sie musste für einen Vorgang gehalten werden, der sich
lediglich im Innern des wahrnehmenden Subjekts vollziehe, und
ausschliesslich aus subjektiven Bedingungen hervorgehe. Alle
Veränderungen, welchen die Monaden unterliegen, bestehen nach
Leibniz eilizig und allein in einer Veränderung ihres inneren
Zustandes, in ihrer Vorstellungsthätigkeit ; und diese hängt von
keinen äusseren Einflüssen, sondern ausschliesslich von der
inneren Entwicklung jeder Monade ab. Das gleiche gilt auch
von der menschlichen Seele. Alle unsere Vorstellungen ent-
springen ausnahmslos aus uns 'selbst; wir selbst sind es, die als
ein lebendiger Spiegel des Universums sie alle aus der Tiefe
unseres Innern erzeugen. Wenn uns ein Theil derselben von
aussen gegeben zu sein scheint, so ist auch dieses nur eine Folge
innerer Vorgänge. In der Entwicklung unserer Geistesthätigkeit
gehen die unvollkommeneren Vorstellungen den vollkommenen, die
verworrenen den deutlichen nothwendig voran; die deutlichen
Vorstellungen sind aber Begriffe, die undeutlichen und ver-
worrenen sind Anschauungen ; und so muss uns freilich alles erst
als Anschauung, als Wahrnehmung, gegeben werden, ehe wir
uns einen Begriff davon machen können. Aber dass es uns von
aussen gegeben werde, können wir desshalb doch nicht annehmen ;
sondern die Wahrnehmung ist nur die erste Form, welche unsere
Vorstellungen bei ihrem Hervortreten aus unserem Innern an-
nehmen.
Auch bei dieser Theorie wird nun die objektive Existenz
236 Ueber die Grunde unseres Glaubens
der Dinge vorausgesetzt, auf die unsere Wahrnehmungen sich
beziehen; wenn auch diese Dinge in Wahrheit Complexe ein-
facher, immaterieller Wesen sein sollen, die nur eine verworrene
Anschauung uns als raumerfiülende Massen erscheinen lasse.
Aber sie wird eben nur vorausgesetzt; die Berechtigung dieser
Voraussetzung dagegen wird nicht blos nicht erwiesen , sondern
nicht einmal untersucht. In Wahrheit mttsste sie Leibniz eben-
sogut und aus den gleichen Gründen bestritten werden, wie den
Cartesianem. Die nächste reale Bedingung unserer Wahr-
nehmungen ist nach Leibniz ausschliesslich unser eigener Geist;
dass dieser selbst sein Dasein der Gottheit verdanke, ist eine
Annahme, die der Philosoph zimi Abschluss seines Systems aller-
dings nicht entbehren kann, die es ihm aber sehr schwer fallen
würde, wissenschaftlich zu erweisen, ohne dass er das Dasein
einer objektiven Welt schon voraussetzte; und noch augen-
scheinlicher liegt diese Voraussetzung allen den Ausführungen
zu Grunde, in denen Leibniz darzuthun sucht, dass die Gottheit
bei der Schöpfung jeder Monade ihr Verhältniss zu allen andern
berücksichtigt habe, dass also jede wenigstens ideell durch die
andern bedingt sei. Halten wir uns lediglich an die Thatsache
unserer Wahrnehmung, so wie Leibniz diese auffasst, und fragen
wir \ms, ob wir ein Eecht haben, Vorstellungen, die imser Geist
ohne jede Einwirkung äusserer Objekte erzeugt hat, auf solche
Objekte zu beziehen, so lässt diese Frage sich nur verneinen.
Unter den Philosophen des achtzehnten Jahrhunderts wird
sie nun auch wirklich von mehr als Einem verneint. Bald nach
dem Anfang desselben kamen die zwei Engländer Arthur
Collier und Georg Berkeley gleichzeitig und unabhängig
von einander zu dieser Ansicht"). Jener zog aus der Lehre
von Malebranche, dieser aus Locke's empiristischer Erkenntniss-
theorie, mit der sich aber auch bei ihm Gedanken von Male-
branche verbanden , den Schluss, dass den Dingen, welche nach
der gewöhnlichen Meinung als selbständige Wesen ausser dem
vorstellenden Geist existiren, eine solche äussere Existenz über-
haupt nicht zukomme, dass vielmehr ihr Sein ausschliesslich darin
bestehe, vorgestellt zu werden. Dass dieselben nur unsere
an die Realität der Aussenwelt 287
Vorstellungen seien, wollten sie allerdings nicht behaupten, und
den Unterschied der Wahrnehmungen von blossen Einbildungen
nicht aufheben; aber dieser Unterschied sollte sich nur darauf
zurückführen, dass die Einbildungen Vorstellungen seien, die
nur in unserem eigenen Geist vorhanden sind, die Wahrnehmungen
dagegen solche, die sich auch in anderen Geistern, und nament-
lich im göttlichen Geist finden : unsere Vorstellungen sind wahr,
wenn sie von der Gottheit, als Abbilder ihrer eigenen Vor-
stellungen, in uns hervorgebracht werden. Denn wenn wir die
Körperwelt, nach Malebranche, nur in Gott sehen, so haben wir,
bemerkt Collier, keinen Grund und kein Recht, ihnen auch noch
eine zweite Existenz, ausser Gott, zuzuschreiben. Wenn anderer-
seits, wie Locke will, alle unsere Vorstellungen theils aus der
inneren theils aus der äusseren Wahrnehmung entspringen, von
den Eigenschaften aber, welche die äussere Wahrnehmung uns
an den Dingen zeigt, weit die meisten nicht etwas den Dingen
selbst zukommendes, sondern nur eine Wirkung bezeichnen,
welche wir selbst von den Dingen erfahren ^^), so gehören zu den
letzteren, wie Berkeley glaubt, alle die Eigenschaften, aus denen
wir uns die Bilder der Dinge zusammensetzen, und was nach Ab-
zug derselben von den Dingen übrig bleibt, die sogenannte Materie,
ist nur eine Fiktion, eine abstrakter Begriff, bei dem man sich
nicht das geringste denken kann : das, was wir ein Ding nennen,
ist in Wahrheit nur ein Complex sinnlicher Empfindungen, und da
nun diese nirgends sind als in dem Geist des vorstellenden
Wesens, so liegt am Tage, dass die Dinge, welche aus ihnen
zusammengesetzt sind, nicht ausser demselben, als etwas für sich
bestehendes, vorhanden sein können.
Von den zwei obengenannten Vertretern dieses Standpunkts
war nun Berkeley seinem Genossen nicht allein an sich selbst
durch die Schärfe seines Denkens und den wissenschaftlicheren
Charakter seiner Beweisführung überlegen, sondern er schloss
sich auch enger, als jener, an die Locke'sche Erkenntnisstheorie
und ebendamit an den Gedankenkreis an, von welchem die eng-
lische Philosophie seiner Zeit beherrscht war. Seine Unter-
suchungen wurden dann von David Hume wieder aufgenommen
238 üeber die Gründe unseres Glaubens
und in der Art weiter geführt, dass Berkeley's Kritik des
gewöhnlichen Standpunkts rücksichtslos in ihre letzten Conse-
quenzen verfolgt, seine Metaphysik dagegen als eine willkürliche
und mit der folgerichtigen Durchführung jener Kritik unver-
trägliche Hypothese bei Seite gelegt wurde. Gegeben sind uns,
wie Hume nach Berkeley's Vorgang zeigt, nicht die Dinge,
sondern nur unsere Vorstellungen der Dinge, und auch von
diesen unmittelbar und ursprünglich nur die einfachsten Ele-
mente, die Empfindungen, oder wie sie Hume nennt, die „Im-
pressionen" ; und dass ein Theil der letzteren , im Unterschied
von den übrigen, die objektiven Eigenschaften der Dinge dar-
stelle, ist eine Annahme, die Hume mit den gleichen Gründen,
wie Berkeley , zurückweist. Der Begriff der Dinge entsteht uns
vielmehr, ihm zufolge, wie der unseres eigenen Ich, nur dadurch,
dass wir eine Reihe von Impressionen, die sich sehr ähnlich
oder durch unmerkliche Uebergänge mit einander verknüpft sind,
für eine und dieselbe halten; und da sie nun diess nur dann
sein können, wenn sie nicht blos momentan in unserer Vor-
stellung, sondern unabhängig von derselben existiren, so schreiben
wir ihnen eine solche beharrliche objektive Existenz zu, wir
halten sie für Dinge ausser uns, deren blosses Abbild und Er-
zeugniss unsere Empfindungen sein sollen. Wir kommen also
mit Einem Wort zu dem Glauben an die Dinge durch einen
Schluss von der Wirkung auf die Ursache. Die venneinüiche
Thatsache, dass die gleiche Wahrnehmung sich längere Zeit er-
hält und nach zeitweisen Unterbrechungen wiederkehrt, ver-
anlasst uns, auf die objektive Existenz der Dinge zu «chliessen,
in der wir den Grund dieser Erscheinung suchen. Aber dieser
Schluss ist, wie Hume glaubt, durchaus unbegründet. Jene That-
sache ist falsch, denn unsere aufeinanderfolgenden Impressionen
können sieh zwar mehr oder weniger ähnlich sein, aber sie sind
niemals eine und dieselbe; und wenn sie auch wahr wäre,
würde sie uns nicht das Recht zu dem angeführten Schluss geben.
Denn die Annahme eines Causalzusammenhangs unter den Dingen
beruht überhaupt nicht auf der Vernunft, sondern lediglich auf
der Einbildungskraft. Wenn wir gewisse Erscheinungen regel-
an die Bealität der Aussenwelt 239
massig auf andere folgen sehen, so verknüpfen sich ihre Bilder
durch die Gewohnheit so fest mit einander, dass wir immer, wenn
die eine eintritt, die andere erwarten, dass wir zwischen ihnen
einen nothwendigen Zusammenhang, einen Causalzusammenhang
voraussetzen. Aber mag diese Voraussetzung noch so natürlich
für uns sein: wissenschaftlich gerechtfertigt ist sie nicht. Und
da nun die Annahme von Dingen ausser uns einzig und allein
auf dieser Voraussetzung beruht, so ist auch über sie nicht anders
zu urtheilen. Die Natur drängt uns jene Annahme zwar jeden
Augenblick auf, sie nöthigt uns durch die Lebhaftigkeit der Im-
pressionen, die wir erhalten, zu dem Glauben an die Dinge, die
wir als ihre Ursache vorauszusetzen uns gewöhnt haben; aber
unsere Vernunft beweist uns, dass wir von solchen Dingen un-
möglich etwas wissen können und schlechterdings kein Recht
haben, ihr Dasein zu behaupten*^).
David Hume^s Skeptidsmus hat nun bekanntlich zu Kant 's
Kritik des menschlichen Erkenntnissvermögens einen ent-
scheidenden Anstoss gegeben; und wurde er auch in derselben
durch andere Elemente eingeschränkt, so musste er doch gerade
für die Frage, welche uns hier beschäftigt, um so grössere Be-
deutung gewinnen, da sein Einfluss auf diesem Punkt auch
durch den des Leibnizischen Systems verstärkt wurde. Kant
selbst setzt das Dasein von Dingen voraus, die von uns selbst
und unseren Vorstellungen verschieden, den „transcendentalen",
unserer unmittelbaren Erfahrung unzugänglichen, aber für ihre
Erklärung unentbehrlichen Grund und Gegenstand unserer
Empfindungen bilden ; und zwischen der ersten und der zweiten
Auflage seiner Kritik der reinen Vernunft ist in dieser Beziehung
kein Unterschied von sachlicher Bedeutung ^*). Aber den Beweis
für die Berechtigung dieser Voraussetzung hat Kant nicht ge-
führt ^^), und die letzten Ergebnisse seiner ganzen Erkenntniss-
theorie waren in hohem Grade geeignet, sie in Frage zu stellen.
Nur der Stofif unserer Vorstellungen ist uns, wie Kant zeigt, in
den Empfindungen gegeben, alle die Formen dagegen, unter
denen wir diesen Stoff bald zu sinnlichen Bildern bald zu Be-
griflfen verknüpfen, stammen aus unserem eigenen Geiste, dem
240 Ueber die Gründe unseres Glaubens
sie als die apriorischen Formen seines Anschanens und Denkens
inwohnen. Es kann uns daher weder ein Vorstellungsinhalt
anders, als in diesen subjektiven Vorstellungsformen gegeben
werden, noch lassen die letzteren sich auf anderes, als auf
Gegenstände einer möglichen Erfahrung, anwenden; denn sie
bezeichnen eben nur die Art, in der wir das empirisch gegebene
zur Einheit des Bewusstseins zusammenfassen, und es gibt weder
einen Inhalt für sie, der uns anders als durch die Erfahrung
gegeben werden könnte, noch wären sie für einen solchen gültig.
Wir sind somit in unserem Erkennen ausschliesslich auf die Er-
fahrung beschränkt, und diese zeigt uns die Dinge nur in der
Gestalt, die sie vermöge unserer subjektiven Anschauimgs- und
Denkformen annehmen, d. h. nur als Erscheinungen; wie
sie dagegen abgesehen von diesen subjektiven Vorstellungsformen
beschaffen sind, darüber können wir nicht das mindeste wissen:
das An -sich der Dinge oder das Ding -an -sich ist für uns ab-
solut unerkennbar.
Es ist nun freilich unverkennbar und ist auch Kant bald
genug vorgehalten worden, dass sich diese absolute Unerkenn-
barkeit der Dinge- an- sich mit der von ihm doch so entschieden
festgehaltenen Voraussetzung, dass es solche Dinge gebe,
schlechterdings nicht verträgt. Denn wenn wir fragen, worauf
diese Voraussetzung sich gründet, so lässt sich wieder nur ant-
worten : auf einen Schluss aus den Erscheinungen auf ihre jenseits
der Erscheinung liegenden Gründe. Aber welches Zutrauen
können wir diesem Schluss schenken , wenn unser Erkenntniss-
vermögen ausser Stand ist, uns über die Erfahrung hinaus-
zuführen? Jener Schluss geht von der Erscheinung als der
Wirkung aus und führt zu dem Ding -an -sich als ihrer Ursache;
er gründet sich mithin auf die Voraussetzung, dass beide zu
einander im Verhältniss der Causalität stehen. Aber die Kate-
gorie der Causalität lässt sich nach Kant, wie alle Kategorieen,
nur auf Erscheinungen anwenden, nicht auf die Dinge -an -sich:
wie könnte da das Dasein dieser Dinge gerade vermittelst jener
auf sie unanwendbaren Kategorie erwiesen werden? Ist es
femer richtig , dass die Dinge - an - sich für uns, wie Kant sagt.
an die Realität der Aussenwelt. 241
durchaus unerkennbar, ein blos problematischer oder Grenzbegriff,
eine unbekannte Grösse, ein blosses X sind, wenn wir doch von
ihnen wissen, dass sie 1) existiren, dass diese Existenz 2) eine
objektive, von unserer Vorstellung unabhängige ist, dass sie
Dinge sind, nicht blos Vorstellungen von Dingen, und dass sie
3) der materielle Grund der Erscheinungen, die Ursache unserer
Empfindungen sind? wozu bei Kant noch weiter die allerdings
ganz unerwiesene Voraussetzung hinzukommt, dass es dieser
Dinge mehrere seien und nicht blos Eines. Wissen wir damit
auch nicht alles, was wir von ihnen zu wissen wünschten, so
wissen wir doch einiges und gerade das, was die unerlässliche
Grundlage jeder weiteren Untersuchung über sie bildet. Können
wir von den Dingen- an- sich gar nichts wissen, so können wir
auch nicht wissen, ob es solche Dinge gibt; will man anderer-
seits dieses behaupten, so muss man ihre absolute Unerkennbar-
keit aufgeben. Indessen verhielt sich das Kantische System zu
den zwei Gliedern dieses Dilemma keineswegs gleich. Die Un-
erkennbarkeit der Dinge -an -sich ergab sich aus den Principien
desselben mit solcher Nothwendigkeit, dass sich ihr nur durch
eine Umbildung jener Principien selbst entgehen liess, bei der
es sich an erster Stelle um die durch das ganze System sich
hindurchziehende Voraussetzung handelte, dass den subjektiven
Anschauungs- und Denkgesetzen keine objektive Gültigkeit zu-
komme*^). Dagegen war die objektive Existenz jener Dinge
eine Annahme, die Kant aus der allgemeinen Ueberzeugung als
selbstverständlich herübergenommen, die er aber vom Standpunkt
seines Systems aus zu begründen oder auch nur mit ihm aus-
zugleichen keinen nennenswerthen Versuch gemacht hatte. Wie
ihm daher diese Annahme schon von einigen seiner ältesten
Gegner als eine Inconsequenz vorgerückt worden ist, so konnte es
andererseits nicht ausbleiben, dass umgekehrt von seinen ent-
schiedensten Anhängern solche, denen die systematische Conse-
quenz über jede andere Rücksicht gieng, den wahren Sinnseiner
Lehre nur in der Beseitigung des Dings -an -sich zu sehen
wussten; dass ein Jakob Sigismund Beck diess fijr den
einzig möglichen Standpunkt erklärte, aus welchem die kritische
Zell er, Vorträge und Abhandl. III. 16
242 lieber die Gründe unseres Glaubens
Philosophie beurtheilt werden müsse, ein Fichte „diese
abenteuerliche Zusammensetzung des gröbsten Dogmatismus und
des entschiedensten Idealismus" Kant schlechterdings nicht zu-
trauen konnte*^). Fichte selbst (um mich hier auf diesen zu
beschränken) machte bekanntlich den Versuch, die ganze objek-
tive Welt, die ganze Erscheinung des „Nichtich", als ein blosses
Erzeugniss des Ich zu begreifen, das sich an derselben durch
seine eigene Thätigkeit eine Schranke setze, um vermittelst dieser
Beschränkung zum Selbstbewusstsein zu gelangen. Dieser sub-
jektive Idealismus bildete dann in der Folge die eine Hälfte der
Sc ho penhau ersehen Metaphysik, welche in den Satz ausläuft,
„die Welt sei nichts als Vorstellung" ; nur dass sich damit, unter
der schwächsten wissenschaftlichen Begründung, die weitere Be-
hauptung verbindet, das Ansich dieser Vorstellungs- und Er-
scheinungswelt sei der Wille, dieser objektivire sich in der Stufen-
reihe der Naturwesen und finde sein höchstes Organ im mensch-
lichen Gehirn , mit dem nun erst die Welt als Vorstellung ent-
stehe; so dass demnach die materfeile Welt zugleich die Be-
dingung und das Erzeugniss der Vorstellung sein solP®). In
den letzten Jahrzehenden hat theils der Einfluss Schopenhauers,
theils das Studium der Kantischen Philosophie, das nicht selten
mit mehr Eifer als selbständigem philosophischem Urtheil betrieben
wird, theils auch die von der neueren Sinnesphysiologie begründete
Ueberzeugung von der Relativität aller unserer Wahrnehmungen
bei vielen jenen Phänomenalismus erzeugt, der auf eine objektive
Erkenntniss der Dinge verzichtet und sich statt dessen mit
einer blossen Beschreibung der Erscheinungen und ihrer
erfahrungsmässigen Verknüpfungen begnügt. An der objektiven
Existenz der Dinge pflegt man desshalb allerdings nicht zu
zweifeln; aber über die Gründe dieses Glaubens scheinen unter
den Freunden dieser Ansicht die meisten sich keine weitere
Rechenschaft abzulegen, diejenigen aber, welche darnach fragen,
sich durchschnittlich bei der Antwort zu beruhigen, dass er zwar
eines eigentlichen und ; strengen Beweises nicht fähig, dass er
uns aber durch unser; Gefühl unmittelbar gewiss sei. Das
gleiche hatten übrigens sÖion die schottischen Philosophen be-
an die Realität der Aussenwelt. 243
hauptet, um sich vor Hume's Zweifeln, Jacobi und Fries, um
sich vor den Folgesätzen der Kantischen Kritik zu retten, nur
dass die letzteren in jenem unmittelbaren Wissen nicht eine
unvollkommenere, sondern eine höhere Art des Erkennens sehen
wollten, als in dem durch Beweisführung vermittelten**); und auf
dasselbe kommt Schopenhauer's Behauptung *®) hinaus ; wenn
jemand alle andern Erscheinungen ausser seinem eigenen In-
dividuum für blosse Phantome hielte, so wäre eine solche Meinung
zwar durch Beweise nimmermehr zu widerlegen, aber als ernstliche
Ueberzeugung könnte sie nur im Tollhause gefunden werden.
Denn auch damit ist, abgesehen von der Kraftsprache des Philo-
sophen, doch nur gesagt: jeder normal beschaffene Mensch sei
zwar von der Eealität der Aussenwelt überzeugt, aber die Gründe
dieser Ueberzeugung können nie die Gestalt einer allgemein
gültigen Beweisführung annehmen.
Vergegenwärtigt man sich nun alle die Erörterungen, welche
diesem Gegenstand seit dritthalbhundert Jahren gewidmet worden
sind, so begreift man, dass eine dem ersten Anscheine nach so
befremdende Frage, wie die nach der Realität der Aussenwelt,
nicht blos aufgeworfen wurde, sondern auch seit ihrem ersten
Auftreten nicht wieder zur Ruhe kam. Denn je genauer man
in die Verhandlungen über sie eingeht, um so deutlicher stellt
sich heraus, dass es sich bei derselben nicht um die Bethätigung
eines mtissigen Scharfsinns, sondern um die wissenschaftliche
Lösung eines Problems handelt, das sich dem Denken zwar
lange verbergen konnte, das aber in unsere ganze Weltansicht,
und zunächst in die erkenntnisstheoretische Grundlage derselben,
viel zu tief eingreift, um so bald wieder von der Tagesordnung
zu verschwinden, nachdem es einmal auf sie gesetzt ist. Was
unsere Wahrnehmung uns liefert, das sind nicht die Dinge selbst
als solche ; — diese unterscheiden wir ja gerade, indem wir sie
als Dinge ausser uns anschauen und bezeichnen, von uns selbst
und unsem Vorstellungen; — sondern unmittelbar liefert sie
uns nur die B i 1 d e r der Dinge, die Vorstellungen, welche als ein
Erzeugniss unserer Vorstellungsthätigkeit keinen anderen Ort
haben, als unser eigenes Bewusstsein, welche für sich genommen
16*
244 lieber die Gründe unseres Glaubens
gar nichts anderes sind als Bewusstseinserscheinungen, Vorgänge
in dem vorstellenden Subjekt. Was berechtigt uns nun, diese
subjektiven Erscheinungen auf Dinge ausser uns, auf Gegenstände
zu beziehen, denen ein eigenes, von unserer Vorstellungsthätigkeit
unabhängiges Dasein zukommt, die nicht blos desshalb existiren,
weü wir sie wahrnehmen, sondern von uns wahrgenommen
werden, weil sie existiren? Diese Frage tritt allerdings erst
dann auf, wenn man das Bedürfhiss empfindet, schlechterdings
nichts ungeprüft anzimehmen, von den Gründen aller seiner Ueber-
zeugungen sich Bechenschaft zu geben. Ehe diese Forderung
mit grundsätzlicher Entschiedenheit anerkannt ist, beruhigt man
sich bei der Thatsache der Wahrnehmung als solcher. Gewisser,
glaubt man, könne man nichts wissen, als das, was den Sinnen
gegenwärtig ist, was man sieht, hört, betastet, mit Einem Wort,
was man wahrnimmt. Aber was heisst: etwas wahrnehmen?
Es heisst : die Vorstellung eines realen Gegenstandes oder Vor-
gangs durch eine Einwirkung erhalten, die man von ihm erfährt;
und diese Einwirkung muss, wenn es sich um die äussere
Wahrnehmung handelt, mit der wir es hier allein zu thun
haben, von körperlichen Gegenständen ausgehen und durch
unsere Sinneswerkzeuge vermittelt sein. Wäre sie diess nicht,
so wäre die Vorstellung, die uns entsteht, entweder ein blosses
Phantasiebild oder eine blos innere, keine äussere Wahr-
nehmung. Wäre dieselbe zwar durch einen Reizungszustand
unserer Sinnesorgane oder unseres Gehirns hervorgerufen,
dieser selbst aber wäre nicht eine Folge von der Einwirkung
äusserer Gegenstände, so läge keine Wahrnehmung vor, sondern
eine Hallucination. Ist es aber dieses, was wir unter einer Wahr-
nehmung verstehen, so liegt am Tage, dass die Erscheinung,
die wir mit diesem Namen bezeichnen, zweierlei in sich begreift:
einmal die Vorstellung, welche uns das Bild gewisser Gegen-
stände, ihrer Eigenschaften und Veränderungen liefert, und so-
dann die Beziehung dieser Vorstellung auf jene Gegenstände als
ihre Ursache, die Ueberzeugung, dass diese Gegenstände von
uns nicht blos erträimit oder erdichtet, sondern wirklich gesehen,
betastet, wahrgenommen worden seien, dass das Bild derselben
an die Realität der Aussenwelt. 245
durch ihre Einwirkung auf unsere Sinne hervorgerufen worden
sei. Dieses beides ist aber offenbar nach Ursprung und Inhalt
verschieden. Das Bild der Dinge als solches erhalten wir da-
durch, dass wir eine Anzahl von Empfindungen unter der Form des
räumlichen Zusammenseins, das Bild der Vorgänge dadurch, dass
wir sie unter der Form der zeitlichen Aufeinanderfolge verknüpfen,
durch eine Thätigkeit der anschauenden Phantasie. Damit uns
dagegen dieses Bild zu einem Gegenstand oder Vorgang ausser
uns werde, ist es nöthig, über die blosse Anschauung hinaus-
zugehen und dieselbe' auf die Einwirkung eines von uns selbst
verschiedenen B-ealen zurückzuführen; und diess ist ein Akt
unseres Denkens. Denn nur unser Denken setzt uns in den
Stand, die Unterscheidung zwischen uns selbst und anderen
Dingen vorzunehmen, durch welche uns zugleich mit der Vor-
stellung des Subjektiven, d. h. zu uns selbst gehörigen, auch die
des Gegenständlichen, von uns selbst verschiedenen, entsteht;
nur das Denken ist es, welches das thatsächlich gegebene durch
die Annahme eines Causalzusammenhangs verknüpft ^*) ; auf der
Voraussetzung eines Causalzusammenhangs beruht aber, wie schon
gezeigt vnirde, jede Beziehung unserer Wahmehmimgen auf
Gegenstände. Ist nun auch das Dasein des Wahmehmungsbildes
in unserem Bewusstsein eine Thatsache, über die wir nicht im
Zweifel sein können, so verhält es sich doch anders mit dem
Dasein der Gegenstände ausser uns, auf die wir unsere Wahr-
nehmungsbilder beziehen. Hier entsteht vielmehr sofort die
Frage nach den Gründen dieser Beziehung. Unmittelbar, in
einer reinen und unbezweifelbaren Erfahrung, sind uns nur
unsere Wahrnehmungen als Bewusstseinserscheinungen gegeben:
wie kommen wir dazu und welches Recht haben wir, diese Er-
scheinungen in uns für einen Beweis oder für eine Folge des
Baseins von Dingen ausser uns zu halten? diess ist kurz gesagt
der Sinn der Frage, die uns beschäftigt.
Diese Frage ist aber damit nicht beantwortet, dass man
sich auf die unmittelbare Gewissheit von dem Dasein ihrer Ob-
jekte beruft, die, wie man glaubt, unseren Wahrnehmungen in-
wohne und jede weitere Beweisführung entbehrlich mache. Denn
246 Ueber die Gründe unseres Glaubens
diese Gewissheit könnte doch, da sie eine unmittelbare sein soll»
nicht aus der Einsicht in die Gründe der Annahme entspringen,
auf welche sie sich bezieht, und nicht in dieser Einsicht bestehen,
sondern nur in einem Gefühl, das uns diese Annahme als noth*
wendig, jede andere als unzulässig erscheinen lässt. Ebendann
besteht aber jede feste Ueberzeugung , auf welchem W^e sie
immer entstanden und wie richtig oder unrichtig sie sein mag;
und auch die vermeintliche Unmittelbarkeit einer Ueberzeugung
macht in dieser Beziehung keinen Unterschied. Sie erscheint uns
als eine unmittelbare, wenn wir uns des Weges, auf dem sie sich
uns gebildet hat, nicht bewusst sind ; und sie scheint uns die Bürg-
schaft ihrer Wahrheit in sich selbst zu tragen, wenn sie uns so fest
steht, dass es uns ganz umnöglich scheint, sie zu bezweifeln. Wie
wenig aber für ihre Wahrheit daraus folgt, lässt sich leicht zeigen.
Denn es gibt keinen Glauben und keinen Aberglauben, dessen An-
hänger sich nicht auf eine solche unmittelbare Gewissheit beriefen,
wenn sie es, wie gewöhnlich, unterlassen, sich von den Gründen
ihrer Ueberzeugung Rechenschaft zu geben. Die Vielheit der
Götter erschien den Griechen gerade so unmittelbar einleuchtend,
als die Einheit Gottes den Juden und Christen ; die Berechtigung
der Sklaverei galt Jahrtausende lang für ebenso selbstverständlich,
wie heutzutage das natürliche E^cht jedes Menschen auf persön-
liche Freiheit ; und wenn die Wahrnehmungen, wie man anninunt,
eine unmittelbare Gewissheit mit sich führen, so haben für den
Schlafenden Traumerscheinungen, für den Wachenden Sinnes-
täuschungen nicht selten einen ebenso unwiderstehlichen Anschein
unmittelbarer und zweifelloser Wahrheit (vgl. S. 233). Warum sollte
es sich nun mit der scheinbaren Evidenz der Wahrnehmungen nicht
ebenso verhalten können? Das Gefühl unbedingter Gewissheit be-
weist nur, dass wir aus irgend welchen subjektiven Gründen an der
Wahrheit einer Annahme nicht zweifeln, dass dieselbe unter den
Umständen, unter denen wir zu ihr gekommen sind, für uns un-
vermeidlich war ; aber es beweist nicht, dass sie für jeden richtig
denkenden Menschen nothwendig, dass sie wahr ist Und ebenso
beweist die vermeintliche Unmittelbarkeit einer Ueberzeugung
nur dieses, dass ihre Gründe und die Art ihrer Entstehung uns
an die Kealität der Aussenwelt. 247
nicht bekannt sind, aber nicht, dass sie uns nicht auf dem gleichen
Wege wie alle andern Bewusstseinserscheinungen entstanden sind,
dass sie sich nicht nach psychologischen Gesetzen unter be-
stimmten Bedingungen gebildet haben. Dann ist es aber auch
die Aufeabe der Wissenschaft, diese Bedingungen aufzusuchen
und die Wahrheit der Annahmen, die sich uns auf diesem Weg
ergeben haben, zu prüfen, und man kann sich dieser Aufgabe
nicht unter dem Vorwand entziehen, dass jene Annahmen un-
mittelbar gewiss seien ; es gilt vielmehr in dieser Beziehung gegen
diejenigen, welche sich dieser Auskunft bedienen, immer noch
Kant's Wort^^): dass es ein Skandal der Philosophie und all-
gemeinen M^nschenvernunft sei, das Dasein der Dinge ausser
uns blos auf Glauben annehmen zu müssen, und wenn es jemand
einfällt, es zu bezweifeln, ihm keinen genugthuenden Beweis
entgegenstellen zu können.
Fragen wir nun zunächst nach der thatsächlichen Ent-
stehung des Glaubens, dass unsem Wahrnehmungen gewisse
ausser uns selbst befindliche Dinge entsprechen, oder was das-
selbe ist : fragen wir, wie es kommt, dass sich uns die von uns
wahrgenommenen Gegenstände nicht als Bilder in uns, sondern
als Gegenstände ausser ims darstellen, so müssen wir, wie
schon oben (S. 244 f.) nachgewiesen worden ist, zunächst zwischen
denjenigen Bestandtheilen unserer Objektsvorstellungen unter-
scheiden, welche aus der Wahrnehmung als solcher, und denen,
welche aus einer zu dieser hinzutretenden Denkthätigkeit ent-
springen. Unsere Sinne liefern uns immittelbar nur einzelne Em-
pfindungen, die sich uns nach gewissen, hier nicht weiter zu ver-
folgenden, Gesetzen räumlich und zeitlich verknüpfen ^^). Aber wie
die Empfindungen als solche nur Vorgänge im Innern des empfin-
denden Subjekts sind, so haben auch die aus ihnen gebildeten
Anschauungen nur in diesem ihren Sitz. Wenn wir dennoch
nicht umhin können, sie auf Dinge ausser uns zu beziehen, und
wenn diese Beziehung sich mit ihnen für unser eigenes Be-
wusstsein so fest verknüpft, dass wir sie von ihnen gar nicht
zu trennen wissen, dass nicht die Bilder der Dinge unserem
Geiste gegenwärtig zu sein scheinen, sondern die Dinge selbst
248 lieber die Gründe unseres Glaubens
unmittelbar, so muss die Veranlassung dazu allerdings in ge-
wissen Eigenschaften liegen, durch welche sich unsere Wahr-
nehraungsbilder von blossen Phantasiebüdem unterscheiden. Jene
entstehen uns unwillkürlich, und dieser Charakter derselben
drängt sich uns namentlich in den Fällen auf, in denen sich
mit ihnen Unlustgefühle verbinden, die wir gerne vermieden
haben würden, wenn diess in unserer Macht läge. Unter den
Phantasiebildem dagegen finden sich zwar auch solche, deren
wir uns schwer oder gar nicht erwehren können, und diese
machen, so lange sie uns so gegenwärtig sind, den Eindruck
wirklicher Wahrnehmungen, wie diess bei den Traumbildern der
Fall ist; aber weit die meisten sind von der Art, dass sie uns
als selbsterzeugte erscheinen, dass wir uns der Absicht, unsere
Gedanken diesem oder jenem Gegenstand zuzuwenden, bewusst
sind, und dass sie verschwinden, wenn wir unsem Gedanken
eine andere Richtung geben oder unsere Aufmerksamkeit gegen-
wärtigen Wahrnehmungen zuwenden. Die Wahmehmungsbilder
haben ferner eine ungleich grössere Festigkeit und Dauerhaftig-
keit als die Phantasiebilder. Die letzteren wechseln und ver-
ändern sich fortwährend ; die Wahmehmungsbilder erhalten sich
theils lange Zeit unverändert, theils wiederholen sie sich nach
einer längeren oder kürzeren Unterbrechung, ohne sich merklich
verändert zu haben, oder nur mit solchen Veränderungen, wie
wir sie in anderen Fällen bei fortdauernder Beobachtung all-
mählich eintreten sahen. Dieses ist z. B. für uns das Haupt-
merkmal für die Unterscheidung der Träume und der WirkHch-
keit. Wenn uns etwas auch noch so lebhaft geträumt hat, in
der Welt unserer wachen Wahrnehmung lässt es keine Spuren
zurück: wenn wir geträumt haben, unser Haus sei abgebrannt,
steht es beim Erwachen wieder vor imseren Augen, wenn wir
gesehen haben, wie es abbrannte, ist es nicht so. Wenn uns endlich
eine Wahmehmimg zu Körperbewegungen veranlasst, durch die wii*
eine Einwirkung auf den wahrgenonunenen Gegenstand ausüben,
so erfahren wir von ihm eine Gegenwirkung, einen Widerstand,
ebendesshalb aber kann er von unserer Thätigkeit ergriffen und
modificirt werden: unsere Einwirkung auf den Gegenstand hat
an die Realität der Aussenwelt. 249
regelmässig eine zwiefache Folge : einerseits die ihr entsprechende
Veränderung des Wahmehmungsbildes, das sich auf ihn bezieht,
andererseits die seiner Gegenwirkung entsprechende Veränderung
unseres Zustandes und der Gefühle, in denen dieser sich zum
Ausdruck bringt. Diejenigen Erscheinungen dagegen, die wir
Phantasiebilder nennen, stellen sich uns nicht als Gegenstand
einer äusseren Einwirkung dar und haben, so weit unsere Be-
obachtung reicht, einen direkten Einfluss nur auf unsere inneren,
nicht auf unsere körperlichen Zustände.
Es wird sich nun annehmen lassen, dass dieselben Eigen-
thtimlichkeiten unserer Wahrnehmungen, an denen wir sie als
die Abbilder realer Gegenstände von blossen Phantasie- und
Traumbildern unterscheiden, auch von Anfang an ihre Beziehung
auf solche Gegenstände veranlasst haben. Aber diese Beziehung
selbst war damit doch noch nicht gegeben. Mag ein Wahr-
nehmungsbild noch so unwiderstehlich und dauernd auftreten,
mag es uns zu noch so vielen Bewegungsreaktionen veranlassen,
und diese von noch so bemerkbaren Veränderungen unseres
eigenen Zustandes und der Gegenstände begleitet sein: jenes
Bild ist doch nur in unserem Bewusstsein vorhanden, und die
Vorstellung, dass ihm ein Gegenstand ausser uns entspreche,
ist in dem Bild als solchem nicht enthalten. Diese Vorstellung
geht über das hinaus, was uns in der Empfindung und der räumlich-
zeitlichen Verknüpfung der Empfindungen gegeben ist; sie be-
hauptet ein bestimmtes Verhältniss desselben zu etwas von ihm
selbst verschiedenem, zu den Dingen, und sie kann desshalb nicht
dur^h die blosse, auf sich beschränkte Wahrnehmung, sondern
nur durch das Denken gefunden worden sein; natürlich aber
durch ein auf die Wahrnehmung bezügliches Denken, ein solches,
durch das wir sie erklären imd ergänzen. Jenes Verhältniss
unserer Wahrnehmungen zu den Dingen, auf dem ihr Unterschied
von blossen Phantasiebildem beruht, besteht nun aber nicht
etwa darin, dass jene den Dingen ähnlich sind; ein Phantasie-
bild kann vielmehr, wenn es ein Erinnerungsbild ist, seinen
Gegenstand ebenso treu darstellen, wie die Wahrnehmung, aus
der es herstammt, und wenn man andererseits annimmt, unsere
250 lieber die Gründe unseres Glaubens
WahmehHiungen haben gar keine Aehnlichkeit mit den Dingen,
auf welche sie sich beziehen, sondern sie seien blosse Zeichen
ihres Daseins und gewisser Beziehungen, in denen sie zu einan-
der* und zu uns stehen, braucht man desshalb den Unterschied
der Wahrnehmungen von denjenigen Vorstellungen nicht auf-
zugeben, die ein Erzeugniss der reproduktiven oder der pro-
duktiven Phantasie sind. Das wesentliche Merkmal, wodurch
sieh jene von diesen unterscheiden, liegt vielmehr darin, dass
die Wahrnehmungen sich auf Dinge beziehen, die uns sinnlich
gegenwärtig sind. Diese ihre Gegenwart können wir aber nur
daran erkennen, dass sie vermittelst unserer Sinne auf uns
einwirken. Wenn wir daher unsere Wahrnehmungen auf Dinge
ausser uns beziehen, so heisst diess : sie scheinen uns durch die
Einwirkung dieser Dinge hervorgerufen zu sein; wir glauben
einen Gegenstand desshalb zu sehen, weil sein Bild unser Auge,
einen Ton desshalb zu vernehmen, weil sein Bild unser Ohr
trifft, unser Glaube an das Dasein der Aussenwelt gründet sich
auf die Einwirkungen, die wir von ihnen zu erfahren glauben.
Dass aber ein Vorgang in uns die Wirkung einer bestimmten
Ursache sei, lässt sich, wie jeder Gausalzusammenhang, nicht
unmittelbar durch die Wahrnehmung als solche, sondern nur
durch das Denken erkennen; und dieses Denken ist näher (wie
schon S. 232. 240 bemerkt wurde) ein Schliessen, denn unter
einem Schluss verstehen wir die Ableitung eines Urtheils aus
anderen^*), und eine solche Ableitung findet tiberall statt, wo
von einer Thatsache zu ihrer Ursache fortgegangen wird: die
Annahme einer bestimmten Ursache oder eines bestinunten
Causalzusammenhangs wird dadurch gewonnen, dass ein uns in
der Erfahrung gegebener Thatbestand unter das aUgemeine Ge-
setz subsumirt wird , vermöge dessen wir für jedes Geschehen
eine entsprechende Ursache voraussetzen, also durch eine Folge-
rung, einen Schluss oder eine Schlussreihe ?^). Werden nun hiebei
die einzelnen Schritte, durch die unser Denken zu seinem Er-
gebniss gelangt ist, von uns selbst deutlich unterschieden, so
ist unser Schliessen ein bewusstes: unsere Schlüsse l^en sich
in die Urtheile, aus denen sie bestehen, in ihre Prämissen und
an die Realität der Aussenwelt 251
ScUussätze auseinander, und in Folge davon kommt uns jedes
dieser Urtheile für sich, als ein eigener Denkakt, zum Bewusst-
sdn^ Aber die gleiche Denkthätigkeit, welche in diesem Fall mit
bewusster Unterscheidung ihrer einzelnen Bestandtheile vollzogen
wird, lässt sich auch ohne diese Unterscheidung vollziehen, und
sie wird ursprünglich, und auch jetzt noch weit in den meisten
Fallen, ohne sie vollzogen. Wie die Menschheit unendlich lange
gesprochen hat, ohne die einzelnen Laute, durch deren Ver-
bindung die Wörter gebildet werden, zu unterscheiden und durch
diese Unterscheidung eine Buchstabenschrift möglich zu machen,
und wie wir alle, so bekannt diese Unterscheidung uns ist, doch
beim Sprechen nicht ausdrücklich auf sie zu reflektiren pflegen,
so geht es auch beim Denken. Man hat unendlich lange Zeit
den vielseitigsten Gebrauch von ihm gemacht, um sich in der
objektiven Welt zurechtzufinden, ehe jemand auf den Gedanken
kam, die Denkthätigkeit selbst zu untersuchen und in ihre Be-
standtheile zu zerlegen; und auch bei ihrem praktischen Gebrauch
richtet sich die Aufinerksamkeit in der Regel viel zu ausschliess-
lich auf die Ergebnisse, die durch d^iselben erreicht werden
sollen, um bei den einzelnen hieftlr erforderlichen Denkakten
zu verweilen. Je geläufiger uns vielmehr eine Verfahrungsweise
ist, je ungehemmter eine Gedankenreihe abläuft, mn so weniger
pflegen die einzelnen Z^yischenglieder zwischen ihrem Ausgangs-
•
punkt und ihrem Ziel uns zum Bewusstsein zu kommen, imi so
leichter gewinnt es den Anschein, als ob dieses mit jenem unmittel-
bar g^eben sei. Erst wenn das Ergebniss uns in Schwierig-
keiten verwickelt, sehen wir uns genöthigt, den Weg, der uns
zu ihm geführt hat, zu prüfen und unsem Gang so zu wieder-
holen, dass wir ihn Schritt für Schritt mit unserem Bewusstsein
begleiten; ähnlich wie wir auf einem Pfade, den wir zu kennen
glauben, ohne vieles Besinnen weiter gehen und auf die Merk-
zeichen des richtigen W^es erst dann ausdrücklich achten, wenn
uns der Zweifel aufsteigt, ob wir nicht auf dem falschen seien.
Man darf daher nicht voraussetzen, dass Denkthätigkeiten, die
uns nicht als solche zum Bewusstsein gekommen sind, auch
nicht stattgefunden haben können; den einleuchtenden Beweis
252 Ueber die Grunde unseres Glaubens
des Gegentheils liefern die zahlreichen Fälle, in denen wir
solehes unmittelbar wahrzunehmen glauben, was theils gar nicht
stattfindet, theils wenigstens nicht Gegenstand der Wahrnehmung
sein kaun^*). Das Bewusstsein ist nicht der Grund unserer
Geistesthätigkeiten, sondern eine unter bestimmten Bedingungen
eintretende Folge derselben. Jeder innere Vorgang nöthigtuns
um so mehr, auf ihn zu achten, und er ruft um so mehr eine
Vorstellung seiner selbst hervor, d. h. er kommt uns um so
deutlicher zum Bewusstsein, je stärker er sich durch seine
Qualität oder seine Intensität von den ihm vorangehenden und
nachfolgenden psychischen Vorgängen unterscheidet; er bleibt
um so vollständiger unter der Schwelle des Bewusstseins, und
verschmilzt mit andern um so mehr zu Einem Bilde, je weniger
er selbst, in Folge seiner Schwäche, unsere Aufmerksamkeit auf
sich zieht, und je mehr die andern durch ihre Stärke sie von ihni
ablenken; auf dem letzteren Grunde beruht es z. B., dass man
sich nach einer heftigen Gemtithsbewegung über das einzelne
des Hergangs, der sich während derselben in dem eigenen Geiste
vollzog, über die Vorstellungen und Motive, unter deren Einfluss
man gehandelt hat, keine genauere Rechenschaft zu geben weiss.
Nicht andei-s verhält es sich auch mit unserer Denkthätigkeit.
Auch sie kommt uns nur theilweise und in sehr verschiedenen
Graden der Deutlichkeit zum Bewusstsein. Will man nun von
Urtheilen, Schlüssen u. s. f. nur da reden , wo diese Denkakte
mit deutlichem Bewusstsein vollzogen werden, so müsste man
andere Bezeichnungen für die zahlreichen Fälle suchen, in
denen wir die uns in der äusseren und inneren Wahrnehmung
gegebenen Stoffe denkend bearbeiten, ohne uns dessen bewusst
zu sein; einfacher und richtiger erscheint es aber, zwischen
einer bewussten und einer unbewussten Bildung von Begriffen
und Urtheilen, bewussten und unbewussten Schlüssen zu unter-
scheiden. Folgen wir nun dieser Ausdrucksweise, so wird ohne
Bedenken zu sagen sein, dass es unbewusste Schlüsse seien,
durch die uns die Vorstellung der Dinge aus den Wahrnehmungen
entsteht und sich mit denselben so fest verknüpft, dass wir beide
für gewöhnlich gar nicht mehr unterscheiden und die Dinge
j
an die Realität der Aussenwelt. 253
solche wahrzunehmen glauben. Denn wenn die Wahrnehmungen
anerkanntermassen nur Voigänge in uns sind , von denen wir
voraussetzen, sie seien durch Gegenstände ausser ims hervor-
gerufen, so lässt sich schlechterdings nicht einsehen, auf welchem
anderen Wege wir zu dieser Voraussetzung gekommen sein
könnten, als durch einen Schluss von der Wirkung auf die Ur-
sache. Wir finden diese Empfindungen und Wahmehmungsbilder
in uns vor, und die Natur unseres Denkens nöthigt uns, nach
ihrer Ursache zu fragen^''). Diese Ursache können wir aber
nicht in uns selbst suchen, weil sich unsere Wahrnehmungen
in ihrem Vorkommen wie in ihrem Inhalt als etwas darstellen,
das von unserer eigenen Thätigkeit nicht abhängt, weil sie
uns nicht blos unwillkürlich entstehen, sondern sich uns oft auch
gewaltsam und gegen unseren Willen aufdrängen und uns Un-
lustgefühle verursachen, die wir vermeiden würden, wenn wir
könnten. Dadurch sind wir genöthigt, die Ursachen unserer
Empfindungen und Wahrnehmungen in Dinge zu verlegen, die
von uns selbst verschieden sind und ein eigenes, von unserer
Vorstellung unabhängiges Dasein haben. Der so gebildete Be-
griff eines Gegenständlichen ausser uns erhält dann seine nähere
Bestimmtheit durch die Empfindungen, die wir von ihm herleiten.
Wir nehmen ebenso viele Dinge an, als sich uns von einander
verschiedene Bilder zeigen ; wir lassen sie einen bestimmten Raum
ausfüllen, weil sie uns das Eindringen in diesen Eaum ver-
wehren; wir schreiben ihnen bestimmte Eigenschaften, Gestalt,
Farbe, Temperatur, Geschmack, Geruch, Klang u. s. f. zu, weil
die Bilder derselben ohne unser eigenes Zuthun von ihnen auf
uns übergegangen zu sein scheinen. Wir betrachten endlich
diese Eigenschaften in dem Fall als ihre constanten und un-
veränderlichen Merkmale, wenn wir sie an einer bestimmten
Stelle im Baume regelmässig auf eine bestimmte Weise ver-
bunden finden. Dieses Bild der Dinge erhalten wir aber nur
nach und nach; es vervollständigt, ändert und berichtigt sich
fortwährend durch die Wahrnehmungen, die wir von ihnen her-
leiten, und namentlich durch die Erfahrungen, die wir bei dem
Versuche machen, auf sie einzuwirken, uns gegen ihre Wirkungen
254 üeber die Grunde unseres Glaubens
ZU schlitzen, oder dieselben für unsere Zwecke zu benutzen.
Und diese ganze Objektivirung unserer Empfindungen erfolgt
ursprOnglidi schon desshalb ganz unbewusst, weil die Wahr-
nehmung der Aussenwelt und die Bildung der auf sie bezüg-
lichen Vorstellungen der Beobachtung unserer eigenen Geistes-
thätigkeiten der Zeit nach um vieles vorangeht. Wir sagen uns
nicht: „ich finde diese Empfindungen in mir vor; diess muss
seinen Grund haben; in mir selbst kann dieser Grund nicht
liegen, also muss ich ihn in Dingen ausser mir suchen, und
wenn diese die Ursachen dieser bestimmten Empfindungen sein
sollen, müssen sie selbst so und so beschaffen sein" u. s. w.; —
wir sagen uns alles diess nicht, sondern wir finden gewisse
Empfindungen und Bilder thatsächlich in ims vor, fühlen
uns so oder so bestimmt, und durch ein in der Natur unseres
Denkens begründetes Gesetz, nicht durch die Vorstellung
dieses Gesetzes in der Form einer Begel oder eines Grund-
satzes, sind wir genöthigt, die Ursache jener Bewusstseins-
erscheinungen zu suchen und sie in der angegebenen Weise zu
bestimmen. Gerade weil dieser Hergang ein so unbewusster,
und weil uns sein Ergebniss mit dieser psychologischen NoÜi-
wendigkeit vorgezeichnet ist, erscheinen uns die Dinge ausser
uns mit allen ihren Eigenschaften als etwas unmittelbar in der
Wahrnehmung als solcher gegebenes, und wir* können uns diesem
Schein thatsächlich auch dann nicht entziehen, wenn wir Um
theoretisch mit vollkommener Deutlichkeit als solchen erkannt
haben. Mag ein Physiolo^och so klar einsehen, dass die Farben-
empfindimgen erst durch die Einwirkung der Lichtstrahlen auf
unsere Netzhaut entstehen, dass daher die Körper, die wir sehen,
zwar die Eigenschaft haben können, gewisse Lichtstrahlen durch-
zulassen oder zu reflektiren, an sich selbst aber nothwendig farblos
sind: beim Gebrauch seiner Augen kann er doch nicht anders, jJs
die Wiese grün und den Himmel blau sehen; und möchte ein
Philosoph noch so fest von der Wahrheit des ßerkeley'schen
Satzes tiberzeugt sein, dass die Körper nur in der Vorstellung
existiren: sie würden sich seinem Gesicht und seinem Tastsinn
trotzdem gerade so gut als raumerfüllende Massen darstellen,
an die Bealität der Aussenwelt. 255
wie uns andern. Aber so gewiss diese Thatsache beweist, dass
diejenige Vorstellung von der Aussenwelt, die jedem Menschen
natürlich und unvermeidlich ist, nicht mit bewusster Reflexion
gebildet wird oder gebildet wurde, so wenig kann sie doch als
Beweis für die Behauptung benützt werden, unser Denken sei
bei ihrer Bildung überhaupt nicht betheiligt. Da diese vielmehr,
wie wir gesehen haben, nur durch den Fortgang von der Wahr-
nehmung zu Gegenständen, die nicht unmittelbar in die Wahr-
nehmung eintreten, und dieser Fortgang nur durch einen Schluss
von der Wirkung auf die Ursache möglich war, wird man
Helmholtz Recht geben müssen, wenn er sie auf unbewusst
vollführte Schlüsse zurückführt 2®); imd wenn dieser Satz ge-
rade unter seinen naturwissenschaftlichen Fachgenossen vielen
zunächst paradox erschien, wird man sich diess nur daraus zu
erklären haben, dass sie mit den philosophischen Untersuchungen
über die vorliegende Frage nicht genauer bekannt waren ^®).
Will man nun die Richtigkeit jenes Schlusses prüfen, so
muss zunächst untersucht werden, ob wir überhaupt ein Recht
haben, unsere Wahrnehmungen von anderen Ursachen herzuleiten
als uns selbst und unserer eigenen Geistesthätigkeit Gegeben
sind sie uns nur in unserem Bewusstsein, als innere Vorgänge,
wir können daher ihren nächsten und unmittelbaren Grund nur
in unserer Vorstellungsthätigkeit suchen. Woher wissen wir nun,
dass diese ihrerseits wieder an weitere, ausser uns selbst liegende
Bedingungen geknüpft ist, dass der entferntere Grund unserer
Wahrnehmungen (denn nur um diesen kann es sich hier handeln)
ausser uns liegt? Warum könnte es sich nicht mit ihnen eben-
so" verhalten, wie mit den Träumen, in denen wir ja gleichfalls
Dinge und Personen wahrzunehmen und mit ihnen zu verkehren
glauben, während sie doch nur Produkte unserer Einbildungskraft
sind ; so dass demnach unser Leben nichts anderes wäre, als ein
Traum ^^)? Die Antwort auf diese Frage lässt sich auf einem
doppelten Wege finden : direkt, indem man untersucht, ob unsere
Wahrnehmungen Merkmale enthalten, durch die wir genöthigt
sind, sie von äusseren Ursachen herzuleiten; indirekt, indem
man diejenigen Ansichten, welche das Recht zu dieser Ableitung
256 Ueber die Gründe unseres Glaubens
bestreiten, auf ihre Haltbarkeit prüft ^^). Ich beginne mit der
letzteren Untersuchung.
Gesetzt, die Annahme einer Aussenwelt beruhte auf einer
ähnlichen Täuschung, wie etwa der Glaube an die Wirklichkeit
der Dinge, die uns im Traum erscheinen, so könnten wir den
Grund dieser Täuschung nur in uns selbst suchen, die Erscheinung
der Aussenwelt nur für ein Erzeugniss unseres eigenen Geistes,
unseres eigenen Ich, erklären. Selbst die Vermuthung, dass diese
Erscheinung durch eine Einwirkung der Gottheit oder irgend
welcher anderen geistigen Wesen in uns hervorgerufen werde, —
an sich selbst, wie wir finden werden, unhaltbar genug — führt sie
ja doch gleichfalls auf eine äussere, von uns selbst verschiedene
Ursache zurück, und nur über die Natur dieser Ursache stellt sie
eine von der gewöhnlichen abweichende Ansicht auf. Es war daher
durchaus folgerichtig, wenn Fichte, nachdem er die Verneinung
der Dinge -an -sich als die Consequenz der Kant'schen Kritik
erkannt hatte, die ganze objektive Welt zu einem blossen Er-
zeugniss des Ich machte und auch den Begriff der Gottheit, des
obersten aller Noumenen, in den der moralischen Weltordnung
auflöste, die ihrerseits nichts anderes als ein Ausdruck für die
Uebereinstimmung des Ich mit sich selbst, für die Gesetzmässig-
keit seiner Entwicklung ist. Wie einseitig jene Consequenz auch
sein mag : dass Fichte den Muth gehabt hat, sie zu ziehen, und
dadurch die Frage, die Kant in Anregung gebracht hatte, klar
und scharf zu stellen, ist sein wesentliches Verdienst.
Seine Antwort auf diese Frage war aber freilich durchaus
unhaltbar, wie sich diess auch sofort an der weiteren Entwicklung
seines Systems, sowohl bei ihm selbst als bei Schelling, gezeigt
hat^^). Wenn man sagt, die Aussenwelt sei nur ein Erzeugniss
des Ich, so kann man unter diesem Ich entweder das selbst-
bewusste Einzelwesen, das „empirische Ich" verstehen, oder das,
was allen einzelnen Ich als ihr gemeinsames Wesen zu Grunde
liegt, das reine oder „absolute" Ich^®). In dem ersteren Fall
müsste der, welcher jene Behauptung aufstellt, nun freilich der
Meinung sein, er selbst sei das einzige reale Wesen, das existire,
denn alle andern wären ja nur in seinem Bewusstseiß vorhanden;
an die Realität der Aussenwelt 257
und diese Vorstellung ist so abenteuerlich, dass man allerdings
zweifeln kann, ob jemals ein veniünftiger Mensch sie ernstlich
gehegt hat. Aber weit entfernt, dass sie, wie Schopenhauer
meint (s. o. S. 243), durch Beweise nicht widerlegt werden kann,
widerlegt sie sich vielmehr durch einige ziemlich einfache Er-
wägungen^*). Denn unter unserem Ich lässt sich auf diesem
Standpunkt, da auch unserem eigenen Leib schon nur eine
ideale Existenz in unserer Vorstellung zukommen soll, nichts
anderes verstehen, als das Subjekt der Thätigkeiten und Zustände,
die unser Selbstbewusstsein uns theils als gegenwärtige theils als
vergangene und Mos noch in der Erinnerung fortdauernde zeigt.
Nun umfasst aber unsere Erinnerung nur einen Zeitraum von
wenigen Jahren und auch diesen nur mit bedeutenden Unter-
brechungen. Diess ist vollkommen begreiflich, wenn wir nur
Theile einer Welt sind, durch deren Einwirkung unser per-
sönliches Dasein hervorgerufen wurde; es ist durchaus uner-
klärlich, wenn unser eigenes Ich das einzige reale Wesen
ist. Denn als solches mtisste dieses von aller Ewigkeit her
existirt haben, ,da es doch unmöglich grundlos aus dem Nichts
entsprungen sein kann; dass aber diese Existenz bis zum Beginn
unseres Selbstbewusstseins eine bewusstlose gewesen sein sollte,
i
um dann erst eine bewusste zu werden, ist eine Vorstellung,
die sich selbst aufhebt, da es nie einen Zeitpunkt gegeben
haben könnte, in dem ein ewiges Wesen den Uebergang vom
bewusstlosen Dasein zum bewussten nicht schon gemacht haben
müsste, wenn es überhaupt in seiner Natur lag, ihn irgend ein-
mal zu machen ^^). Wie ferner unser persönliches Leben hin-
sichtlich seiner Dauer in enge Grenzen eingeschlossen ist, so
ist es diess nicht minder hinsichtlich seines Umfangs. Ich bin
mir meiner als Ich nur bewusst, indem ich mich von anderem,
das nicht zu meinem Ich gehört, unterscheide ; mit diesem Unter-
schied würde auch mein Selbstbewusstsein verschwinden, und
wenn ich den Versuch mache, alles, was sich mir als ein gegen-
ständliches darstellt, in dasselbe mit aufeunehmen, es als einen
Theil meiner selbst zu denken, überzeuge ich mich sofort, dass diess
unnaöglich ist, weil mein Ich in's unbestimmte und unfassbare
Zell er., Vorträge und Abhandl. III. 17
258 Ueber die Grunde unseres Glaubens
zerfiiesst, wenn es nicht mehr gegen ein Nichtich abgegrenzt ist ;
wer sich z. B. im Ernst vorstellen sollte, dass nicht ein Anderer
mit ihm rede , ihm eine Neuigkeit mittheile , seine Ansicht be-
streite u. s. w., sondern dass er selbst alles diess in der Maske
des Anderen thue, dessen würde sich eine solche Verwirrung, ein
solcher Schwindel bemächtigen, dass dieser Zustand, wenn er ha-
bituell würde, in Verrücktheit übergienge. Und mit unserem Selbst-
bewusstsein ist auch unsere individuelle Existenz ohne das Nicht-
ich undenkbar. Das einzelne, empirische Ich findet sich beschränkt
und bedingt durch seinen Leib, und diesen selbst abhängig von
allen den Dingen, die theils fördernd, als Mittel zur Erhaltung
unseres Lebens und zur Ausführung unseres Willens, theils hem-
mend und störend auf unsere Zustände einwirken. Möchte man
nun auch noch so fest überzeugt sein, dass diesen Dingen die
äussere Existenz, in der sie sich uns darstellen, in Wahrheit nicht
zukomme, dass sie nur Erscheinungen eines Geistigen seien, so
ist doch unläugbar, dass sie eine Bedingung unseres Selbst-
bewusstseins und unseres persönlichen Lebens sind, ohne welche
diese gar nicht entstehen und bestehen können, dass sie daher
nicht ihrerseits von demjenigen Ich hervorgebracht sein können,
das d|irch sie erst möglich wird. Wenn man gemeint hat, unser
scheinbar waches Leben könnte möglicherweise auch nichts
anderes sein, als ein folgerichtig verlaufender Traum, und so
unglaublich uns diese Vorstellung scheinen möge, so lasse sie
sich doch wissenschaftlich nicht widerlegen (vgl. Anm. 30), so
hat man sich durch eine halbe Analogie täuschen lassen. Die
Erzeugnisse unserer Phantasie erscheinen uns im Traume nur
desshalb als reale Dinge und Personen, weil wir uns im Wachen
gewöhnt haben, die Bilder, welche sich uns unwillkürlich auf-
drängen, auf Gegenstände ausser uns zu beziehen und diese
Gegenstände von uns selbst zu unterscheiden: dieser Schein
setzt die Entwicklung des Selbstbewusstseins schon voraus. Da-
gegen ist diese ihrerseits, und es ist ebendamit das „•empirische
Ich'*, die Einzelpersönlichkeit, in ihrem Dasein und ihrer Ent-
stehung durch die Objekte, das „Nichtich" bedingt ; diese müssen
ihr daher entweder zeitlich vorangehen, oder sie müssen zugleich
an die Realität der Aussenwelt. 269
mit ihr aus einem Dritten als ihrem gemeinsamen Grund ent-
springen, keinenfalls aber können sie als Erzeugnisse dessen be-
trachtet werden, was selbst erst durch sie möglich gemacht wird.
Will man nun aber jenen gemeinsamen Grund des Subjektiven
und Objektiven gleichfalls ,,Ich*' nennen, indem man ihn als das
reine oder absolute Ich von dem empirischen unterscheidet, so
hat man dazu kein Recht. Das Ich ist uns lediglich in unserem
Selbstbewusstsein gegeben, und hier nur im Unterschied gegen
die Objekte, als durch sie begrenzt und bedingt. Das Wesen,
welches diesem Gegensatz vorangeht und ihn erst hervorbringt,
kann unmöglich mit dem einen Glied desselben identisch. Ich
oder Subjekt sein, sondern es muss sich zu beiden gleich ver-
halten, denn wenn es Ich wäre, hätte es, wie jedes Ich, das
Nichtich zur Voraussetzung, könnte also nicht das ihm voran-
gehende, nicht sein Grund sein. Wenn andererseits das Ich und
das Nichtich aus diesem Grunde mit gleicher Nothwendigkeit
hervorgehen, so haben auch beide die gleiche Realität; und diess
wird nur um so deutlicher, wenn man mit Fichte annimmt, das
Nichtich sei nur desshalb nothwendig, weil das Ich nicht zum
Selbstbewusstsein gelangen konnte, ohne sich an dem Nichtich
eine Schranke zu setzen; denn der Wirkung kann doch nicht
mehr Realität zukommen, als der Bedingung, an die sie geknüpft
ist ; wenn daher das Selbstbewusstsein des Ich durch das Nicht-
ich bedingt ist, so ist dieses ebenso real, wie jenes.
Was sich uns hier auf indirektem Weg ergeben hat, die
Nothwendigkeit, unsere Wahrnehmungen auf Ursachen zurück-
zufllhren, die von uns selbst verschieden und insofern ausser
uns sind^®), das lässt sich auch direkt an der Beschaffenheit
unserer Wahrnehmungen nachweisen. Sind auch nicht alle die
Merkmale entscheidend, deren wir uns in der Regel bedienen,
um die Objektivität unserer Wahrnehmungen und ihren Unter-
schied von blossen Einbildungen festzustellen, so leistet uns doch
ein Theil derselben nicht allein für das tägliche Leben sondern
auch für die wissenschaftliche Untersuchung diesen Dienst. Die
grössere Lebhaftigkeit und Anschaulichkeit, welche die Wahr-
nehmungen vor den blossen Phantasiebildem voraus haben, die
17*
260 üeber die Gröiide unseres GUnbens
Unwiderstehlichkeit ihres Auftretens, durch welche ae uns die
Aneifcenimiig ihrer Objektivität abnöfhig^i, ist schliesslich doch
nur ein Gradunterschied, der einen ganz verschiedenen Uisprung
und Charakter beider um so weniger beweisen könnte, da er
ein durchaus fliessender, durch unbestimmt viele üebergaogs-
formen ausgefUlt ist : im Traum erhalten blosse Phantasiebilder
den Schein der Realität, der sich selbst nach dem Erwachen oft
eine Zeit lang erhält, und wenn wir den Dingen oder unserem
eigenen Thun geringe Aufmerksamkeit schenken, empfangen vir
von beiden so schwache und flüchtige Eindrücke, dass wir nicht
selten erst durch längeres Besinnen darüber in's reine kommen,
ob wir etwas wirklich gesehen, gehört oder gethan, oder ob wir
nur lebhaft daran gedacht haben. Viel mehr beweist die (S. 248
berührte) Dauerhaftigkeit der Wahmehmungsbilder und der auf
ihr beruhende Zusanmienhang der Erfahrung. Unter den Bildern,
welche unsere Vorstellungswelt erfüllen, ist eines, das unseres
Leibes, mit unserem Selbstbewusstsein so verwachsen, dass wir
unser Ich immer nm- in diesem Leibe vorfinden, und alle die
Zustände, in denen er uns erscheint, in Gef&hlen der Lust
und der Unlust als unsere eigenen empfinden. Zu diesem Leibe
scheinen uns femer andere körperliche Gegenstände in einem
solchen Verhältniss zu stehen, dass auf gewisse Vorgänge in
denjenigen Theilen unseres Leibes, die wir unsere Sinnesorgane
nennen, die Wahrnehmung jener Gegenstände, auf den Versuch,
mittelst unseres Leibes auf die letzteren einzuwirken, theils ge-
wisse Veränderungen ihres Zustandes, theils auch solche unseres
eigenen Zustandes folgen, die sich uns als eine Rückwirkung
der Dinge darstellen ; -und dieses ganze Verhältniss ist ein durch-
aus gesetzmässiges und sich gleich bleibendes : die Gegenstände,
die wir wahrzunehmen glauben, zeigen sich uns bei wiederholter
Beobachtung theils unverändert, theils unterliegen sie zwar ge-
wissen Veränderungen, aber diese selbst gehen nach so festen
Gesetzen vor sich, dass unter den gleichen Bedingungen immer
die gleichen Erfolge eintreten. Neben dieser Klasse von Vor-
stellungen gehen aber zwei andere her. Die eine von diesen,
die uns hier nicht weiter angeht, lunfasst diejenigen Vorstellungen,
an die Realität der Aossenwelt 261
yon denen wir uns bewusst sind, dass wir sie selbst gebildet
haben, und von denen wir desshalb nicht annehmen, dass ihnen
Dinge ausser uns entsprechen, wie die allgemeinen Begriffe und
die Erzeugnisse der wissentlich dichtenden Phantasie; die
andere die anscheinenden Wahmehmungsbilder, die aber weder
unter einander noch mit den zuerst besprochenen in einem
solchen Verhältniss stehen, dass sie sich mit ihnen zu einem
nach festen Gesetzen geordneten Ganzen verknüpfen lassen:
die Traumbilder, die Hallucinationen, die auf Sinnestäuschungen
beruhenden Vorstellungen, die Einbildungen der Verrückten. Die
Eigenthtimlichkeit und den Unterschied dieser zwei Arten von
anscheinenden Wahrnehmungen pflegen wir uns nun durch die
Voraussetzung zu erklären, dass eben nur die ersten wirkliche
Wahrnehmungen seien, die andern blosse Einbildungen; d. h.
dass wir einen Leib haben, dass dieser Leib mit andern Körpern
in einem gesetzmässig geordneten Verhältniss gegenseitiger Ein-
wirkung stehe, und dass unsere Wahrnehmungen nach bestimmten
Gesetzen aus der Einwirkung der Aussenwelt auf unsere Sinnes-
organe hervorgehen; während die blossen Einbildungen nicht durch
Einwirkungen dieser Art hervorgerufen, sondern von unserer
Phantasie allein, wenn auch vielleicht unter dem Einfluss körper-
licher Zustände, erzeugt, und nur irrthümlich für Wahrnehmungen
gehalten werden. Diese Annahme stimmt auch mit dem That-
bestand vollkommen überein und macht ihn in jeder Beziehung
verständlich. Wer dagegen behaupten wollte, die sinnlichen
Objekte seien nichts weiter als von ihm selbst erzeugte Bilder,
der würde zu einem seltsamen Erklärungsversuch greifen müssen.
Sein Leben, müsste er annehmen, bestehe in einer doppelten
Reihe von Träumen. Die eine von diesen entwickle sich so folge-
richtig, dass auf jede Erscheinung, die sie ihm vorspiegelt , und
ebenso auf jede Thätigkeit, die er selbst auszuüben glaubt, alle
die weiteren Erscheinungen folgen, die darauf folgen müssten,
wenn jene Erscheinungen imd Thätigkeiten einer nach festen Ge-
setzen geordneten Welt angehörten : dass er also z. B., wenn es
ihm träumt, er habe lange nicht gegessen, das Gefühl des Hungers,
wenn er zu speisen glaubt, das der Sättigung hat, dass er in
262 lieber die Gründe unseres Glaubiens
Folge einer vermeintlichen Verletzung sich an's Bett gefesselt,
ärztlich behandelt, allmählich genesend erscheint, dass die Per-
sonen, die ihm im Traum erscheinen, auf seine Beden und Hand-
lungen genau so reagiren, wie es wirkliche Menschen thun
würden, und er von ihren vermeintlichen Reden und Handlungen
die gleichen Folgen empfindet, die er in der Wirklichkeit von
ihnen empfinden würde. Neben diesen folgerichtig verknüpften
Träumen müsste man aber auf diesem Standpunkt eine zweite
Klasse von Träumen annehmen, die sich bald in längeren bald
in kürzeren Zwischenräumen und bald für längere bald für
kürzere Zeit zwischen jene einschieben, und sich von ihnen da-
durch unterscheiden, dass sie der Regelmässigkeit ermangehi,
durch welche die andern sich auszeichnen. Wenn ich zu einem
von mir wahrgenommenen Gegenstand nach längerer Zeit zu-
lückkehre, finde ich ihn in demselben Zustand, in dem ich ihn
in dem gleichen Zeitpunkt bei imunterbrochener Beobachtung
finden würde; wenn ich eine längere Rpihe erfahrungsmässiger
Thatsachen verfolge, zeigen sie sich alle durch einen unserer
sonstigen Erfahrung entsprechenden Causalzusammenhang ver-
bunden. In unsem Träumen und Phantasiespielen dagegen
reisst dieser Zusammenhang ab : die Erscheinungen reihen sich
lediglich nach dem subjektiven, psychologischen Gesetz der
Ideenassociation an einander; die unmöglichsten, in der Wahr-
nehmung niemals vorkommenden, mit den Gesetzen des objektiven
Geschehens unvereinbarsten Uebergänge und Verknüpfungen
treten ein; wir befinden uns in einer Welt, welche als objektiv
existirend gedacht nicht blos in die von uns wahrgenommene sich
nicht einfügen und sich nicht mit ihr vertragen, sondern auch
an sich selbst das Bild einer vollständigen Regellosigkeit dar-
bieten würde ^^). Woher nun dieser Unterschied der beiden uns
gegebenen Welten, der Erfahrungswelt und der Phantasiewelt,
wenn doch beide gleichsehr und gleich ausschliesslich aus unserem
eigenen Ich als ihrem einzigen Grund entspringen? Auf diese
Frage hat die Theorie, mit der wir uns beschäftigen, keine Ant-
wort: sie bleibt bei der Thatsache stehen, zu ihrer Erklärung
macht sie keinen Versuch. Gerade nur diese Erklärung ist es
an die Realität der Aussenwelt. 263
aber, uni die es sich bei der Frage nach der Realität der Aussen-
welt handelt : die Ursache derjenigen Bewusstseinserscheinungen,
die wir Wahrnehmungen nennen, soll in einer den Thatsachen
entsprechenden Weise bestimmt werden. Die Annahme, dass
dieselben unter äusseren Einwirkungen in uns entstehen, leistet
diess in untadelhafter Weise, die entgegengesetzte, dass sie von
uns allein ohne diese Bedingung hervorgebracht werden, leistet
es in keiner Weise : die Entscheidung zwischen beiden kann nicht
zweifelhaft sein.
Ebenso entscheidend ist aber auch eine weitere Erwägung.
Wenn wir unsere Wahrnehmungen desshalb auf äussere Gegen-
stände beziehen, weil wir uns einer eigenen Thätigkeit, durch
die wir sie erzeugt hätten, nicht bewusst sind, so kann uns
dieses Merkmal zwar im einzelnen Fall irreführen, und es thut
diess wirklich nicht blos in den Träumen, sondern nach eitfer
Seite hin auch bei unsem Wahrnehmungen, sofern es uns ver-
leitet, diese für etwas unmittelbar gegebenes zu halten und die
subjektiven Thätigkeiten, durch die sie zu Stande kommen, zu über-
sehen. Aber trotzdem ist es richtig, dass sie aus unserer eigenen
Thätigkeit allein sich nicht erklären lassen. Denn diese besteht
immer nur in der Bearbeitung eines bestimmten Vorstellungs-
stoffes ; den Inhalt, den sie zu Empfindungen, Anschauungen und
Gedanken verarbeitet, kann sie nicht schöpferisch aus sich er-
zeugen, sondern nur als einen ihr gegebenen aufnehmen. Unsere
Traum- und Phantasiebilder setzen sich aus Elementen zu-
sammen, die uns in unsem Wahrnehmungen gegeben sind ; diese
selbst aber müssten, wenn sie nicht durch äussere Einwirkungen
hervorgerufen würden, nicht blos ihrer Form, sondern auch ihrem
Inhalt nach aus uns selbst entspringen, dieser Inhalt müsste also
vom Anfang unseres Daseins an in uns liegen; eine Annahme,
die zwar in Betreff der Ideen schon Plato aufgestellt, die aber
erst Leibniz (vgl. S. 234 f.) auf unsere Wahmehmimgen aus-
gedehnt hat. Allein dieser Annahme steht einmal der Um-
stand entgegen, dass wir keinen Vorstellungsinhalt anders
als durch unsere Vorstellungsthätigkeit in uns aufnehmen
können ; dass daher ein uns angeborener Vorstellungsinhalt eine
264 lieber die Gründe unseres Glaubens
Vorstellungsthätigfceit voraussetzen würde, die dem Anfang unseres
Daseins vorangienge ; und der einzige Weg, auf dem man sich
dieser Schwierigkeit entziehen könnte, die platonische Annahme
einer peraönlichen Präexistenz unseres Geistes, scheitert ausser
allem andern schon daran, dass wir unmöglich aus jenem früheren
Dasein einen f&r das ganze jetzige ausreichenden Schatz von
Erinnerungen mitbringen könnten, ohne uns doch unserer früheren
Existenz selbst jemals zu erinnern. Wenn femer, zweitens,
angeborene Begriffe desshalb nicht angenommen werden können,
weil wir einerseits von nichts einen Begriff haben, wovon uns
jede Erfahrung fehlt, andererseits alle unsere Begriffe die
Spuren der Erfahrungen, aus denen sie hervorgegangen sind,
deutlich an sich tragen , wenn daher unsere Denkthätigkeit auf
die Bearbeitung gegebener Stoffe beschränkt ist, so gilt das
gleiche von der Wahrnehmung. Auch bei ihr besteht unsere
eigene Thätigkeit nicht in der Hervorbringung eines selbster-
zeugten, sondern in der Aufnahme und Verarbeitung eines uns
gegebenen Inhalts; und werden wir auch die Empfindungen,
aus denen unsere Wahrnehmungen gebildet werden, nicht für
eine einfache Uebertragung körperlicher Bewegungen in die
Seele, sondern für psychische Reaktionen gegen äussere Eeize
zu halten haben ^®), so müssen uns doch immer Eeize von einer
bestimmten Qualität, Stärke und Dauer gegeben sein, wenn uns
gerade diese Empfindungen entstehen sollen. Es zeigt sich
diess am deutlichsten in den Fällen, in denen unsere Wato-
nehmung uns etwas für uns so neues bringt, dass sich die Vor-
stellung desselben aus dem ganzen bisherigen Inhalt unseres
Bewusstseins nicht erklären lässt. Wer die Dinge und Vor-
gänge, die unsere Sinne uns zeigen, ebensogut wie die Traum-
erscheinungen für blosse Geschöpfe unserer Phantasie hielte, der
müsste sich doch die Frage vorlegen, woher diese die Stoffe
genommen haben könnte, aus denen sie jene Geschöpfe bildete;
und da würde er bei einiger Aufinerksamkeit bald finden, dass
unter dem, was wir wahrnehmen, zahllose Dinge sind, die uns nui*
von aussen gegeben, nicht von uns selbst erzeugt sein können.
Wer z. B. mit einer neuen Erfindung, wie das Schiesspulver
an die Realität der Aussenwelt. 265
oder die Buchdruckerkunst oder die Dampfmaschine oder der
elektrische Telegraph, bekannt gemacht wird, dem tritt in diesem
Gegenstand und seinen Wirkungen etwas entgegen, was er nicht
allein nie gesehen hat, sondern was ihm in der Begel zunächst
auch vollkommen unverständlich ist, was ihm so wenig im
Traum wie im Wachen einfallen konnte, weil ihm die Kennt-
nisse fehlten, ohne die es unmöglich war darauf zu kommen.
Wer eine fremde Sprache erlernt, der kann dieses zusammen-
gesetzte System von Lautzeichen, welches ihm bis dahin unbe-
kannt war, unmöglich selbst erfunden und nur geträumt haben,
dass ihm dasselbe von einem Lehrer oder durch Bücher mitge-
theilt werde, denn träumen können wir nur solches, von dem uns
wenigstens die Elemente schon bekannt sind. Wer eine Natur-
erscheinung wahrnimmt, von der er bisher gar keine Ahnung
gehabt hat, wie das Kind, wenn es zum erstenmal ein Gewitter
beobachtet, von dem ist es undenkbar, dass er das Bild dieser
Naturerscheinung selbst erfunden habe. Nicht anders verhält es
sich aber mit allen unsem Wahrnehmungen : jede von ihnen ist
nothwendig irgend einmal zuerst aufgetreten und hat uns bei
diesem ihrem ersten Vorkommen eine Vorstellung geliefert, die
uns neu war und nicht aus uns selbst geschöpft sein konnte ;
nur dass wir bei dem allmählichen Anwachsen unseres Vor-
stellungsvorraths uns nur in den wenigsten Fällen erinnern, wann
und unter welchen Umständen uns etwas zum erstenmal bekannt
geworden ist. Aber auch solche Wahmehmungsbilder, welche
uns nichts absolut neues bringen, beweisen in zahllosen Fällen
durch den Zeitpunkt und die Art ihres Auftretens, dass sie nicht
Erzeugnisse unserer Phantasie sind. Wenn unser Vorstellungs-
verlauf durch Eindrücke, die mit ihm in gar keinem Zusammen-
hang stehen, unterbrochen und gestört wird, wenn jemand z. B.,
während er in eine Rechnung vertieft ist, plötzlich durch einen
Hülferuf oder einen Feuerlärm daraus aufgeschreckt wird, während
er in lebhafter Unterhaltung bei Tische sitzt, plötzlich den Kron-
leuchter von der Decke fallen, oder in Folge eines Erdstosses
Möbel und Wände schwanken sieht, und wenn sein Geisteszustand
von der Art ist, dass wir keinen Grund haben, Halludnationen
266 lieber die Gründe unseres Glaubens
bei ihm vorauszusetzen , so liegt am Tage , dass das , was er
wahrgenommen zu haben glaubt, nicht nach Gesetzen der Ideen-
association aus seiner vorhergehenden Yorstellungsthätigkeit her-
voi^egangen sein kann, sondern sich als etwas neues von aussen
her in denselben eingedrängt hat.
Die bisher besprochenen Merkmale zur Unterscheidung der
Wahrnehmungen von den Einbildungen erhalten nun eine eigen-
thtimliche Anwendung, welche für die Bildung und die Richtig-
keit unserer Weltanschauung von durchgreifender Wichtigkeit
ist , durch die Thätigkeit , zu der unsere Wahrnehmungen uns
veranlassen. Indem wir in der uns umgebenden Welt gewisse
Veränderungen hervorzubringen versuchen, und hiebei von ge-
wissen Voraussetzungen über ihr Dasein und ihre Beschaffenheit
ausgehen, machen wir unausgesetzt, in Millionen von Fällen, die
Probe über die Bichtigkeit der Vorstellungen, die wir uns von
ihr gebildet haben ; wir ergänzen und prüfen die Beobachtungen,
die wir über sie angestellt, und die Schlüsse, die wir aus ihnen
gezogen haben, durch Versuche, die von uns bald absichtlich
bald unabsichtlich, in der Regel für praktische, theilweise aber
auch für wissenschaftliche Zwecke angestellt werden. Diese
Versuche liefern uns nun ein doppeltes Ergebniss. In sehr
vielen Fällen hat unsere Thätigkeit diejenige Veränderung der
äusseren Erscheinungen und ihrer Einwirkung auf unsem eigenen
Zustand zur Folge , die wir von ihr erwartet haben : nachdem
wir eine Stunde gegangen sind, befinden wir uns in einer
anderen Gegend, nachdem wir Nahrung zu uns genommen haben,
fühlen wir uns erquickt, nachdem wir zti unserem Freund in's
Zimmer getreten sind, unterhalten wir uns mit ihm u. s. w.
In anderen Fällen tritt das Gegentheil ein : wir wollen eine be-
stimmte Veränderung in der Aussenwelt, und vermittelst derselben
auch eine solche unseres eigenen Zustandes herbeiführen; aber
das , was wir erwarteten und beabsichtigten, tritt nicht oder in
wesentlich anderer Art ein, und unerwartetes drängt sich unserer
Wahrnehmung und unserem Gefühl auf. Wer nun entschlossen
wäre, die Realität der Aussenwelt unter allen Umständen zu
läugnen, der mtisste sich die Erfahrungen der ersten Klasse
an die Realität der Aassenwelt. 267
mittelst der Annahme zurechtlegen, dass die unserer Erwartung
entsprechenden Erscheinungen nur durch diese Erwartung selbst
hervorgerufen werden. Wir glauben uns, müsste er sagen, in
einer anderen Gegend zu befinden, weil wir glauben, wir seien
eine Stunde weit gegangen, und wir glauben dieses, weil wir
die Absicht hatten, so weit zu gehen ; wir glauben uns satt ge-
gessen zu haben, weil wir uns satt essen wollten. Allein diese
Behauptung würde nicht allein (wie schon S. 261 f. gezeigt ist)
den thatsächlichen Unterschied der Wahmehnmngen von den
Phantasiebildem , des wachen Lebens von dem Traumleben, zu
einem unerklärlichen ßäthsel machen, sondern sie würde auch
die Frage nicht beantworten können, wesshalb denn eine schein-
bar auf äussere Objekte gerichtete Thätigkeit nöthig wäre, um
gewisse Veränderungen in den Bewusstseinserseheinungen herbei-
zuführen, wenn es solche Objekte in Wahrheit gar nicht gibt.
Wie kann ich Hunger empfinden und wie diesen Hunger durch
Essen zu stillen glauben, wenn ich keinen Leib habe und wenn
es keine Nahrungsmittel gibt, die ich ihm zuführen könnte?
Warum lässt nicht das einzige reale Wesen, das Ich, jenes
unangenehme Gefühl unmittelbar verschwinden? wozu der un-
nöthige Umweg? Und ebenso in allen andern gleichartigen
Fällen. Man wird auf. diese Fragen keine andere Antwort finden
können, als die Fichte's, dass dem Ich die Erscheinung der
Aussenwelt und seiner Wechselwirkung mit derselben als Be-
dingung seines eigenen Selbstbewusstseins unentbehrlich sei.
Aber von dieser Antwort haben wir schon S. 256 flf. gesehen,
dass sie uns, folgerichtig zu Ende gedacht, nöthigt, dem Nichtich
die gleiche Realität zuzugestehen, wie dem Ich, dass sie die
Selbstwiderlegung dieses ganzen subjektiven Idealismus in ihrem
Schosse trägt. Noch unmittelbarer widerlegen ihn aber die
Fälle, in welchen unsere Einwirkung auf die Aussenwelt Er-
scheinungen herbeiführt, die wir von ihr nicht erwartet, von
denen wir vielleicht nicht die geringste Vorstellung gehabt hatten.
Denn in diesen Fällen ist die oben besprochene Auskunft , dass
das später erlebte nur eine Folge der vorangegangenen Er-
wartung sei, ausgeschlossen. Wenn das Kind nach dem Licht
268 lieber die Gründe unseres Glaubens
greift und sich die Finger verbrennt, lässt sich diess nicht aus
seiner Vorstellung über die Folgen seines Thuns erklären, denn
es hat diese Vorstellung nicht gehabt; wenn Berthold Schwarz,
wie erzählt wird, bei einem chemischen Versuch durch die Ex-
plosion des Schiesspulvers überrascht wurde, das er verfertigt
Jiatte , ohne es zu wissen , so war diess ein Ereigniss, das ihm
selbst im Traume nicht hätte einfallen können. Wie das Neue
in unseren Wahrnehmungen uns den Beweis liefert, dass sie
nicht unsere freie Schöpfung sind, so beweisen uns die un-
erwarteten und nicht vorherzusehenden Erfolge imserer Hand-
lungen, dass wir es bei denselben mit realen, von unsem Vor-
stellungen unabhängigen Dingen zu thun haben.
Es könnte tiberflüssig und pedantisch erscheinen, so um-
ständlich zu beweisen, was im Grunde niemand ernstlich be-
zweifelt. Allein so lange es noch Philosophen gibt, die der
Meinung sind , eine Ueberzeugung von so durchgreifender Be-
deutung sei nicht mehr als eine Voraussetzung, deren Gewissheit
sich nicht über die eines Glaubensartikels erheben lasse, wird
es auch nöthig sein, diese Meinung zu widerlegen; so lange
man noch Behauptungen zu hören bekommt, wie die, dass die
Welt ausser uns eben auch nur aus Vorstellungen bestehe, dass
wir doch nie über unser eigenes Bewusstsein hinauskommen
u. s. w. , wird es auch am Platze sein, daran zu erinnern, wie
oberflächlich es ist, wenn man sich mit so unklaren Allgemein-
heiten begnügt, statt durch eine genaue Untersuchung unserer
Vorstellungen festzustellen, ob und wie sie zu ihren Objekten
führen können. Aber auch an sich selbst ist es eine Aufgabe,
an welcher die Erkenntnisstheorie nicht vorbeigehen darf, fest-
zustellen, wie wir dazu kommen und welches Recht wir haben,
einen Theil unserer Vorstellungen auf äussere Objekte zu be-
ziehen; und ohne die befriedigende Beantwortung dieser Frage
ist auch die aller andern, die mit ihr im Zusammenhang stehen,
nicht möglich. Denn um uns auf Grund der Erfahrung eine
bestimmte Weltansicht bilden zu können, müssen wir selbst-
verständlich vor allem wissen, ob es überhaupt eine ausser uns
für sich bestehende Welt gibt ; und um das Verfahren festzustellen,
an die Realität der Aussenwelt. 269
durch das wir zu richtigen Vorstellungen von der Beschaffenheit
dieser Welt kommen können, müssen wir uns deutlich machen,
auf welchem Wege sich zunächst ihr Dasein darthun lässt. Wird
uns dieses nur dadurch gewiss, dass wir in ihr die unerlässliche
Bedingung unserer Wahrnehmungen erkennen, so folgt, dass
auch jede weitere Bestimmung über die Beschaffenheit der Dinge
nur auf demselben Wege gefunden werden kann: alle unsere
Vorstellungen über die Welt ausser uns sind Hypothesen, welche
wir aufistellen, um uns diejenigen Bewusstseinserscheinungen zu
erklären, die wir nicht als blos subjektive Vorgänge zu begreifen
wissen, und alle die Untersuchungen, auf denen unsere wissen-
schaftliche Weltansicht beruht, führen sich auf die Frage zurück,
welche objektive Ursachen das Weltbild voraussetzt, das unsere
Wahrnehmungen uns zeigen^®).
So weit wir nun bis jetzt sind, hat unsere Erörterung erst
das allgemeine Ergebniss geliefert, dass unsere Wahrnehmungen
durch irgend welche von uns selbst verschiedene Ursachen be-
dingt seien. Berkeley war nun der Meinung, alle diese Ur-r
Sachen seien auf eine einzige, auf die Gottheit zurückzuführen:
sie rufe durch ihre Einwirkungen in unserem Geiste diejenigen
Bilder hervor, welche durch die Unwiderstehlichkeit und die
Regelmässigkeit ihres Auftretens den Eindruck realer Gegenstände
auf uns machen (vgl. S. 236 f.). Allein diese, nur aus dem
metaphysischen Standpunkt ihres Urhebers erklärbare, Hypothese
liegt nicht allein der natürlichen Betrachtung der Dinge durch-?
aus ferne, da nichts uns berechtigt, den unmittelbaren Grund
der zahllosen und so verschiedenartigen Eindrücke, die wir er-
fahren, in einem und demselben Wesen, den Grund der WahrT
nehmungen, die uns das Bild körperlicher Dinge liefern, in
einem immateriellen Wesen zu suchen; sondern jene Hypothese
widerlegt sich auch sofort durch den Umstand , dass die Er-
scheinungen, welche Berkeley für Wirkungen einer unendlichen
Kraft hält, sich durchaus nur als Wirkungen endlicher Kräfte
zeigen, die durch unsere Gegenwirkung verändert, beschränkt,
unter Umständen ganz aufgehoben werden können. Die sinuT
Heben Eindrücke, sagt Berkeley, drängen sich uns mit so
270 Ueber die Gründe unseres Glaubens
unwiderstehlicher Gewalt auf, dass wir sie nur von einer all-
mächtigen Ursache herleiten können. Allein jene Voraussetzung
ist nicht richtig. So lange ich bei ausreichender Beleuchtung
auf einen Gegenstand Unblicke, kann ich freilich nicht anders
als ihn sehen; aber wenn ich ihm den Rücken wende oder die
Augen schliesse, sehe ich ihn nicht mehr. So lange ich einen
Körper berühre, empfinde ich den Druck, der von seinem Wider-
stand herrührt; wenn ich meine Hand zurückziehe, hört diese
Empfindung auf. Wenn unsere Empfindungen und Wahr-
nehmungen nichts anderes wären, als Einwirkungen des göttlichen
Geistes auf den unsrigen, wäre diess unmöglich: diese Ein-
wirkungen bedürften ja nicht allein keiner materiellen Ver-
mittlung, sondern nach Berkeley wäre eine solche sogar un-
möglich, und ihnen könnten wir uns durch keine in unserer
eigenen Macht liegende Thätigkeit entziehen. Eben so wenig
könnten wir sie auch durch eine solche ii^endwie modificiren.
Und doch thun wir diess hinsichtlich der Erscheinungen, die
unsere Sinne uns zeigen, unaufhörlich. Wir glauben fortwährend
unsem Körper zu bewegen und mittelst desselben auf die uns
umgebende Welt einzuwirken, imd wir machen die Erfahrung,
dass auf gewisse von uns beabsichtigte, und wie wir an-
nehmen auch ausgeführte, Thätigkeiten die ihnen entsprechenden
Veränderungen in der Aussen weit mit einer .Regelmässigkeit
folgen, welche uns nöthigt, sie für Wirkungen unserer Thätigkeit
zu halten. Wenn wir ein Licht anzünden, zeigt sich das Zimmer
erleuchtet; wenn wir schreiben, erscheinen die- Zeichen, die wir
zu Papier bringen wollten, vor unsem Augen *, wenn wir mit
jemand sprechen, beantwortet er unsere Fragen. Auf Berkeley's
Standpunkt müsste man sich diess so erklären, dass man sagte :
durch unsere Absicht zur Ausübung einer Thätigkeit werde die
Gottheit veranlasst, einestheils in unserem Geiste das Bild der
Erscheinungen hervorzurufen, die sie in der Körperwelt hervor-
bringen würde, wenn es eine Körperwelt gäbe und wenn wir
selbst einen Leib hätten, durch den wir auf sie wirken könnten,
andemtheils aber auch in andern Geistern (solche nimmt Berkeley
ja an) da, wo wir auf sie zu wirken glauben, das Bild der
an die Realität der Aossenwelt 271
Erscheinungen, die sieh für sie aus unserer Einwirkung ergeben
würden, und dann wieder in uns das BUd derjenigen, welche
eintreten würden, wenn sie auf unsere Einwirkung reagirten,
unsere Fragen beantworteten u. s. w. Es ist indessen leicht zu
sehen, dass man sich mit dieser Erklärung auf Schritt und Tritt
in den Widerspruch verwickeln würde, die Wirksamkeit des
allmächtigen Willens in den Dienst des menschlichen Willens zu
ziehen, der durch sein Thun die Gottheit nöthigte, den endlichen
Geistern fortwährend Erscheinungen vorzuspiegeln, durch die sie
getäuscht und irregeführt würden; und es ist kaum nöthig, sich
die Ungereimtheiten weiter auszimialen, in die man geriethe,
wenn man irgend einen verwickeiteren Vorgang, wie eine Theater-
vorstellung, eine Schlacht u. s. w., oder wenn man unsittliche
und verbrecherische Handlungen, unter denen andere leiden,
auf diesem Wege zu erklären versuchte. Aber Berkeley's Theorie
lässt keinen anderen übrig; wie man ja immer in Schwierig-
keiten aller Art geräth, wenn man einer unerwiesenen dogma-
tischen Voraussetzung zidiebe die natürliche Erklärung des
thatsächlich gegebenen durch eine erkünstelte zu ersetzen ver-
sucht.
Sind wir aber auch genöthigt, unsere Wahrnehmungen von
Dingen herzuleiten, die auf unsere Sinne einwirken und anderer-
seits auch von ims Einwirkungen erfahren, so würde daraus noch
nicht unmittelbar folgen, dass diese Dinge einen Raum ein-
nehmen und räumlich ausser uns sind. Kant's Behauptung aller-
dings, dass sie diess nicht sein können, wenn der Raum eine
apriorische Anschauungsform ist, war tibereilt, da durchaus nicht
abzusehen ist, wesshalb solche Bedingungen des äusseren Daseins,
die für uns selbst ebensowohl, wie für die Dinge ausser uns
gelten, in den apriorischen Gesetzen unserer Vorstellungsthätigkeit
nicht sollten zum Ausdruck kommen können; wesshalb daher
die letzteren nicht die gleiche objektive Geltung haben könnten,
welche man, trotz Kant's Einsprache, denjenigen Gesetzen zu-
gestehen muss, nach denen wir uns in unserem Denken bei der
Bildung unserer Vorstellungen über die Zeit und die Zahl rich-
ten*^). Ebensowenig beweist die erste von Kant's kosmologischen
272 Ueber die Gründe imseres Glanbois
Antmomieen. Denn wenn Kant hier zu zeigen sucht, dass die
räumliche Unendlichkeit und die räumliche Begrenztheit der
Welt gleich undenkbar seien, so beweist er doch das erste
nur mit der Erwägung, dass wir die Grösse der Welt nur durch
die Summirung aller ihrer Theile uns zur Vorstellung bringen
können, eine unendliche Grösse nur durch die Summirung unend-»
lieh vieler Theile, diese aber, eben w^en der unendlichen Zahl
jener Theile, sich nie vollenden, mithin überhaupt nicht ausführen
lasse; das andere aber beweist er daraus, dass die Welt, wenn
«de begrenzt wäre, durch den leeren Baum begrenzt sein, und
somit zu etwas, das kein Gegenstand ist, in einem Yerhältniss
stehen müsste. Allein weder der eine noch der andere von
diesen Beweisen ist bündig. Die Welt könnte immerhin eine
unendliche Ausdehnung und daher auch unendlich viele Theile
haben, wenn wir auch nicht im Stande sind, sie zu zählen ; man
kann daher nicht schliessen: weil wir kein Unendliches durch
successive Summirung seiner Theile zu constmiren vermögen,
könne ein solches auch nicht existiren*^). Ebensowenig kann
man aber andererseits behaupten : wenn die Welt begrenzt wäre,
müsste sie durch den leeren Raum begrenzt sein. Diess ergibt
sich vielmehr nur dann, wenn man sich unter dem Raum etwas
für sich bestehendes, den Körpern seinem Dasein nach voran-
gehendes, gleichsam ein Gefass vorstellt, das entweder leer oder
voll sein könne , also nur unter der Voraussetzung eines be-
stimmten Raumbegriffs; sieht man dagegen in dem Räume nur
etwas aus der Natur und dem gegenseitigen Verhältniss der
Körper sich ergebendes, so kann es überhaupt keinen von diesem
Verhältniss unabhängigen Raum geben; man kann sich daher
die Welt begrenzt denken, ohne desshalb anzunehmen, dass sie
von einem leeren Raum begrenzt sei, denn sie hätte keinen leeren
Raum, sondern gar nichts ausser sich, es wäre, mit anderen
Worten, der Gegensatz des Innen und Aussen gar nicht auf sie
anwendbar, da dieser schon einen Raum ausser ihr voraussetzt.
Damit ist nun freilich noch nicht erwiesen, dass unsere
Wahrnehmungen sich wirklich auf raumerfüllende Gegenstände,
auf eine Körperwelt beziehen; noch weniger natürlich, dass die
an die Bealität der Aussenwelt 278
Bamnerfüllung dasjenige Merkmal dieser Gegenstände ist, welches
ihr eigentliches Wesen und den Grund aller ihrer weiteren
Eigenschafken enthält. Wie wir vielmehr nur durch Causalitäts-
sehlüsse von den Bewusstseinserscheinungen, die uns allein un-
mittelbar gegeben sind, zu ausser uns befindlichen und von uns
selbst verschiedenen Gegenständen gelangen können, so lassen
sich auch alle näheren Bestimmungen über die Beschaffenheit
dieser Gegenstände nur auf diesem Weg finden. Dass die Aussen-
welt ims als eine Körperwelt erscheint, ist eine Thatsache
unseres Selbstbewusstseins ; dass sie es auch ist, eine Annahme,
die wir aus dieser Thatsache ableiten*^). Wir schenken dieser
Annahme Glauben, weil in unserer Erfahrung nicht allein nichts
vorkommt, was sich mit ihr nicht vereinigen liesse, sondern
weil es auch ohne sie ganz unerklärlich wäre, dass alle die Er-
wartungen und Berechnimgen über die äusseren Vorgänge, welche
von ihr ausgehen, durch die Erfahrung bestätigt werden, alle
die Einwirkungen, die wir auf dieselbe in der Voraussetzung
ihrer Körperlichkeit ausüben, den von uns erwarteten Erfolg
haben. Dass es sich ebenso verhalten könnte, wenn die Dinge,
welche uns als Körper erscheinen, in Wirklichkeit keinen Raum
einnähmen, ist höchst unwahrscheinlich. Wenn sich eine Hypo-
these in zahllosen Fällen bewährt und durch keinen widerlegt
wird, müssen wir sie als erwiesen betrachten. Eben diess ist
aber hier der Fall; und man kann es auch nicht etwa daraus
erklären, dass uns nur desshalb nie eine unsem Raum-
vorstellungen widersprechende Anschauung gegeben werden
könne, weil eben alle unsere äusseren Anschauungen an die-
selben gebunden seien. Denn sie sind diess auch nach Kant's
Voraussetzung nur ihrer Form nach; ihren Inhalt dagegen er-
halten sie durch die Einwirkung der Dinge. Dass also z. B.
alle Körper einen Raum einnehmen, wäre eine Folge unserer
Raumanschauung; dass sie dagegen hinsichtlich ihrer Grösse,
ihrer Gestalt, ihrer Dichtigkeit u. s. w. sich unterscheiden, rührte
nicht von ihr, sondern von der objektiven Beschaffenheit der
Dinge her. Wenn nun unsere Raumanschauung der letzteren
nicht entspräche, wie wäre es denkbar, dass beide in keinem
Zell er, Vorträge und Abhandl. 111. 28
274 lieber die Gründe unseres Glaubens
von den zahllosen Fällen, mit denen wir es zu thun haben, in
Widerstreit kämen? wie sollten wir es uns erklären, dass der
uns grösser erscheinende Körper bei gleicher Dichtigkeit immer
auch schwerer ist, dass die Krystalle in den Formen anschiessen,
welche die Geometrie construirt, dass die Anziehungskraft der
Körper und die Lichtstärke im umgekehrten Yerhältniss des
Quadrats der Entfernung abnehmen u. s. w. ; dass mit Einem Wort
das physikalische Verhalten der Körper ausnahmslos mit den Ge-
setzen übereinstimmt, welche wir erst, wie man annimmt, nach
subjektiver Anschauimg in die Welt hineintragen? Durch die
Objektivität des Raumes ist femer auch die der Bewegung bedingt ;
wer den Raum für eine blos subjektive Anschauungsform hält,
der müsste behaupten, alle die Vorgänge, welche sich uns als
Ortsveränderung darstellen, seien in Wahrheit solche Ver-
änderungen in dem Verhältniss der realen Wesen, die an sich
selbst mit dem Raum gar nichts zu thun haben, und nur durch
das trübende Medium unserer menschlichen Anschauungsformen
betrachtet als Aenderungen ihres Orts oder ihrer Lage erscheinen.
Worin dann freilich jenes reale Geschehen bestehe, diess, müsste
man sagen , sei uns gänzlich unbekannt ; nur das lasse sich aus
der ausnahmslosen Gesetzmässigkeit des anscheinenden Naturlaufs
schliessen, dass auch der wirkliche Naturlauf, die Gesammtheit
der Veränderungen, welche den objektiven Inhalt der Bewegungs-
erscheinungen bilden, einer gleich unverbrüchlichen Gesetzmässig-
keit folge. Allein das, was man auf diesem Standpunkt zu der
Form rechnen müsste, unter der wir das reale Geschehen auffassen,
ist für dieses selbst nicht so gleichgültig, dass wir von ihm absehen
könnten. Es verhält sich in dieser Beziehung mit der Bewegung
nicht wie mit denjenigen Eigenschaften der Dinge, welche den
Gegenstand der unmittelbaren sinnlichen Empfindung bilden,
beispielsweise der Farbe. Bei dieser sind es gerade die optischen
Erscheinungen selbst, die es uns unmöglich machen, sie für eine
objektive Eigenschaft der Körper als solcher zu halten ; bestimmte
physikalische und physiologische Thatsachen nöthigen uns zu
untersuchen und zu unterscheiden, was die beleuchteten Körper,
was die Lichtstrahlen, und was unsere Sehwerkzeuge zur Ent-
an die Bealität der Aossenwelt. 275
stehiing der Farbenempfindungen beitragen : der falsche Schluss,
den wir anfangs gemacht haben, indem wir eine subjektive
Erscheinung auf die Objekte tibertrugen, wird auf Grund einer
vollständigeren und genaueren Beobachtung berichtigt. Der An-
nahme dagegen, dass die Bewegung den Dingen selbst zukomme,
steht nicht allein keine Thatsache im Weg, sondern der ganze
Naturlauf wtirde ftlr uns ohne dieselbe zu einem unlösbaren
Räthsel. Wir könnten uns schlechterdings keine Vorstellung
von den Vorgängen bilden, welche sich uns, unter der Form
des Raumes aufgefasst, als Bewegungen darstellten, welche diess
aber an sich selbst unmöglich sein könnten, wenn der Raum
eine subjektive Anschauungsform ist, die blos filr die Erscheinung,
nicht für die wirkliche Welt, gilt. Wir könnten uns aber auch
nicht erklären, wie jene Vorgänge sich in der Erscheinung den
Bewegungsgesetzen, die doch nur für Dinge im Räume gelten,
so vollkommen anbequemen könnten, dass niemals ein Zwie-
spalt zwischen beiden zum Vorschein käme; wie z. B. die Ver-
änderungen, welche in dem Verhältniss der beiden Dinge - an - sich
eintreten, deren Erscheinung wir Sonne und Erde nennen, mit
den durch die Kepler'schen Gesetze geforderten räumlichen Be-
wegungen, die Veränderungen ansichseiender Dinge, welche sich
uns als der freie Fall irdischer Körper, als Pendelschwingungen
u. s. f. darstellen, mit den Galilei'schen Fallgesetzen sich ohne
jeden Rest und jede Störung decken könnten. Und das gleiche
gilt von allen den zahllosen Erscheinungen, weicht uns die
Naturwissenschaft als mechanische Bewegungen auffassen lehrt.
Mit der Objektivität des Raumes würde man jede Möglichkeit
ihrer Erklärung aufgeben, zugleich aber auch die thatsächlich
vorliegende Gesetzmässigkeit ihres Eintretens und ihres Verlaufs
unmöglich machen. Denn wenn die wirklichen Vorgänge sich
nach Gesetzen richten, die uns unbekannt sind, und unsere
Auffassung derselben nach Gesetzen, die als apriorische Be-
dingungen imseres Vorstellens von jenen Vorgängen nicht
abstrahirt sind, imd als blos subjektive Vorstellungsgesetze auch
in keinem ursprünglichen Einklang mit ihnen stehen, so lasst
sich nicht einsehen, wie es möglich sein sollte, dass unsere Auf-
18*
276 Ueber die Grande unseres Glaubens
fasßung derselben mit dem wirklichen Geschehen nicht jeden
Augenblick in Streit käme, und in Folge davon auch das schein-
bare Geschehen statt der Ordnung, der es gehorcht, die grösste
Unregelmässigkeit zeigte. Eine wissenschaftlich durchfuhrbare
Erklärung der Erscheinungen ist nur unter der Voraussetzung
möglich, dass die Begriffe des Raumes, der Materie und der
Bewegung etwas Reales und nicht blos Erscheinungen bezeichnen,
die sich aus einer subjektiven, der wirklichen Beschaffenheit
der Dinge nicht entsprechenden Anschauung ergeben.
Eine andere Frage ist es, ob der Raum, die Materie, die Be-
wegung etwas ursprüngliches oder etwas abgeleitetes, obsieletzte^
auf nichts anderes zurtickführbare Realitäten oder Erzeugnisse
tiefer liegender, unserer Wahrnehmung als solcher unzugänglicher
Ursachen sind ; und diese Frage aufzuwerfen, haben wir vielfache
Veranlassung. Denn wenn auch die Vorstellung, als ob die
Körperwelt als solche in irgend einem Zeitpunkt entstanden sei,
unbedingt abzulehnen ist (hierüber vgl. S. 13 ff.), so verhält
es sich doch anders mit der Annahme, sie sei die blosse Er-
scheinung von Kräften, welche an sich selbst immateriell erst
in ihrem Zusammensein die raumerfüllende Masse und mit ihr
auch den Raum selbst hervorbringen. Schon die Betrachtung
der Körper als solcher führt uns, wie in den letzten Jahrzehenden
namentlich Fechner und Lotze gezeigt haben *^), dazu, die aus-
gedehnte Materie als ein System unausgedehnter Wesen zu
fassen, wÄche durch ihre Kräfte sich ihre gegenseitige Lage im
Räume vorzeichnen, und die Erscheinung der Undurchdringlich-
keit und der stetigen Raumerfüllung dadurch hervorbringen, dass
sie der Verschiebung unter einander wie dem Eindringen eines
Fremden Widerstand leisten**). Denn nur diese immateriellen
Atome sind wirklich einfachste Elemente, während jedes körper-
liche Atom aus Theilen zusammengesetzt ist, deren Zusanamenhang
und Verhältniss ebensogut, wie das der grösseren Massen, eine
Erklärung fordern würde ; und wenn die gewöhnliche Vorstellungs-
weise in der Raumerfüllung, welche das unterscheidende Merk-
mal des Körperlichen ausmacht, etwas ursprüngliches und keiner
weiteren Ableitung bedürftiges sieht, so beruht diese theils auf der
an die Realität der Aassenwelt 277
Undurchdringlichkeit der Körper theils auf dem Zusammenhang
ihrer Theile; aber jene ist, wie schon längst bemerkt wurde*®),
nur eine Folge der Widerstandskraft, mit der jeder Körper jedem
andern den Eintritt in seinen Raum verwehrt, dieser nur eine
Folge der Anziehung, die alle Theile der Materie nach be-
stimmten Gesetzen verknüpft. Ist aber die Raumerfiillung etwas
abgeleitetes, so können die letzten Bestandtheile der Körper
nur unräumliche Wesen sein. Zu derselben Annahme kommen
wir aber auch noch von einer anderen Seite. Die Frage, wie
die Seele als immaterielles Wesen mit ihrem Leib in einem Ver-
hältniss gegenseitiger Einwirkung stehen könne, war für die
Cartesianer (s. o. S. 230 ff.), und ist heute noch flir die meisten
nur desshalb so schwierig, weil sie die absolute Verschiedenheit
des materiellen und des immateriellen Seins voraussetzen; denn
es lässt sich allerdings nicht absehen, wie Dinge, die gar nichts
mit einander gemein haben, nach bestimmten Gesetzen auf ein-
ander einwirken, die Vorgänge in dem einen solche in dem
andern hervorrufen, die Zustände des einen durch solche des
andern bedingt sein könnten*®). Dieses Bedenken dadurch zu
beseitigen, dass das Subjekt der Bewusstseinserscheinungen zu
etwas körperlichem gemacht wird, verbietet uns die Einheit des
Selbstbewusstseins *'^). Es zeigt sich mithin nur der entgegen-
gesetzte Weg zur Erklärung jener Thatsache, die für unser
ganzes Leben von so fundamentaler Bedeutung ist; denn die
direkte Wechselwirkung von Seele und Leib durch das System
der gelegenheitlichen Ursachen oder der prästabilirten Harmonie
(S. 23L 234) zu ersetzen, wird sich heutzutage kaum noch je-
mand entschliessen. Wenn die Raumerfüllimg und die raum-
erfüllende Masse erst aus den Beziehungen der einfachen Wesen
entspringt, so hat es nicht die geringste Schwierigkeit, solche
Beziehungen auch zwischen der Seele und demjenigen System ein-
facher Wesen anzunehmen, das ihr nächstes körperliches Organ
bildet. Die Seele bleibt in diesem Verhältniss, wie jedes von den
übrigen einfachen Wesen, an sich selbst raumlos, und die Vor-
gänge in ihrem Innern sind von allen mechanischen Bewegungen
der Art nach verschieden. Aber durch das Zusammentreten
278 üeber die Gründe unsereB Glaubens
vieler einfachen Wesen bildet sich ein raumerfüllendes Ganzes, weil
sie eben nicht blos mathematische Punkte sind, sondern Kräfte,
die gegen einander wirken und sich dadurch ausser einander
halten. Der Raum ist daher keine blosse Vorstellungsform,
sondern ein reales Verhältniss wirklicher Dinge; aber er ist auch
nichts ursprüngliches und an sich seiendes, nicht eine Form,
in welche die Körper als ihr Inhalt erst hineingelegt würden,
sondern die der Körperwelt anhaftende Form derselben, welche
zugleich mit ihr aus dem Zusammensein einfacher Wesen ent-
springt, die zwar in ihrer Gesammtheit Erscheinungen Einer
Urkraft*®), aber gegen einander selbständig und desshalb ausser
einander sind.
Durch diese Ansicht über den Baum fällt nun auch ein
weiteres Licht auf die (S. 271 berührte) Frage, wie sich die
objektive Gültigkeit der Raumanschauung mit dem apriorischen
Ursprung vertrage, den wir derselben mit Kant zusprechen
müssen**). Apriorische Gesetze können sich unmittelbar immer
nur auf unsere eigene Thätigkeit beziehen ; wenn wir die Raum-
anschauung für eine apriorische erklären, so kann diess nur
bedeuten , dass wir bei der Bildung unserer Raumvorstellungen
Gesetzen folgen, die in der Einrichtung unserer eigenen Natur
begründet sind. Unter welcher Bedingung können nun diese zu-
nächst nur subjektiv gültigen Vorstellungsgesetze zugleich für
die objektive Welt gelten? Kant antwortet, sie können es nur
dann, wenn die objektive Welt selbst das Erzeugniss unserer Vor-
stellungsthätigkeit sei, womit aber in Wahrheit nur behauptet
ist, sie können es nicht, denn eine von uns selbst erzeugte
objektive Welt wäre, so weit sie von uns erzeugt ist, eben nur
scheinbar eine objektive, in der Wirklichkeit existirte sie nur
in unserer Vorstellung. Wir werden, unseren früheren Er-
örterungen entsprechend, sagen müssen: solche Vorstellungen
über die Dinge, welche wir nach apriorischen Vorstellungsgesetzen
gebildet haben, können in dem Fall mit der wirklichen Be-
schaffenheit dieser Dinge übereinstimmen, wenn jene Gesetze der
Ausdruck von Verhältnissen sind, durch welche imser eigenes
Sein und das der Objekte in gleicher Weise bestimmt wird.
an die Realität der Aussenwelt 279
So verhält es sich mit den Denkgesetzen ; wenn wir sagen,
Widersprechendes könne nicht in dem gleichen Subjekt vereinigt
sein, jeder Fortgang von einem Zustand zu einem andern sei
durch einen Causalzusammenhang vermittelt, so sprechen wir
damit Bestimmungen aus, die für unser Denken nur desshalb
gelten und nur desshalb von uns als innere Bedingungen des-
selben vorgefunden werden können, weil sie allgemein gelten.
Ebenso haben wir uns die apriorische Gültigkeit der Zahl-
vorstellungen daraus zii erklären, dass die Verknüpfung eines
Mannigfaltigen zur Einheit der Vorstellung ^®) unter den gleichen
Gesetzen steht, wie das Zusammensein desselben in Einem Ge-
genstand; die der Zeitvorstellungen daraus, dass die Zeit die
gemeinsame Form aller Veränderungen ist und daher für die
ausser uns und für die in uns gleichsehr gilt. Bei der ßaum-
vorstellung würde uns diese Erklärung im Stiche lassen, wenn
die Immaterialität der Seele jede ursprüngliche Beziehung der-
selben zu Raumverhältnissen ausschlösse ; sie zeigt sich auch hier
anwendbar, wenn die Raumerfüllung und mit ihr der Raum
selbst überhaupt erst aus dem Verhältniss der einfachen Wesen
zu einander hervorgeht. Dann ist der Raum nicht blos, wie
Kant ihn auffasst, die Form unserer äusseren Anschauung,
sondern die Form unseres äusseren Daseins, ein Verhältniss,
in welches das vorstellende Wesen durch seine Verbindung mit
andern, zunächst also durch seine Verbindung mit seinem Leibe,
von Hause aus hineingestellt ist; und so wenig es auffallendes
hat, dass ihm die Aenderung seiner inneren Zustände die Form
des zeitlichen Geschehens in allgemeingültiger Weise verständ-
lich macht, ebensowenig kann es uns überraschen, wenn es sein
Verhältniss zu einer Aussenwelt unter den Bedingungen auffasst,
welche ihm durch seine Beziehung zu seinem Leibe vorgezeichnet
sind, wenn es daher für die Bildung seiner Raumvorstellungen
an apriorische Gesetze gebunden ist.
280 Ueber die Gründe unseres Glaubens
Anmerkniigeii.
1. Die näheren Nachweisungen über diese und die übrigen in der vor-
stehenden Abhandlung berührten alten Philosophen findet man in meiner
„Philosophie der Griechen", an den im Register verzeichneten Orten.
2. Sextüs der Empiriker in den a. a. 0. HI, b, 54 f. besprochenen
Erörterungen adv. Math. IX , 366 — 4Ö4. m, 22 ff. Pyrrh. Hypot. EI, 38 ff.
Die letzte Quelle dieser Beweisführungen scheinen Eameades und sein
Schüler Elitomachus zu sein.
8. Vgl. Phil. d. Gr. I, 984 f. 4. Aufl.
4. Medit. I, Cartesii Opera ed. Amstlelod. 1654 I, S. 6. Medit. n,
S. 12 f. VI, S. 38 f.
5. Medit. VI, S. 40. üeber den Werth dieses Beweises fällt schon
David Hüme (An inquiry conceming human understanding Sect. 12, Bd. ni,
171 der Essays and treatises, Basel 1793) das richtige Urtheil, mit dem
unsere Erörterung im folgenden und S. 233 übereinstimmt: To Tiave recourse
to the veracity of the sitpreme Being in order to prave the veracity of owr
senses, is sv/rely mdking a very u/nexpected circuit If his vercunty were ai
all concemed in this matter, our senses would he entirely infalltble, because
it is not possihle that he can ever deceive. Not to mention, tlmt, if the ex-
ternal world he once caMed in question, we shaXl he at a loss to find argth
ments , by which we may prove the existence of that Being or any of kis
attributes,
6. In der oben angeführten Stelle Medit. 11, S. 13, wo es unter anderem
heisst: dicimus enim nos videre ceram ipsammet si adsU, non ex cohre,
vel figura eam adesse judicare, in Wahrheit jedoch id quodpwtobbam me videre
ocülis, sola judicandi facultate quae in mente mea est, comprehendo.
7. Das nähere über die hier berührte Entwicklung der cartesianischen
Lehre findet man in jeder Geschichte der neueren Philosophie, z. B. bei
Erdmann I, b, 1 ff. K. Fischer I, b, 18 ff. Windelband I, 181 ff. Ueber
Geulincx vgl. m. auch die zwei Programme von E, Pfleiderer : Am. Geulinx
(Tüb. 1882), Leibniz und Geulinx (Tüb. 1884) und meine Abhandlung in
den Sitzungsberichten der Berliner Akademie 1884, Nr. 31.
8. Wenn es wirklich (nach einer von Lange Gesch. d. Materialismus
I, 220 Anm. 63 beigebrachten Notiz) um 1713 in Paris einen Malebranchisten
gegeben hätte, der sich selbst für das einzige geschaffene Wesen zu halten
geneigt war, so wäre derselbe ebendamit über den Standpunkt von Male-
branche noch viel weiter hinausgegangen, als diess um jene Zeit von Collier
(s. Anm. 11) geschehen ist. Indessen hält Vaihinger (Strassburger Abhandl.
zur Philos. S. 93) nach Hamilton's Vorgang diesen „Malebranchisten" mit
Recht für eine Erfindung der jesuitischen Polemik.
9. Principia philosophiae n, 4. Medit. VI, S. 41.
10. Vgl. meine Gesch. d. deutschen Phil. S. 86 ff. 111 ff. K. Fischer
Gesch. d. n. Phil. H, 303 ff. 382 ff. 2. Aufl. u. a.
11. Collier lebte 1680 — 1732, Berkeley 1684 — 1753; die Clavis
universalis des ersteren, die aber nur eine ihm seit Jahren feststehende
Ansicht aussprach, erschien 1713, Berkeley- s Hauptschriften 1709 — 1713.
an die Bealität der Aossenwelt. '281
M. vgl. über Collier: Ritter Gesch. d. Phil. Xn, 216 ff. Windblbawd
Gesch. d. neueren Phil. I, 311 f. Erdmann Grundriss d. Gesch. d. Phil,
n, § 291, 2. 3. S. 216 f. a Aufl. Vaihinöbr S. 99 der Anm. 8 ge-
nannten Strassburger Abhandlungen; über Berkeley: Bitter a. a. 0.
S. 233 ff. Erdhann Gesch. d. neueren PhiL 11, b, 185 ff., wo man auch die
wichtigeren Belegstellen findet E. Fischer Francis Bacon S. 698 ff. 2. Aufl.
Windelband I, 300 ff., auch meine Gesch. d. deutschen Phü. S. 316 f.
2. Aufl.
12. Der Sache nach hatte diess, wie Anm. 9 nachgewiesen ist, schon
Descartes, und lange vor beiden schon Demokrit (vgl. meine PhiL d. Gr.
I, 783 f.) gesagt. Locke nannte diejenigen Eigenschaften, von denen er an-
nahm, dass sie den Dingen selbst zukommen, primäre, die andern sekundäre.
Eine merkwürdige, lebhaft an Kant erinnernde Anwendung macht schon
Oeülincx von dem S. 233 besprochenen Satze Descartes', wenn er in seiner
Metapl^ysik S. 120, Anm. 1 auseinandersetzt : Gott habe gewissermassen zwei
Welten geschaffen: die Welt, wie sie an sich (in se) ist, und die Welt, wie
sie sich unsem Sinnen darstellt; jene sei nichts anderes, als die mannig-
faltig und geordnet bewegte Materie, diese, reizvoller und kunstreicher als
die andere, habe ihr Dasein nur in uns und unseren Sinnen.
18. Die Stellen, in denen Hume das obige auseinandersetzt, finden sich
in seiner Abhandlung über die menschliche Natur (Treatise of human nature)
I. Buch, 1. Th. Sect. 1. 4. 8. Th. Sect. 1—8. 4. Th. Sect. 2. 4; in der
Inquiry (s. o. Anm. 6) Sect. 2. 4. 5. 7. 12; vgl. Bitter a. a. 0. 302 ff.
Ebdmann n, a, 167 ff. Fischer Bacon 746 ff. Windelband I, 316 ff. —
Kant und Fichte betreffend mag es an einer allgemeinen Verweisung auf
die eben genannten und auf meine Geschichte der deutschen Philosophie
genügen, wo auch die Quellenbelege angegeben sind.
14. Vgl. meine Gesch. d. deutschen Phil. S. 351 f. 2. Aufl. B. Erdmann
in s. Ausgabe von Kant's Prolegomena S. XUV — ^LXVI.
15. Auch die „Widerlegung des Idealismus", welche Kant in die zweite
Auflage der Kritik d. r. V. (S. 274 f. vgl. Yorr. S. XXXIX) aufgenommen
hat, will nicht den „dogmatischen Idealismus" Berkeley's widerlegen, der
„die Dinge im Kaum für blosse Einbildungen erkläre" (dieser, sagt Kant,
sei schon in der „transcendentalen Aesthetik", durch seine Lehre von der
Subjektivität der Raumvorstellung, beseitigt), sondern den „problematischen
Idealismus" Descartes', d. h. die Behauptung, wir seien nicht im Stande,
„ein Dasein ausser dem unsrigen durch unmittelbare Erfahrung zu
beweisen"; und sie dreht sich demgemäss auch wirklich nur um den Satz,
dass „das empirisch bestimmte Bewusstsein unseres eigenen Daseins" durch
die Wahrnehmung eines Beharrlichen ausser uns bedingt sei. Was daher
hier bewiesen wird, ist nur dieses, dass die Dinge ausser uns ebensoviel
empirische Kealität haben, wie wir selbst, d. h. dass wir uns nicht als
Ich denken können, ohne „Gegenstände im Kaum" ausser uns anzunehmen.
Das gleiche hatte aber Kant auch schon in der ersten Auflage S. 375 — 377
(630 f. Erdm.), in der Kritik des vierten psychologischen Parälogismus, dar-
zuthun versucht; schon hier will er zeigen, dass „unseren äusseren An-
schauungen etwas Wirkliches im Räume correspondire" , „dass äussere
282 Ueber die Gründe unseres Glaubens
Wahrnehmung eine Wirklichkeit im Baume unmittelbar beweise'', und dieser
Raum, obwohl an sich blosse Form der Vorstellungen, „dennoch in An-
sehung aller äusseren Erscheinungen (die auch nichts anderes als blosse
Vorstellungen sind) objektive Realität habe** , dass unsere äusseren Sinne
^ihre wirldichen correspondirenden Gegenstände im Räume haben^. Dass
dt^egen die Annahme räumlicher Gegenstände ihrerseits wieder durch Dinge
bedingt sei, denen eine von unserer Vorstellung unabhängige Realität
zukomme, dass es Dinge -an -sich gebe, hat Kant in seiner „Widerlegung
des Idealismus** weder bewiesen noch zu beweisen versucht. Wenn er sich
daher in der Vorrede ziu: zweiten Auflage der Kritik d. r. V. S. XXXIX
Anm. so äussert, als ob er auch diesen Beweis hier geführt hätte, so hat
er sich durch seine, ihm selbst freilich feststehende, Ueberzeugung von der
Realität der Dinge -an -sich verleiten lassen, in jene Beweisfiihrung mehr
hineinzulegen, als wirklich darin liegt Um vor einer solchen Verwechslung
gesichert zu sein, hätte Kant die zwei Fragen: nach der Realität der
Dinge -an -sich, und nach der Realität der Dinge im Räume, scharf unter-
scheiden müssen. Auf die erste war vom Standpunkt seines Systems aus
zu antworten: der „transcendentale Grund^ unserer Empfindungen könne nur
in Dingen liegen, die nicht erst durch unsere Vorstellungsthätigkeit ent-
stehen. Auf die zweite antwortet Kant: Gegenstände im Baume seien eine
Bedingung unseres eigenen „empirisch bestimmten^ Daseins, unseres
Daseins in der Zeit. Kann er aber auch unter dieser Voraussetzung den
Dingen ausser uns die gleiche empirische Bealität zuschreiben, wie unserem
eigenen empirischen Ich, kann er behaupten, wir seien uns des Daseins von
Dingen ausser uns ebenso sicher bewusst, als wir uns bewusst sind, dass
wir selbst „in der Zeit bestinunt existiren" (Krit. d. r. V. 2. Aufl. S. XLI),
so folgt doch daraus nicht das geringste flir die „transcendentale Realität''
von Dingen -an -sich, d. h. von solchen, die nicht räumlich ausser uns
sind, diese hätte vielmehr selbständig erwiesen werden müssen, und diess ist
nicht geschehen. Auf Kant's Widerlegung des Idealismus naher einzugehen,
ist hier nicht der Ort; m. vgl. darüber B. Ebdhann Kant's Kriticismus
(1878) S. 197 ff., namentlich aber die eindringende Untersuchung von
Vaihingeb: „Zu Kants Widerlegung des Idealismus", in den Strassburger
Abhandlungen zur Philosophie S. 85 — 164. Diese letztere, so eben er-
schienene, Arbeit konnte fiir den Text der vorliegenden Abhandlung nicht
mehr benützt werden.
16. Einer Prüfung dieser Voraussetzung habe ich mich im zweiten
Theil dieser „Vorträge« u. s. w. S. 492 f. 518 ff. unterzogen.
17. Vgl. über Beck meine Gesch. d. deutschen Phil. S. 477 f. 2. Aufl.,
über Fichte ebd. 486.
18. Diese Lücken und Widersprüche sind Gesch. d. deutsch. Phü.
S. 706 ff. eingehender nachgewiesen.
19. M. vgl. über Jacobi und Fries a. a. 0. S. 440 ff. 458; über die
schottische Schule Erdmann Gesch. d. n. Phil, n, b, 416 flf. Ritter Gesch.
d. Phü. Xn, 566 flf.
20. Die Welt als Wille und Vorstellung, W. II, 124 vgl. meine Gesch.
d. deutsch. Phü. S. 708 f.
an die Beaütftt der Aussenweh. 283
21. Vgl. Bd. n, 510 ff. der vorliegenden Schrift.
22. Kritik d. r. Yem. 2. Ausg. Yorr. S. XXXIX, zunächst gegen Jacobi.
28. Eingehender habe ich diesen schon S. 245 berührten Funkt Bd. II,
501 & besprochen.
24. Aus einem andern bei den sog. unmittelbaren Schlüssen, die ich
lieber analytische nennen möchte, weil der Schlussatz in ihnen durch
die blosse Analyse dessen gefunden wird, was in der einen Prämisse
enthalten ist (»kein Mensch ist unfehlbar, also ist es auch dieser Mensch
nicht"); aus zwei andern in den sog. mittelbaren, oder besser: synthetischen
Schlüssen.
25. N^eres hierüber Bd. II, 512 ff.
26. Beispiele dafür a. a. 0. S. 62 f. u. oben S. 283.
27. Hierüber Bd. H, 514 ff.
28. Handbuch der physiologischen Optik 1. Aufl. (1867) S. 447 ff. vgl.
„Die Thatsachen in der Wahrnehmung" S. 27 ; wobei es eine untergeordnete
Differenz ist, dass diese Schlüsse von Heluholtz als Induktionsschlüsse,
von mir mit Hume als Schlüsse von der Wirkung auf die Ursache bezeichnet
werden, denn den letzten Grund, durch den unsere Induktionen über-
zeugende Kraft erhalten, sieht auch er in dem Causalgesetz.
29. Wie Anm. 6 gezeigt ist, bemerkte schon Descabtbs, dass die Dinge
als solche nicht durch die Sinne, sondern lediglich durch den Verstand er-
kannt werden, wenn er auch diese Erkenntniss nicht einen Schluss, sondern
ein Urtheil nennt Dass die Vorstellung der Dinge aus einem Schluss, und
zwar aus einem Causalitätsschluss , entspringe, hat zuerst Ruhe behauptet,
dessen ganze Skepsis auf diesem Satze beruht (vgl. S. 238 f.); und wemi er
diesen Schluss nicht direkt als einen unbewussten bezeichnete, legt doch
seine ganze Beschreibung der Vorgänge, durch welche uns die Objektsvor-
stellung entstehen soll, diesen Gedanken sehr nahe: ein Schluss, der sich
nicht auf die Vernunft, sondern auf Gewohnheit und Ideenassociation gründet,
und uns von der Natur aufgedrungen wird, ist eben das, was wir einen un-
bewussten Schluss nennen. Von Hume weicht Kant zwar dadurch ab, dass
er bei der Bildung der Objektsvorstellungen alle Kategorieen, nicht blos die
der Causalität, mitwirken lässt (vgl. meine Gesch. d. deutsch. Phil. S. 350 f. 354).
Aber auch er erklärt ausdrücklich: „wenn man äussere Erscheinungen- als
Vorstellungen ansehe, die von ihren Gegenständen als an sich ausser uns
befindlichen Dingen in uns gewirkt werden, so sei nicht abzusehen, wie man
dieser ihr Dasein anders als durch den Schluss von der Wirkung auf die
Ursache erkennen könne" (Krit d. r. V. 1. Ausg. S. 372, S. 628 Erdm.).
Als die Ursache unserer äusseren Anschauungen betrachtet aber auch er
selbst die Dinge ; nur dass sie nicht ihre äussere (d. h. räumlich ausser uns
befindliche), sondern ihte „transcendentale" Ursache sein sollen. Unter Ver-
weisung auf die eben angeführte Aeusserung Kant's bemerkt Fichte (Zweite
Einleit in die Wissenschaftsl. von 1797. WW. I, 482): nur durch einen
Schluss vom Begründeten auf den Grund, also durch Anwendung des Be-
griffes der Causalität, könnte man zur Annahme eines vom Ich verschiedenen
Etwas kommen. In seinem eigenen System ist es nicht der Verstand, sondern
die Einbildungskraft, durch welche die Objekte für uns Realität erhalten,
284 üeber die Grunde unseres Glaubens
dagegen hebt er hervor, dass diese Handlung der Einbildungskraft dem Be-
wusstsein als Bedingung desselben vorangehe (Grundl. d. Wissenschaftsl.
WW. 1. Abth. I, 226 f.). Noch näher berührt sich aber Schopenhauer mit
Hume. Da er alle Eategorieen auf den Satz des Grundes zurückfuhrt, lässt
er auch die Vorstellung der Objekte nur dadurch entstehen, dass dieser
Satz, oder was im vorliegenden Fall damit gleichbedeutend ist, dass das
Causalitätsgesetz auf die Empfindungen angewandt wird; und sagt er auch,
diese Yerstandesoperation sei keine discursive, mittelst Begriffen und Worten
vor sich gehende, sondern eine intuitive und ganz unmittelbare, kein Schluss
in abstrakten Begriffen, durch Reflexion und mit Willkür, sondern un-
mittelbar, nothwendig und sicher, so bezeichnet er sie doch zugleich als
„Erkenntniss der Ursache aus der Wirkung", als eine Anwendung des Cau-
salitätsgesetzes , bei welcher der Verstand „die gegebene Empfindung des
Leibes als eine Wirkung auffasse, die als solche nothwendig eine Ursache
hab^n müsse" (Werke I, 62 ff. II, 13 f.); wobei von der weiteren, eben
nur in Schopenhauer's System erklärlichen, Behauptung, dass trotzdem
zwischen Subjekt und Objekt kein Verhältniss von Ursache und Wirkung
bestehe (a. a. 0. II, 15 f.), hier abgesehen werden kann. Dass nun jene
Yerstandesoperation kein formeller, mit bewusster Reflexion vollzogener
Schluss ist, räumt auch Helmholtz ein, besteht aber dennoch mit Recht
darauf, dass sie ein Schluss sei. Wie eine „Erkenntniss der Ursache aus der
Wirkung" anders als durch einen Causalitätsschluss entstehen könnte, lässt
sich nicht absehen. Die Ursache aus der Wirkung erkennen, heisst eben:
sie aus ihr erschliessen; um von dem Gegebenen zu einem nicht gegebenen
Grunde desselben zu kommen, muss man das Gegebene nach ausgesprochenen
oder unausgesprochenen allgemeinen Regeln beurtheilen, muss es unter diese
Regeln subsumiren, und den Begriff jenes Giundes mittelst dieser Subsumtion
finden, d. h. ihn erschliessen. Wenn Schopenhauer die Erkenntniss der
Dinge aus ihren Wirkungen für eine unmittelbare hält, so begeht er den
gleichen Fehler, den andere dadurch begehen, dass sie die Dinge selbst flir
etwas in der Wahrnehmung unmittelbar gegebenes halten: er behandelt die
Geistesthätigkeiten, deren wir uns nicht bewusst sind, als nicht vorhanden.
30. So fragt, wie S. 228 gezeigt ist, schon Descabtes, wenn auch nur,
um diese Vermuthung im weiteren Verlaufe abzulehnen ; ernstlicher Schopen-
hauer (die Welt als Wille u. Vorst. WW. II, 19 f.), der schliesslich findet,
es gebe wirklich zwischen dem Traum und dem wachen Leben in ihrem Wesen
keinen bestimmten Unterschied, das allein sichere Kriterium zu ihrer Unter-
scheidung sei das ganz empirische des Erwachens; womit wir ungefähr so
klug sind, wie zuvor, und wie in dem S. 243, Anm. 20 berührten Falle.
31. Wie diess schon Bd. II, 499 angedeutet ist
32. Man vgl. hierüber Bd. II, 486 f. Gesch. d. deutsthenPhil. 506 f. 524. 539.
33. Welches von beiden gemeint sei, darüber hatte sich Fichte anfangs
nicht erklärt und sich selbst ohne Zweifel die Frage gar nicht vorgelegt;
in der Folge unterschied er, wie a. a. 0. gezeigt ist, nach Schelling's Vor-
gang, immer bestimmter zwischen beiden und bezeichnete nur das reine oder
absolute Ich als dasjenige, welches mit den Objekten auch die empirischen
Ich, die Subjekte, aus sich erzeuge.
an die Realität der Aussenwelt ..285
34. Dass aber diese Erwägungen nur solche überzeugen können, die
überhaupt logischer Beweisführung zu folgen vermögen, dagegen bei dem
von Schopenhauer (vgl. S. 243) unterstellten Idealisten im Tollhaus nichts
ausrichten würden, ist natürlich kein Beweis gegen ihre Bündigkeit
35. Es findet in dieser Beziehung alles das, was S. 16 über die Un-
möglichkeit eines Weltanfangs und S. 20 über die Unmöglichkeit einer
Entwicklung Gottes bemerkt ist, hier seine analoge Anwendung.
36. Ob sie auch im räumlichen Sinn ausser uns sind, war hier noch
nicht zu untersuchen; man vergleiche hierüber S. 272 ff.
37. Wenn Schopenhauer (die Welt als Wille u. s. w. WW. 11, 21) be-
hauptet, der Traum habe ebenso einen Zusammenhang in sich, wie das
wirkliche Leben, so ist diess schief, und in dem Sinn, in dem er diesen
Satz anwendet, thatsächlich unrichtig. Der Zusanmaenhang der Traumer-
scheinungen ist eben nur der subjektive der Ideenassociation ; hier dagegen
handelt es sich um einen solchen, der ihr Zusammensein in einer wirklichen
Welt möglich machte.
38. Vgl. Bd. n, 499 f.
39. Vgl. ebdas. S. 497 f. 525.
40. M. vgl. hierüber Bd. II, 492 f. 518 ff. und dazu, Kant betreffend,
meine Gesch. d. deutsch. Phil. 354 2. Aufl.
41. Kritik d. r. Vm. S. 454 f. der 2. Originalausgali^e.
42. Wie schon Bd. 11, 525 bemerkt ist.
43. Fechner Ueber die physikal. und philosoph. Atomenlehre (2. Aufl.
Leipz. 1864) S. 105 ff.; Lotze Mikrokosmus I, 31 ff. 386 ff. Metaphysik
(1879) S. 364—386. Grundzüge der Metaph. § 62 ff. Grundz. der Natur-
philosophie § 26 ff. Von seiner Ansicht unterscheidet sich die meinige an
diesem Punkte wesentlich nur dadurch, dass ich den Baum nicht, wie er,
für etwas blos unserer Auffassung angehöriges halte. Andere der seinigen
verwandte Theorieen bespricht Fechner S. 222 ff.
44. Lotze Mikrokosmus I, 390.
45. So vor allem von Leibniz, weniger scharf aber auch schon von den
Stoikern; vgl. über jenen: meine Geschichte der deutschen Philosophie
S. 86 f. K. Fischer Gesch. d. n. Phil. II, 304 f., über diese: meine Phil,
d. Gr. m, a, 130 f. Zur Sache selbst Bd. U, 21.
46. Wie aus anderer Veranlassung schon Bd. 11, 18 bemerkt ist.
47. Vgl. a. a. 0. S. 20 f. 532 ff.
48. Hierüber vgl. m. ebdas. S. 18 ff.
49. In welchem Sinn und aus welchen Gründen, ist Bd. II, 505 f.
auseinandergesetzt.
50. Dass alles Zählen davon ausgeht, ist a. a. 0. S. 503 f. gezeigt
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